Die attische Tragödie

Die attische Tragödie (von tragōdía = Bocksgesang) entwickelte sich aus dem Dionysoskult, das waren orgiastische Feste, Phallos-Umzüge zu Ehren des ekstatischen Wein-, Vegetations-und Fruchtbarkeitsgottes Dionysos, die sogenannten Dionysien. Diese auf reine „Weinfeste“ zu reduzieren und somit in die Nähe von „Flatratepartys“ zu rücken, ist jedoch eine irrige Annahme. Maskierte, tanzende Satyrn, die Begleiter des Dionysos, sowie der Maskengott selbst brachten die Massen im Rhythmus psychedelischer Sprechgesänge (Dithyramben) zur Ekstase. Nach ARISTOTELES bewerkstelligen alle Künste „die Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie“ (in: Von der Dichtkunst). Der Zuschauer ist selbst beteiligt an der Szenerie, er „lebt und leidet mit in diesen Scenen (sic!)“ (FRIEDRICH NIETZSCHE: Die Geburt der Tragödie, siehe PDF). Zum Rauschzustand führte daneben der konsumierte Wein, der Askoliasmos (griech. für „Sprung mit wackeligem Fuß“), ein Spiel, bei dem die Tänzer auf einem mit Wein gefüllten Schlauch hüpfen mussten. Der Trancezustand wurde als „höhere Wahrheit“ (ebda.) empfunden. Auf dem Höhepunkt, „unter den Schauern des Rausches“ (ebda.), fand das Tieropfer statt, das Bocksopfer.

Opfer als Gottesdienst

Die Dionysien stellten rituelle Opferfeste dar, waren Gottesdienste. Das Opfer, d. h., die rituelle Tötung, ist auch, wie unten zu zeigen sein wird, der zentrale Punkt der griechischen Tragödie.
Die archaische und selbst die nacharchaische Zeit kennt das Menschenopfer (z. B. Opferung der Iphigenie in Aulis durch Agamemnon, Opferung Isaaks im Alten Testament, Reinigungsrituale, Frühlingsopferungen, Brandopfer), das Tieropfer, das Pflanzenopfer. Menschenopfer kennt selbst noch das Römische Reich, bis sie dann unter CAESAR verboten wurden. Auch die Oblate (Hostie) bzw. das Brot (Leib Christi) und der Wein (Blut Christi) des christlichen Abendmahls stellt eine Opferszene („Sühneopfer“) dar.
Der Schauplatz der Opferung war der Altar, eine Felsenplatte, ein hölzerner oder steinerner Tisch. Die Opferung wurde unter freiem Himmel vorgenommen.

Dionysos und Apoll

Dionysos ist als Gott ein Wanderer zwischen den Welten: „In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch“ (NIETZSCHE: Die dionysische Weltanschauung). Der Dionysoskult deutet „in der Tragödie die Welträthsel und Weltschrecken“ (ebda). Aus den tragodoi, den Sängern beim Bocksopfer, die den Dithyrambus anstimmten, entwickelten sich deshalb die Schauspieler, die „Sterben und Wiedergeburt – Zurücktauchen in die Nacht des Nichtseins und Wiederkehr zu neuem, verjüngtem Leben..." (GERD BERGFLETH) auf der Bühne verkörperten. WALTER FRIEDRICH OTTO (1874–1958) bezeichnet Dionysos nicht von ungefähr als den Gott des „tragischen Widerspruchs“. Wie dieser bewegt sich die Tragödie zwischen Tod und Wiedergeburt. Mit dem Begriffspaar Leben und Tod verbindet sich in der griechischen Antike noch ein zweiter Gott: Apoll.

