Stochastische Prozesse

Der Begriff „Stochastischer Prozess“ steht für eine neuere Entwicklungsrichtung in der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Es waren vor allem bedeutende Physiker, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen, Zufallsgrößen zu untersuchen, die von einem sich kontinuierlich ändernden Parameter (meist war es die Zeit) abhängen. Zu ihnen gehörte auch ALBERT EINSTEIN (1879 bis 1955), der mit seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit, die den Titel „Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen“ trägt, im „Wunderjahr“ 1905 einen konkreten stochastischen Prozess behandelte.

EINSTEIN ging bei seinen Betrachtungen davon aus, dass die gleichsam chaotische Bewegung kleiner Teilchen in einer Flüssigkeit durch Stöße der Flüssigkeitsmoleküle, die sich infolge ihres Wärmegehaltes selbst zufällig bewegen, verursacht wird. Wenn X t die Koordinaten eines Teilchens zum Zeitpunkt t beschreibt, dann bildet die Menge der Zufallsgrößen X t für alle Zeitpunkte t einen stochastischen Prozess.

An diese Arbeit von EINSTEIN, in der er die Gesetzmäßigkeit dieser ungeordneten Wärmebewegung von Molekülen aufdeckte, schlossen sich u.a. Arbeiten von NORBERT WIENER (1894 bis 1964) und von ANDREJ NIKOLAJEWITSCH KOLMOGOROW (1903 bis 1987) an.

KOLMOGOROW war es auch, der mit seiner Theorie der unendlichdimensionalen Wahrscheinlichkeitsräume einen wesentlichen Grundstein für eine allgemeine Theorie der stochastischen Prozesse legte.

  • Definition: Eine Menge von Zufallsgrößen X t , die von einem Parameter t abhängen, der in einer reellen Zahlenmenge T ( m i t T ) variiert, heißt stochastischer Prozess.

Für einen stochastischen Prozess schreibt man kurz { X t : t T } . Verschiedentlich werden auch andere Schreibweisen benutzt, wie z.B. { X ( t ) : t T } oder ( X t ) t T .

Der Parameter t wird im Allgemeinen als Zeitparameter interpretiert (wobei er in vielen Anwendungen tatsächlich die Zeit bedeutet), er kann aber auch irgendeine andere Größe bezeichnen.

Ist T eine endliche oder abzählbar unendliche Menge natürlicher Zahlen, so spricht man von einem stochastischen Prozess mit diskreter Zeit. In diesem Sinne ist jede abzählbare Folge ( X n ) m i t n = 1, 2, ... von Zufallsgrößen ein stochastischer Prozess.

Die neue Qualität (im Vergleich zur Wahrscheinlichkeitsrechnung im 18. und 19. Jahrhundert) der wahrscheinlichkeitstheoretischen Problemstellung, wie sie mit dem Begriff „Stochastischer Prozess“ verbunden ist, ergibt sich aber erst dann, wenn T eine nichtabzählbare Menge ist.

Dies soll an drei Aspekten verdeutlicht werden.
Neuartig ist, dass

  1. eine Gesamtheit von Zufallsgrößen X t betrachtet wird, die von einem Parameter t abhängen.
  2. die Größe X t für ein festgewähltes Elementarereignis eine Zufallsfunktion des Arguments t ist (eiese Funktion nennt man Realisierung des stochastischen Prozesses);
  3. mit der Untersuchung stochastischer Prozesse die Beschäftigung mit abhängigen Zufallsgrößen in den Mittelpunkt rückte, während sich die Wahrscheinlichkeitsrechnung zuvor meist mit unabhängigen Ereignissen und Zufallsgrößen befasst hatte.

Stochastische Prozesse treten in den verschiedensten Praxisbereichen auf, sei es in der Physik der kleinsten Teilchen, bei Warteschlangen- und Bedienungsproblemen, in der Zuverlässigkeitstheorie, bei der Bevölkerungsbewegung oder auch bei Prognoseaussagen.

Geprägt von den verschiedenen Anwendungssituationen, aber auch vom Vorhandensein eines entwickelten theoretischen Instrumentariums sind eine Reihe von Typen stochastischer Prozesse besonders ausgezeichnet.
Der wohl bekannteste stochastische Prozess ist der markowsche Prozess, benannt nach dem russischen Mathematiker ANDREJ ANDREJEWITSCH MARKOW (1856 bis 1922), einem Schüler von PAFNUTY LWOWITSCH TSCHEBYSCHEW (1821 bis 1894), dem Begründer der mathematischen Schule von St. Petersburg.

MARKOW stellte 1906 erstmals der Öffentlichkeit seine Betrachtungen über sogenannte „verkettete (Zufalls-)Größen“ ohne Nachwirkungen vor. Er ließ sich dabei weniger von Erfordernissen der Praxis leiten, als von einer gewissen Konkurrenzsituation zu einem anderen Schüler von TSCHEBYSCHEW, nämlich zu ALEXANDER MICHAILOWITSCH LJAPUNOW (1857 bis 1918), und zwar bei der Suche nach möglichst allgemeinen Bedingungen für die Gültigkeit des zentralen Grenzwertsatzes.

Bei einem MARKOWschen Prozess hängt jede Wahrscheinlichkeitsaussage über den zukünftigen Prozessverlauf, die den bekannten Wert X t 0 im Zeitpunkt t 0 berücksichtigt, nicht davon ab, wie der Prozess bis zum Zeitpunkt t 0 verlaufen ist, d.h. bei bekannter Gegenwart hängt die Zukunft nicht von der Vergangenheit ab.
Dieses Fehlen einer Nachwirkung kann man mathematisch folgendermaßen beschreiben.

  • Definition: Einen stochastischen Prozess { X t : t T } bezeichnet man als markowschen Prozess, wenn für n = 1, 2, 3, ... und beliebige t m T ( m i t m = 0, 1, ..., n ; t 0 < t 1 < ... < t n ) sowie für beliebige reelle Zahlen x, y die Gleichung
    P ( X t n < y | X t n 1 = x ; X t n 2 = x n 2 ; ... ; X t 0 = x 0 ) = P ( X t n < y | X t n 1 = x )
    für alle x n 2 , ..., x 0 gilt.
    Ein diskreter markowscher Prozess ist eine MARKOW-Kette.

Das große Interesse an markowschen Prozessen resultiert daraus, dass viele Vorgänge, wie etwa Diffusionsvorgänge, auf diese Weise beschrieben und untersucht werden können.

Außerdem konnten bei markowschen Prozessen eine Reihe nützlicher Eigenschaften nachgewiesen werden. So geht z.B. der markowsche Prozess nach hinreichend langer Zeit unter bestimmten Bedingungen in eine stationäre Verteilung über, die ihrerseits nicht mehr von der Zeit abhängt.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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