Drosophila – Modellorganismus der Genetik

Nach der Wiederentdeckung der mendelschen Regeln und der Entdeckung der Chromosomen traten für viele Forscher Zweifel an der allgemeinen Gültigkeit der mendelschen Regeln auf. Nach GREGOR MENDEL (1822-1884) wurden die Merkmale eines Individuums unabhängig voneinander vererbt. Die Anzahl der Chromosomen eines Organismus ist aber relativ gering, sodass nicht jedem Chromosom die Vererbung einer Eigenschaft zugeordnet werden konnte. Folglich musste jedes Chromosom für die Vererbung vieler Eigenschaften verantwortlich sein. Wenn aber nun die vielen Gene auf einem Chromosom gekoppelt bleiben, dann steht die freie Vererbbarkeit der Anlagen dazu in einem scheinbaren Widerspruch. Diesen Fragen ging auch THOMAS HUNT MORGAN (1866-1945) nach. Er zeigte als Erster die Kopplung von Genen auf. Sie kann dadurch nachgewiesen werden, dass bestimmte Merkmale in den Nachkommen stets zusammen wieder auftreten. Man bezeichnet ein Chromosom daher auch als Kopplungsgruppe von Genen.

MORGAN arbeitete mit Drosophila melanogaster, die sich in mehrfacher Hinsicht als geeignetes Forschungsobjekt herausstellte:

  • Die Fliegen sind leicht zu züchten.
  • Ihre Generationsdauer beträgt nur etwa 10 Tage.
  • Ein Fliegenpaar hat bis zu 400 Nachkommen, sodass eine gute Auswertbarkeit gesichert ist.
  • Drosophila hat nur 4 Chromosomenpaare, die in den Speicheldrüsen besonders groß als Riesenchromosomen ausgebildet sind. Genetische Forschungen werden durch diese Übersichtlichkeit wesentlich vereinfacht.
  • Viele Mutationen des Erbguts lassen sich sehr gut phänotypisch beobachten (z. B. Augenfarbe, Körperfarbe, Flügelgröße) und sind daher Experimenten gut zugänglich.

Drosophila melanogaster (griech.: drosos = Tau, phile = Freundin, melas = schwarz, gaster = Magen, Bauch) heißt so viel wie „Kleine Taufliege“, „Kleine Obstfliege“ (oft auch „Kleine Fruchtfliege“) oder „Kleine Essigfliege“ und ist eine bis ca. 2 mm große, braun bis gelb gefärbte Fliege, die häufig an gärendem Obst zu finden ist, in das sie ihre Eier legt. Drosophila melanogaster wird „Taufliege“ genannt, weil die Imagines mit Vorliebe in den frühen Morgenstunden schlüpfen. Dieses Verhalten ist arterhaltend, weil die noch nicht gehärtete Cuticula in den heißen Mittagsstunden zum Tod durch Austrocknen führen würde. Werden Drosophila-Populationen unter konstanten äußeren Bedingungen gehalten, schlüpfen die Individuen aus ihren Puppenhüllen in synchronen Schüben etwa alle 24 h.

MORGAN bemerkte bald, dass gelegentlich für gekoppelte Merkmale eine Neuverteilung auftrat. Nach seinen Vorstellungen geschah das durch Crossing-over oder Rekombination. Erfolgt Crossing-over (Chromosomenstückaustausch zwischen Schwesterchromatiden bzw. zwischen homologen Chromosoenpaaren) zwischen zwei Merkmalen, so können diese in der Nachkommenschaft voneinander getrennt werden. Weitere Untersuchungen ergaben, dass die Crossing-over-Wahrscheinlichkeiten proportional zum Abstand zweier Merkmale auf dem Chromosom zunehmen. MORGANs Schüler ALFRED HARRY STURTEVANT (1891-1970) erkannte, dass es dadurch möglich wird, genetische Chromosomenkarten zu erstellen und Gene zu kartieren.
Für die relativen Abstände der Gene zueinander führte JOHN BURDON SANDERSON HALDANE (1892-1964) als Maß die Morgan-Einheit ein. Eine Morgan-Einheit (cM, Centi Morgan) ist der willkürlich festgelegte Wert von 1 % Rekombination. Findet man beispielsweise 18,5 % Austausch zwischen zwei Markergenen, z. B. dackelbeinig und schwarzer Körper, so haben sie einen genetischen Abstand von 18,5 cM.

Drosophila hat ihre Bedeutung als Forschungsobjekt in der Genetik bis heute nicht verloren. Sie ist ein sehr geeignetes Objekt zur Erforschung der Embryonalentwicklung. So konnte nachgewiesen werden, dass Bicoid und Nanos wichtige Signalmoleküle sind, die den Fliegenembryo in verschiedene Bereiche einteilen. Eine hohe Konzentration Bicoid am vorderen Pol des Fliegeneies (violett) bewirkt, dass dort Gene aktiviert werden, die zur Bildung des Kopfs und des Thorax führen. Nanos (grün) aktiviert am hinteren Pol die Gene des Hinterleibs.

Ein weiterer Forschungsbereich an Drosophila ist die Erforschung der Augenentwicklung. Das an Drosophila gefundene Gen pax6 ist in allen Tierstämmen, bei Wirbeltieren wie dem Menschen, bei Insekten, bei Schnecken, Kraken und Würmern – obwohl die Augen bei allen sehr verschieden gebaut sind –, entscheidend an der Augenentwicklung beteiligt.
Man hat lange angenommen, dass sich die Komplexaugen von Insekten, die Becheraugen von Schnecken und die Kameraaugen der Wirbeltiere während der Evolution unabhängig voneinander entwickelt haben. Die Tatsache, dass man das pax6-Gen einer Maus einer Fruchtfliege einschleust und dieses Gen bei der Fliege völlig normale Augen ausbildet, deutet darauf hin, dass alle Augenformen einen gemeinsamen Ursprung haben.

Die genetische Entschlüsselung der Fruchtfliege wurde im März 2000 veröffentlicht. Seither ist bekannt, dass sich 60 % ihrer Erbsubstanz beim Menschen wiederfinden. Von 289 Genen, die Krankheiten beim Menschen verursachen können, gibt es 177 entsprechende Varianten bei der Fliege. Bestimmte Krankheiten oder embryonale Fehlentwicklungen lassen sich daher gut an der Fliege studieren.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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