Der anatolisch-mediterrane Apoll als Apollon Phoibos ist der Lichtgott. als Apollon Musaget ist er Gott der Musen. Der meisterhafte Bogenschütze ist zugleich auch der Todesbringer: Sein Kennzeichen ist die Lyra, die Kithara. Diese wurde geschaffen aus einem Jagdwerkzeug, dem Bogen. Der sirrenden Sehne wurden weitere beigefügt, woraus das Musikinstrument entstand. Apoll konnte seine Lyra auch wieder in den Bogen zurückverwandeln. Lyra und Bogen symbolisieren also die zwei Pole Frieden und Krieg. Wie sich aus dem Bogen die Lyra entwickelt, entwickelt sich aus der Lyra wieder der Bogen. Tod und Leben, Krieg und Frieden gehören in der griechischen Mythologie ganz eng zusammen.

Die Großen Dionysien
Dionysos repräsentiert die Kraft der kollektiven Euphorie. Bewusst wurde die erotische Komponente der Festspiele aus dem Bewusstsein der Menschen herausgedrängt, als SOLON, nach anderen Quellen PEISISTRATOS, die Großen Dionysien ausrief, die stets im März/April stattfanden. Während die Kleinen Dionysien Angelegenheit der Bauern in ihren Dörfern waren (ARISTOTELES erwähnt die „Phallos-Umzüge, wie sie noch jetzt in vielen Städten im Schwange sind“), feierte man die städtischen Dionysien als mehrtägige Veranstaltung. Im südlich der Akropolis von Athen gelegenen Heiligtum des Dionysos errichtete man das Dionysostheater, in welchem die Dinoysien gefeiert wurden. Die dreitägigen Wettstreite der Dichter wurden zum Höhepunkt des Festes. Drei Tragödien und ein Satyrspiel wurden an einem Abend aufgeführt. Drei oder vier Dichter wetteiferten miteinander. Die Aufführungen wurden nach einem bestimmten Schema inszeniert: Ein Chor trat auf, der Chorführer umriss das Thema, der Chor sang und der Schauspieler gab dem Chor lang monologisierend Antwort. Das konnte sich einige Male wiederholen. AISCHYLOS führte einen zweiten Schauspieler in das Spiel ein, SOPHOKLES den dritten, sodass eine Interaktion zwischen Schauspielern, Chor und Corführer notwendig wurde und demnach Handelnde auf der Bühne standen, die dialogisch bzw. monologisch ein in sich geschlossenes Geschehen – seit AISCHYLOS nicht mehr singend, sondern sprechend – vorstellten: „Die Nachahmenden ahmen handelnde Menschen nach“, sagt ARISTOTELES in seiner Poetik.

Tragödie: ein Produkt der athenischen Polis

Die Tragödie ist ein Produkt der athenischen Polis: Begründer soll nach ARISTOTELES der Tragödiendichter THESPIS, um 534 v. Chr. gewesen sein, der, weil er angeblich aus dem attischen Flecken Ikaria stammte, THESPIS DER IKARIER genannt wurde. Der nach der Überlieferung auch als Theaterleiter agierende THESPIS soll die dialogische Rede und Gegenrede zwischen Schauspieler und Chor eingeführt haben. Damit konnte erstmals Handlung auf der Bühne dargestellt werden. THESPIS trat als Schauspieler auf und verkörperte u. a. den Dionysos. Es wird vermutet, dass derselbe Schauspieler in einem Stück hintereinander mehrere Rollen spielte, wie es später auch üblich war.

Auch die drei großen griechischen Tragiker AISCHYLOS, SOPHOKLES und EURIPIDES wurden im Umkreis der Polis Athen geboren und wirkten hier:

  • AISCHYLOS wurde in Eleusis, ca. 30 km nordwestlich von Athen,
  • SOPHOKLES in Kolonos, einem Vorort Athens, geboren.
  • EURIPIDES soll auf einer Insel, die Athen vorgelagert ist, Salamis, geboren worden sein, und zwar genau zu jenem Zeitpunkt, als dort die berühmte Seeschlacht zwischen Griechen und Persern stattfand.

