- Lexikon
- Deutsch Abitur
- 4 Literaturgeschichte
- 4.7 Literatur des 18. Jahrhunderts
- 4.7.2 Sturm und Drang
- Johann Heinrich Voss
Die Lebensgeschichte von JOHANN HEINRICH VOSS begann in Sommersdorf bei Waren (Mecklenburg). Hier wurde er am 20.02.1751 als Sohn von JOHANN HEINRICH VOSS und seiner Frau KATHARINA DOROTHEA KARSTEN geboren (die Heirat fand erst kurz nach der Geburt des Jungen statt). Der Vater stammte aus armen Verhältnissen (sein eigener Vater war ein freigelassener, ehemals leibeigener Radmacher), hatte aber eine recht gute Schulbildung genossen und als Sekretär eines lübeckischen Domherrn diese Bildung noch erweitern können. Nach der Geburt von VOSS zog die Familie nach Penzlin, wo sich der Vater als Gastwirt und Zollverwalter (Pächter des Maltzanschen Dammzolls) niederließ und so zunächst eine ausreichende wirtschaftliche Existenzgrundlage schaffen konnte.
VOSS besuchte 1759–1766 die Stadtschule in Penzlin und anschließend 1766–1769 die Lateinschule in Neubrandenburg, wo er u. a. Unterricht in Latein, Englisch, Französisch und Griechisch erhielt und seine ersten Gedichte in der Versform des Hexameters schrieb. Der Siebenjährige Krieg führte zur zunehmenden Verarmung seiner Eltern, sodass der Schulbesuch für sie eine enorme finanzielle Belastung darstellte. Der Sohn dankte ihnen dieses Opfer mit großem Lerneifer. Er gründete noch neben der Schule eine Geheimgesellschaft, in der er sich mit einigen Mitschülern einmal wöchentlich traf, um im Selbststudium Griechisch und Latein zu vertiefen, aber auch, um zeitgenössische deutsche Dichtungen von CHRISTIAN FÜRCHTEGOTT GELLERT, FRIEDRICH VON HAGEDORN, KARL WILHELM RAMLER oder FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK zu studieren und zu diskutieren.
Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation seiner Eltern konnte VOSS nach der Schulausbildung zunächst kein Studium anschließen. Er sah sich vielmehr gezwungen, von 1769–1772 unter demütigenden Bedingungen und für eine unzureichende Entlohnung als Hofmeister bei dem Gutsbesitzer HANS SIGISMUND VON OERTZEN in Ankershagen zu arbeiten. Die Erfahrungen dieser Jahre als „Domestik“ einer adligen Herrschaft prägten einen lebenslangen Hass auf Standesprivilegien und Adelswillkür; sie machten ihn zum Demokraten und zum Feind des Absolutismus.
Nachdem VOSS einige seiner Gedichte an den Herausgeber des „Göttinger Musenalmanachs“, HEINRICH CHRISTIAN BOIE, gesandt hatte, wurde er von diesem 1772 in die Universitätsstadt Göttingen zum Studium eingeladen und finanziell gefördert. VOSS widmete sich erst dem Studium der Theologie, später dem der Philologie.
In der Studienzeit kam VOSS neben BOIE, seinem zukünftigen Schwager, u. a. mit LUDWIG CHRISTOPH HEINRICH HÖLTY, JOHANN FRIEDRICH HAHN, GOTTFRIED AUGUST BÜRGER, JOHANN MARTIN MILLER, den Brüdern LEOPOLD UND CHRISTIAN ZU STOLBERG, JOHANN ANTON LEISEWITZ, JOHANN ANDREAS CRAMER und CHRISTIAN ADOLPH OVERBECK in Kontakt. Teilweise entwickelten sich Freundschaften, VOSS erfuhr zunehmend Anerkennung als Dichter und schließlich mündete dieser Umgang im September 1772 in die Gründung des Literatenzirkels „Göttinger Hain“, („Göttinger Hainbund“) durch VOSS, HÖLTY, MILLER und weitere Göttinger Studenten, dem VOSS als Ältester vorstand. Dieser Dichterkreis pflegte eine kultartige Verehrung seines literarischen Leitbildes FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK, nach dessen 1771 geschriebener Ode „Der Hügel und der Hain“ er sich benannt hatte, und einen heftigen Freundschaftskult. Der „Göttinger Hain“ vereinte in sich die junge Avantgarde der zeitgenössischen deutschen Lyrik, die sich für sittliche Ideale begeisterte und ein schwärmerisches Verhältnis zur Natur zeigte.
Auf einer 1774 unternommenen Reise traf VOSS in Hamburg mit FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK zusammen; in Flensburg lernte er ERNESTINE BOIE, die Schwester von CHRISTIAN BOIE, persönlich kennen und verliebte sich in sie. Auch mit GOTTHOLD EPHRAIM LESSING, JOACHIM HEINRICH VON CAMPE, JOHANN JOACHIM CHRISTOPH BODE und CARL PHILIPP EMANUEL BACH, die sich in Hamburg aufhielten, pflegte er Kontakte. 1775 übernahm er die Herausgabe des jährlich erscheinenden „Göttinger Musenalmanachs“ und zog nach Wandsbek in die unmittelbare Nähe von MATTHIAS CLAUDIUS, zu dem und dessen Frau er enge freundschaftliche Beziehungen pflegte. In dieser Zeit schrieb er seine ersten Idyllen („Die Leibeigenen“, „Die Freigelassenen“) und begann mit der „Odüße“-Übersetzung.
1777 heiratete VOSS ERNESTINE BOIE. Aus der Verbindung gingen fünf Söhne hervor.
