- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 2 Demokratie in Deutschland
- 2.3 Politische Meinungs- und Willensbildung
- 2.3.8 Wahlen und Wähler
- Verhältniswahl versus Mehrheitswahl
Seitdem die amerikanische und die europäischen Revolutionen die Volkswahl einführten, steht die Frage an, welches Wahlverfahren einer demokratischen Herrschaft angemessen ist. Da sich gegenwärtig die Vielfalt von etwa 250 verschiedenen Wahlverfahren von zwei Grundformen des Wählens herleitet, ist zwischen diesen beiden,
zu unterscheiden. Die konkrete Unterscheidung zwischen den beiden Grundformen hat erfahrungsgemäß verschiedene Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Dies sind:
Ausgehend von Großbritannien, dem in historischer Sicht parlamentarischen „Mutterland“, ist die Mehrheitswahl in der angelsächsischen Welt und in früheren britischen Kolonialländern (so in Indien, Nigeria, Jamaica) verbreitet. In den übrigen Staaten der Welt dominiert das Proportionalsystem. Zeiten der Transformation politischer Systeme, beispielsweise der weltweiten „Demokratisierungswellen“ seit dem Zweiten Weltkrieg, schließen ein, die Art und Weise der Herrschaftsbestellung zu verändern. Auch kurzfristige machtpolitische Strategien der Regierungen können zum Wechsel der Wahlverfahren führen. Dies ereignet sich beispielsweise in Frankreich häufiger, in Deutschland kaum. Deutschland hat Erfahrungen mit dem Mehrheitswahlrecht zur Zeit der Monarchie, und seit der Weimarer Republik vor allem mit der Verhältniswahl.
Das Verfahren der Verhältniswahl soll erreichen, dass alle gesellschaftlichen Gruppen im Parlament gemäß ihrem Anteil an Wahlstimmen vertreten sind. Die Anzahl der Sitze (Mandate) ist proportional zur Stimmenanzahl. Um Stimmen in Sitze umzurechnen, werden verschiedene statistische Methoden eingesetzt. Das in Deutschland seit 1985 übliche Verfahren HARE/NIEMEYER begünstigt kleine Parteien.
Das Verfahren der Mehrheitswahl soll erreichen, dass sich die Wahlstimmen auf wenige Parteien konzentrieren und regierungsfähige Mehrheiten befördern. Das Staatsgebiet (Wahlgebiet) wird in so viele Wahlkreise unterteilt, wie das Parlament Sitze hat. Jeder Wahlkreis wählt einen Abgeordneten (Einer-Wahlkreis). Stimmen für unterlegene Kandidaten gehen verloren. Die Mehrheitswahl erleichtert damit die Mehrheitsbildung und führt in der Regel zu zwei sich gegenüberstehenden Parteien bzw. Parteiblöcken (Lager).
Hat die Weimarer Republik nach dem reinen Proportionalsystem gewählt, so setzten sich nach 1945 in Deutschland (Bild 1) zwei entscheidende Veränderungen dieser Wahlform durch: die Wahl eines Teils der Mandatsträger in Einer-Wahlkreisen und eine Sperrklausel. Die zweite deutsche Demokratie ist damit bisher gut gefahren. Schon der erste Bundeskanzler, KONRAD ADENAUER, regierte 14 Jahre (1949–1963), solange, wie die erste Demokratie (1919–1933) überhaupt bestand. Die Stimmenkonzentration auf zwei Parteienblöcke wurde nicht verhindert: CDU/CSU und SPD, mit der FDP als „Königsmacher“ bei der Koalitionsbildung. In jüngerer Zeit sind es die Blöcke CDU/CSU und FDP einerseits, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS andererseits. Der Einzug neuer Parteien in das Parlament wird durch die Sperrklausel behindert, nicht verhindert, wie Bündnis 90/Die Grünen und PDS zeigen.
Dennoch gibt es weiterhin Anhänger der Mehrheitswahl. Die aktuelle Reformdiskussion in Deutschland regt an, die starren Parteilisten durch begrenzt-offene Listen zu ersetzen, in denen Wähler die Reihenfolge der Kandidaten wie bei den bayerischen Landtagswahlen verändern können. Bei freien Listen ließen sich zusätzlich auch noch neue Kandidaten einfügen.
In Frankreich wird das Wahlsystem stärker als in den europäischen Nachbarstaaten als ein Instrument in der politischen Auseinandersetzung angesehen. Über Wahlen in Einer-Wahlkreisen oder nach Listen, über parteiensoziologisch gesehen günstige oder ungünstige territoriale Zuschnitte der Wahlkreise entscheidet das Machtinteresse der jeweiligen politischen Mehrheit. Hatten die regierenden Sozialisten 1985 die Proportionalwahl eingeführt, um einen sich abzeichnenden Rechtsrutsch abzuschwächen, so wechselte die bürgerliche Regierung 1986 erneut zur absoluten Mehrheitswahl. Unter diesem System hat sich längerfristig ein recht stabiles Parteiensystem mit den Linksparteien Sozialisten, Kommunisten, Grünen und den Rechtsparteien RPR, UDF gebildet, die abwechselnd die Regierung übernehmen. Da die absolute Mehrheit selten auf Anhieb gewonnen wird, kommt es in dem nötigen zweiten Wahlgang meistens zu Wahlabsprachen der Parteien, in denen sich die zukünftige Regierungskoalition ankündigt.
Aus dem Wahl- und Parteiensystem Großbritanniens, aus dem Gegenüber von Mehrheit und Opposition und aus wechselnden Regierungen ist die weltweit geläufige Modellvorstellung der parlamentarischen Regierung gebildet worden. Um dem Modell zur Realität zu verhelfen, müssen bestimmte sozioökonomische Voraussetzungen gegeben sein. Entweder homogene gesellschaftliche Verhältnisse oder eine klare soziale Polarisierung entlang eines dominanten Klassenkonflikts, die von zwei Parteien ebenso klar politisch repräsentiert wird. Mit den Regierungswechseln zwischen den Konservativen und Labour wurde letztere Bedingung in Großbritannien annähernd erfüllt. Seit den 1970er-Jahren sinkt jedoch der relative Stimmenanteil der beiden Großparteien zugunsten der Liberalen als der dritten gesamtstaatlichen Partei und zugunsten der Regionalparteien in Schottland und Wales.
In der Reformdiskussion werden die starken Verzerrungen zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen kritisiert. Seit 1999 gilt daher bei den Wahlen zu den Regionalparlamenten und zum Europäischen Parlament ein Zweitstimmenverfahren, das dem zum Deutschen Bundestag ähnelt.
Wahlverfahren zählen zu den entscheidenden Bestandteilen der politischen Systeme. Die Vorzüge bzw. Wirkungen der Verhältniswahl und der Mehrheitswahl als den beiden Grundformen hat der Politikwissenschaftler DIETER NOHLEN zusammengefasst:
Wahlrecht und Wahlsystem in der BRD. Aus: Zahlenbilder, Bergmoser + Höller Verlag AG, Aachen
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