AISCHYLOS, SOPHOKLES und EURIPIDES waren somit profunde Kenner ihrer Gesellschaft. Wenn auch einige ihrer Dramen nicht in Athen spielen bzw. einen mythologischen Hintergrund haben, so waren sie jedoch für das athenische Publikum bestimmt. Und dieses kannte die Anspielungen in den Tragödien der drei Dichter genau. Dieser Aspekt ist bei werkimmanenter Auslegung der Tragödien stets mitzudenken.
Die griechische Tragödie ist fünfteilig aufgebaut:

  • Prolog,
  • Parodos, Eingangslied des Chores,
  • Stasimon, Lieder des Chors zwischen den Episoden
  • Epeisodion, Hauptszene
  • Exodos, das Schlusslied des Chores

Bestandteile der tragischen Handlung sind nach ARISTOTELES

  • Pathos (Leiden, Gemütsbewegung),
  • Anagnorisis (Wiedererkennung) und
  • Peripetie (plötzlicher Umschlag, unerwartetes Unglück).

Unterhaltung und Belehrung

Tragödie war nicht nur bloße Unterhaltung der Bevölkerung – der freien Männer und Frauen der Polis –, sondern auch Belehrung. Um die Peripetie, also den plötzlichen Umschlag, das unerwartete Unglück zu erreichen, bedarf es der Kairos als dem rechten Zeitpunkt sowie der Anagnorisis, der Wiedererkennung:

„... notwendigerweise führt man entweder die Tat aus oder nicht, und zwar wissentlich oder nicht wissentlich.“ ( ARISTOTELES: Poetik)

Der Held gerät in die krisis (Trennung, Einschnitt), die in der Katastrophe endet. Daraus kann der Zuschauer etwas für sein Leben lernen.

Katastrophe

Dazu musste der Plot so gestaltet sein, dass der Held in derKatastrophe (Wendung zum Niedergang) enden konnte. Denn diese ist nicht aufzuhalten. Sie wird geboren aus dem persönlichen Leid des Einzelnen. Das hat die griechische Tragödie mit allen anderen echten Tragödien des europäischen Kulturraums gemein. Und dieses Leid kann nur mit der Erlösung im Tode enden.
Das persönliche Leid des Einzelnen, d. h. der Untergang, kann in der Tragödie nicht verhindert werden, denn die Schicksalsgöttinnen (Moiren, griech. moira) verkörpern das unabwendbare Geschick des Menschen. Sie spinnen den Lebensfaden (Klotho), bemessen dessen Länge (Lachesis) und schneiden ihn ab (Atropos). Der Mensch kann dem nicht entrinnen. Der Spruch der Moiren wird selbst von den Göttern nicht – bzw. nur mit wenigen Ausnahmen – abgewendet werden können. Der Mensch, der aus Verfehlung heraus schuldig wird, muss sich in sein Schicksal fügen.

Kátharsis

Ziel des attischen tragischen Dramas war die Kátharsis (Reinigung, Läuterung), eine Art seelischer Reinigung des Zuschauers.

„Nach den Pythagoreern ist die Seele (...) im Leben an einen Körper gefesselt, der Tod bedeutet eine Befreiung von demselben. In diesem Sinne fasst PLATO den Tod als Läuterung, katharsis, der Seele, als Trennung vom Leibe (chôrizein), als Befreiung von dessen Fesseln (...) Nach PLOTIN ist die Loslösung des Menschen vom Sinnlichen, die Emporhebung des Geistes zum Wissen und zur Tugend eine katharsis ARISTOTELES (...) versteht unter katharsis die 'Reinigung' von Affekten durch die Kunst. (...) Nach LESSING besteht die tragische Katharsis in einer Umwandlung der Affekte in 'tugendhafte Fertigkeiten' “
(RUDOLF EISLER: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1904)

ARISTOTELES fand dafür die Formel Phóbos (Furcht) und Éleos (Mitleid). bzw. „Schaudern und Jammer“.