1778 nahm VOSS eine Stelle als Rektor an der Lateinschule in Otterndorf an der Unterelbe an, 1782 an der Lateinschule in Eutin. Von nun an hatte die Familie ein gesichertes Auskommen. In Eutin begann für VOSS, der bis dahin wenig Zeit zum Schreiben hatte, eine Phase von zwei Jahrzehnten intensiven dichterischen Schaffens.
VOSS pflegte in dieser Zeit freundschaftliche Beziehungen zu FRIEDRICH GOTTLIEB KLOPSTOCK, JOHANN WILHELM LUDWIG GLEIM, JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, FRIEDRICH VON SCHILLER, MATTHIAS CLAUDIUS und WILHELM VON HUMBOLDT. Seine hohe Produktivität rächte sich jedoch. Aufgrund gesundheitlicher Probleme musste VOSS von seinem Dienstherrn, dem Herzog PETER FRIEDRICH LUDWIG, eine Befreiung von seinen Dienstpflichten und die Zahlung einer Pension erbitten. Beides wurde ihm 1802 gewährt, woraufhin sich die Familie kurzzeitig in Jena niederließ, da dort zwei der Söhne von VOSS studierten. VOSS arbeitete als Privatlehrer und erhielt häufig Besuch von GOETHE, der sich bemühte, ihn in Jena zu halten. Trotzdem nahm VOSS 1805 eine Professur an der Heidelberger Universität an – eine Stelle, auf der er im Prinzip nur als Berater für philologische Studien tätig sein musste und die ihm ausreichend Zeit für seine schriftstellerischen Neigungen ließ. Die folgende Zeit widmete er besonders seinen Übersetzungsarbeiten und dem Kampf gegen die Heidelberger Romantiker, insbesondere gegen den romantischen Mythenforscher FRIEDRICH CREUZER.
1814 wurde VOSS auf Vorschlag des Altertumswissenschaftlers PHILIPP KARL BUTTMANN Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften.
VOSS starb am 29.03.1826 in Heidelberg an den Folgen eines Schlaganfalls. Er wurde zunächst auf dem St. Anna-Friedhof beigesetzt und 1875 auf den Bergfriedhof am Westhang des Gaisberges umgesetzt.
Das literarische Schaffen von VOSS war von enormer Dimension. VOSS war ein weltanschaulich engagierter, in seiner Kritik am feudalistischen System kompromissloser Literat und Philologe, der sich als Demokrat verstand und sich einer wortgewaltigen Sprache bediente. Als Vertreter der Spätaufklärung wandte er sich gegen die Romantik und befürwortete die Ideale der Französischen Revolution. Seine Sturm-und-Drang-Poetik war gekennzeichnet durch eine Ästhetik des Sinnlichen und stand ganz im Zeichen der Empfindsamkeit, einer Literaturströmung, deren Hauptmerkmale Emotionalität, Begeisterung für sittliche Ideale und Naturschwärmerei waren und die in Deutschland vor allem von den Dichtern des Literatenkreises „Göttinger Hain“ vertreten wurde. Für seine Überzeugungen trat VOSS, nachdem er als Dichter beruflich Fuß gefasst hatte, mit großem Nachdruck ein bis hin zu aggressiver Polemik, die auch vor Freunden und Kollegen nicht Halt machte. Mit fortschreitendem Alter wurde er als zunehmend starrsinnig beschrieben und auch doktrinärer Haltungen bezichtigt.
Die besonderen Leistungen von VOSS waren die umfangreichen Übersetzungen antiker Klassiker in die deutsche Sprache und die Einführung der antiken Gattung der in Hexametern geschriebenen Idylle in die deutsche Literatur.
Mit der Idylle begann er seinen dichterischen Werdegang. Schon in den Siebzigerjahren schrieb er eine Vielzahl davon. Mit „Die Leibeigenen“ verfasste er 1774 die erste Idylle zur Bauernfrage, 1775 mit „Die Freigelassenen“ die zweite. Dieser Idyllenzyklus wurde 1800 mit der Idylle „Die Erleichterten“ beendet. VOSS entwickelte in diesen Idyllen die Bilder des bäuerlichen, häuslich geselligen Lebens mit großer Wirklichkeitsnähe. Er ließ auch Vertreter des einfachen Volkes zu Wort kommen („Die Bleicherin“, „Die Kirschenpflückerin“, „Die Heumad“...) und begriff die Natur nicht als Sinnbild für das verlorene Paradies, sondern als ein Objekt segensreicher Arbeit.
Mit der Übernahme des Rektorats an der Lateinschule in Eutin 1782 begann die eigentliche große Schaffensperiode von VOSS. In Eutin überarbeitete und vollendete er seine HOMER-Übersetzung der „Odyssee“, mit der er schon 1781 begonnen hatte. In der Folgezeit übertrug er eine große Zahl klassischer Autoren (u. a. HESIOD, VERGIL, HORAZ, OVID, HOMER, ARISTOPHANES) in Form von Übersetzungen und Nachdichtungen ins Deutsche – eine Leistung, die seinen Ruhm bis heute begründet. Neben den Übersetzungen betrieb er philologische Studien (z. B. zur antiken Geographie und Weltkunde) und schrieb viele kleinere Publikationen (u. a. Streitschriften).
1795 wurde die „Luise“ herausgegeben, ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, mit dem VOSS einen weiteren Höhepunkt in seinem dichterischen Schaffen erreichte. Dieses sozialkritische Werk begründete eine neue literarische Gattung – das idyllische Epos – und wirkte als Anregung für GOETHEs Epos „Hermann und Dorothea“ (1797).
Insgesamt bewältigte VOSS ein enormes Arbeitspensum; er arbeitete rastlos und schonungslos bis hin zur Besessenheit.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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