Raphael Holinshed
Geistiger Diebstahl oder Originalität? – Die Frage nach den Quellen SHAKESPEARES:
Was heutzutage als Verstoß gegen das Urheberrecht geahndet würde, war im ausgehenden Mittelalter und während der Renaissance durchaus üblich. Statt stets neue Ideen und Handlungsabläufe zu erfinden, ging der Ehrgeiz der Autoren jener Zeit dahin, eine bekannte Geschichte kunstvoll umzugestalten. So entstand ein Netzwerk von Geschichten, die europäische Dichter und Dramatiker variierten und ausbauten. Die uns aus dieser Zeit vertrauten Texte stellen sozusagen Erzählungen aus „dritter oder vierter Hand“ dar.
So entnahm SHAKESPEARE einen großen Teil des Materials für seine historischen Dramen aus „dem“ HOLINSHED. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich weniger eine Autorenpersönlichkeit, als vielmehr eine Zusammenstellung von Geschichtsberichten und -erzählungen mehrerer Autoren, die Chronicles of England, Scotlande, and Ireland. Und auch in diesen Chroniken wurde manches von Vorgängern übernommen.
Biografie
RAPHAEL HOLINSHED wurde vermutlich 1529 in Cheshire geboren. Seit ungefähr 1560 lebte er in London, wo er als Übersetzer bei REGINALD WOLFE beschäftigt war, der an der Herausgabe eines universalgeschichtlichen Werkes arbeitete. Der Tod WOLFES führte zum Abbruch dieses Vorhabens. Die bis dahin gesammelten Ergebnisse wurden 1577 in einer zweibändigen illustrierten Ausgabe als Chronicles of England, Scotlande, and Ireland herausgegeben. Die Darstellung reicht von der Sintflut bis zur Herrschaftszeit von Queen ELIZABETH I. und hat innerhalb der elisabethanischen Chronographie einen besonderen Bekanntheitsgrad erreicht. HOLINSHED starb um 1580.
Die Chroniken des 16. Jahrhunderts
HOLINSHEDS Chronicles stellen ein Beispiel für eine Reihe von Chroniken des 16. Jh. dar:
- POLYDORE VIRGIL, der von HEINRICH VII den Auftrag erhielt, eine englische Nationalgeschichte zu schreiben,
- GRAFTON, Chronicle (1543),
- SAMUEL PURCHAS, A History of the World in Sea Voyages and Land Travel (1589),
- EDWARD HALL, Union of the Families of Lancaster and York (1542),
- JOHN STOW, Chronicles of England (1580).
Die große Anzahl populärwissenschaftlicher Geschichtserzählungen deutet einerseits auf ein wachsendes Geschichtsinteresse der lesenden Bevölkerung hin. Andererseits sind diese Geschichtswerke, die von Tudorkönigen in Auftrag gegeben oder protegiert wurden, als Instrumente der Herrschaftslegitimation zu sehen. Der Bedarf nach einer Begründung der Herrschaft hatte geschichtliche Ursachen.
HENRY VII. (1485–1509), der erste König aus dem Hause Tudor, erwarb den Königstitel 1485 durch seinen Sieg über den Thronusurpator RICHARD III. in der Schlacht bei Bosworth. Zwar setzte diese Entscheidung dem dreißig Jahre andauernden „Rosenkrieg“ der Häuser Lancaster und York um den Thron ein Ende und ermöglichte die Wiederherstellung eines funktionierenden Staatswesens. Doch haftete dieser Form der Thronbesteigung ein Makel an. Legitimationsbedarf erwuchs auch aus der protestantischen Reform.
Auf diese Weise entstand ein heilsgeschichtlicher Mythos des Hauses Tudor, das als Erneuerer staatlicher Ordnung und nationaler Größe sowie als Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung verklärt wurde. Geschichtswissenschaftler sprechen bei dieser Erscheinung von dem „Tudor Myth“.
Merkmale der Chroniken des 16. Jahrhunderts
Die beliebten Chroniken des 16. Jahrhunderts stellen keinesfalls Werke einer kritischen Geschichtsschreibung dar. Vielmehr bilden sie ein Konglomerat aus Beiträgen verschiedener Autoren und aus unkritisch wiedergegebenen Darstellungen früherer Chronisten. Obwohl unter HOLINSHEDS Namen veröffentlicht, weisen auch die Chronicles Merkmale einer Zusammenstellung auf.
Quellen HOLINSHEDS
HOLINSHED und andere Autoren der Geschichtsdarstellungen des 16. Jahrhunderts greifen zurück auf:
- JOHN CAPGRAVE (1393–1464) Chronicle of England (bis 1417 reichend),
- ANDREW OF WYNTOUN (ca.1350–ca.1420/30), Orygynale Cronykil of Scottland (bis 1408 reichend), in dessen Chronik erstmals von King Duncan und Macbeth berichtet wird,
- THOMAS MORE (1478–1535)
- und POLYDORE VIRGIL.
Bedeutung der HOLINSHED-Chronicles für Shakespeare
SHAKESPEARE benutzte die Geschichtschroniken seiner Zeit als Quellen für seine historischen Dramen z. B. Henry VI, Macbeth, Richard II., Richard III.,King Lear, Cymbeline. Vor allem stützte er sich auf die Chroniken HALLS und HOLINSHEDS. Die SHAKESPEARE-Forschung hat diese Verbindung zurückverfolgt und in Textausgaben zusammengestellt:
- Holinshed's Chronicle as Used in Shakespeare's Plays, ed. by ALLARDYCE and JOSEPHINE NICOLL (1927);
- Shakespeare's Holinshed, ed. by RICHARD HOSLEY (1968)
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