„Die Tragödie ist die Nachahmung einer edlen und abgeschlossenen Handlung von einer bestimmten Größe in gewählter Rede, derart, dass jede Form solcher Rede in gesonderten Teilen erscheint und dass gehandelt und nicht berichtet wird und dass mit Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von eben derartigen Affekten bewerkstelligt wird.“
(ARISTOTELES: Poetik, siehe PDF "Aristoteles – Über die Dichtkunst")

Éleos und Phóbos

Persönliches Leid wird geboren aus der Überhebung des Menschen über die Götter. Überhebung über die Götter widerspricht der antiken Formel: „Gedenke, dass du ein Mensch bist“. Das Leitmotiv der griechischen Tragödie ist deshalb die Hybris, der Übermut, die Anmaßung. Sie kommt einher mit Ate, mit Verblendung. Beides gebiert Fehlverhalten, das gesühnt werden muss. Das unschuldige Schuldigwerden, wie es in SOPHOKLES „Ödipus“ thematisiert wird, führt ebenso in die Katastrophe.

Zunächst wird durch die Hamartía (&aacgr;μαρτία), die Verfehlung, den Irrtum, der Konflikt geschürt.

„Mitleid entsteht nur, wenn der, der es nicht verdient, ins Unglück gerät, Furcht, wenn es jemand ist, der dem Zuschauer ähnlich ist. [...] Es bleibt also nur ein Fall dazwischen übrig. Er tritt ein, wenn einer weder an Tüchtigkeit und Gerechtigkeit ist, noch durch Untüchtigkeit oder Schlechtigkeit ins Unglück gerät, sondern dieses erleidet durch irgendeinen Fehler (&aacgr;μαρτία). Und zwar muß er zu denen zählen, die großen Ruhm und Glück gehabt haben, wie Oidipus oder Thyestes, oder ein berühmter Mann aus einem derartigen Geschlecht sein.
(ARISTOTELES: Poetik)

Phóbos schürt Furcht und Deimos den Schrecken, „Flucht vor sich selbst“ (THUKYDIDES). Phóbos und Deimos sind Konstanten der griechischen Lebensweise.

„Nicht obrigkeitslos noch Tyrannenknecht zu sein, rat Bürgern ich als ihres Strebens höchstes Ziel, und – nicht die Furcht ganz fortzubannen aus der Stadt. Denn wer der Menschen, der nichts fürchtet bleibt gerecht? Wenn solche Furcht ihr und, wie's recht ist, Ehrfurcht hegt, als Landesbollwerk und des Staates Schutz und Heil habt ihr zu eigen, was der Menschen keiner hat".
(AISCHYLOS: Eumeniden)

Die Nachahmung der realen Welt (Mimesis) bewirkt Einfühlung. Indem der Zuschauer sich mit den Handelnden identifiziert, also Éleos und Phóbos auf den Zuschauer wirken, wird die Kátharsis ausgelöst.

LESSING bringt das Begriffspaar auf die Formel:

„Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid“ (LESSING: Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück)

Forschende nach LESSING übersetzen differenzierter. Nach WOLFGANG SCHADEWALDT ist Phóbos eine Furcht,

„die entschieden zum Schrecken und Schaudern neigt“ (in: „Furcht und Mitleid?" in: Hermes, Zeitschrift für klassische Philologie, 83. Bd., 1955, 129–171).

Sie wird

„hervorgerufen durch die Vorstellung der unmittelbar bevorstehenden Bedrohung durch ein schweres Leid oder die Vernichtung“ (ebda).

Éleos hingegen definiert SCHADEWALDT als einen

„Affekt des Jammers und der Rührung, der den Menschen angesichts des Leidens eines anderen spontan überfällt“ (ebda).

SCHADEWALDT übersetzt also Schrecken und Jammer. Beide werden als psychische Affekte gesehen, die physische Aktionen auslösen. Die Befreiung des Zuschauers von derartigen Affekten ist demnach eine Art Psychotherapie.
Die Götter sind in den antiken Dramen stets gegenwärtig, sie sind Götter der Strafe und Götter des Lobs, sie stehen den Helden bei und sie vernichten sie. Somit sind sie unberechenbar. Menschliches Handeln, das sich nicht über die Götter erhebt, entgeht der Gefahr der Bestrafung durch die Götter nicht, aber es mildert sie. Durch Éleos und Phóbos, und letztendlich durch Kátharsis, gewinnt der Zuschauer an Erkenntnis über sich und die Götter.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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