NIKOLAAS (NIKO) TINBERGEN wurde am 15.04.1907 in Den Haag als drittes der fünf Kinder von DIRK CORNELIUS TINBERGEN und JEANETTE VAN EEK geboren. Er wuchs unter glücklichen und harmonischen Bedingungen auf, seine Mutter war ein sehr herzlicher, impulsiver Charakter. Sein Vater, ein Grammatik-Lehrer für holländische Sprache und Geschichte, war ein engagierter Familienvater, gleichzeitig auch ein Mann, der seine Arbeit sehr ernst nahm und pflichtbewusst erfüllte. Intellektuell wirkte er auf seine Kinder sehr stimulierend und sowohl sein feiner, sensibler Humor als auch seine positive Einstellung zum Leben prägte die Entwicklung seiner Kinder.
NIKO war nicht allzu sehr interessiert an seinen schulischen Leistungen. In der secondary school und auch in der Universität reichte sein Engagement gerade einmal dazu aus, die Abschlüsse zu schaffen bzw. nicht durchzufallen. Seine Lehrer in der Schule und auch in der Universität, z. B. seine Professoren in Leiden (Holland) bewiesen viel Verständnis und Geduld und gewährten ihm sehr viel Spielraum in der Ausübung seiner Hobbies, wie z. B. Zelten, Vogelbeobachtung, Schlittschuh laufen und Feldhockey spielen, um seine noch ungerichteten unnützlichen Energien auszuleben.
Er selbst beschreibt in seiner Autobiografie, dass das Schicksal es immer gut mit ihm meinte. Der natürliche Reichtum seines Heimatlandes Holland - die sandigen Strände, die außergewöhnliche Dünenlandschaft der Küsten, die vielfältige Tier- und Pflanzenwelt, die mannigfaltigen Gewässer im Inneren des Landes und das alles so nah am städtischen Leben - faszinierten ihn sehr. Die Veröffentlichungen der einheimischen Naturalisten E. HEIMANS und JAC P. THIJSSE gehörten in der damaligen Zeit zu seiner Lieblingslektüre.
Als kleiner Junge beschäftigt er sich mit zwei kleinen Aquarien im heimatlichen Hinterhof. Jedes Frühjahr beobachtet er voller Begeisterung das Nestbauverhalten und andere Verhaltensweisen der sticklebacks. Sein Biologielehrer in der High School, Dr. A. SCHIERBEEK beauftragt ihn und einige andere Mitschüler drei Meerwasser-Aquarien, die im Klassenraum aufgestellt sind, zu betreuen, was er sehr erst nahm und nahezu jede Pause dort verbrachte.
NIKO war sehr skeptisch, was die akademische Biologie-Ausbildung anging, daher wollte er eigentlich nicht an der Universität studieren. Aber ein Freund der Familie, Professor PAUL EHRENFEST (1880-1933) und natürlich sein Biologielehrer, Dr. SCHIERBEEK überredeten seinen Vater ihn im Jahr 1925 zu Professor J. TIENEMANN zu schicken, den Gründer der Vogelwarte Witten und den Initiator der Vogelberingung. TIENEMANN nahm ihn auf, wusste aber nicht so recht, was er mit ihm anfangen sollte. Der Fotograf RUDY STEINERT und seine Frau LUCY nahmen sich seiner an. Er begleitete sie auf ihren stundenlangen Exkursionen entlang der Küste und Dünen der Kurischen Nehrung, wo er die faszinierenden Wanderdünen kennen lernte, das herbstliche Migrationsverhalten der Zugvögel und die dort wild lebenden Elche beobachten konnte. Als er Weihnachten 1925 nach Holland zurückkehrt, hat er entschieden sein Biologiestudium nun doch an der Universität Leiden aufzunehmen. 1932 schließt er dort sein Studium mit dem Diplom ab.
Auch in Leiden bleibt ihm das Glück hold. Sein freundschaftliches Verhältnis zu dem Naturalisten Dr. JAN VERWEY, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm, steigert sein professionelles Interesse am Verhalten der Tiere. Zwei väterliche Freunde G. J. TILMSTRA und Dr. A. F. J. PORTIELJE initiieren mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit sein wissenschaftliches Interesse an einer geschützten Seemöwen-Kolonie in der Nähe von Hague. TINBERGEN absolviert sein Diplom ohne besondere Auszeichnung, lernt seine spätere Ehefrau ELISABETH RUTTEN kennen. Er wird allmählich erwachsen und begreift, dass er eines Tages für sein Leben selbst aufkommen muss.
Sowohl von den Arbeiten KARL VON FRISCHs (1886-1982) als auch von den Veröffentlichungen über Insekten von J. H. FABRE (1823-1915) beeinflusst, beginnt er seine erste wissenschaftliche Arbeit auf dem Gebiet der Verhaltensforschung: Seine Studie über eine Kolonie von Grabwespen (Philanthus) beschäftigt sich hauptsächlich mit ihrem außergewöhnlichen Orientierungsverhalten in der Nähe des Nestes.
Seine 32-seitige Abhandlung über seine Beobachtungen in dieser Grabwespen-Kolonie verschafft ihm nicht unbedingt den wissenschaftlichen Erfolg, den er sich erhoffte. TINBERGEN promovierte 1932 in Leiden und heiratete ELISABETH AMELIE RUTTEN. Die beiden haben fünf gemeinsame Kinder.
Der großzügige SIDNEY VAN DEN BERG ermöglicht ihm in den Jahren 1932 und 1933 an einer Internationalen Polarexpedition teilzunehmen. Mit seiner Frau ELISABETH lebt er zwei ganze Sommer und einen Winter in Angmagssalik mit einem isoliert lebenden dort beheimateten Eskimo-Stamm zusammen, die nach deren Aufenthalt mit der westlich zivilisierten Welt und deren Errungenschaften konfrontiert werden und somit viele Verhaltensweisen, Lebensweisen aufgeben und demnach nicht mehr als isoliert lebender Stamm bezeichnet werden können. Diese Erfahrungen in einer primitiven Jagd-Gesellschaft sind ihm in späteren Jahren von unschätzbarem Nutzen, als er versucht, den vermeintlichen Lebensweg der menschlichen Vorfahren zu rekonstruieren.
Als TINBERGEN von seiner Grönlandexpedition nach Holland zurückkehrt, bekommt er eine Anstellung an der Universität von Leiden. Professor C. J. VAN DER KLAAUW ermöglicht ihm 1935, vergleichende Anatomie zu unterrichten und einen Kurs über das Verhalten der Tiere für die Studenten der unteren Semester einzurichten. TINBERGEN macht seine ersten Erfahrungen im Feld in einer 2-monatigen Feldstudie. Diese Erfahrungen nutzt er für das Orientierungsverhalten der Grabwespen und Verhaltensstudien an anderen Insekten und Vögeln.
1936 lädt VAN DER KLAAUW KONRAD LORENZ (1903-1989) nach Leiden zu einem Symposium mit dem Thema „Instinkt“ ein und TINBERGEN trifft ihn dort zum ersten Mal. Sofort war ein gegenseitiges Interesse spürbar. Familie LORENZ lädt Familie TINBERGEN (Ehepaar und kleiner Sohn) zu einem viermonatigen Aufenthalt in ihr Elternhaus in Altenberg, nahe Wien, ein. TINBERGEN wird der zweite Schüler von LORENZ, der erste Schüler Dr. ALFRED SEITZ macht sich später einen Namen durch die Formulierung der Reizsummenregel. Aber seit dem Beginn ihrer freundschaftlichen Beziehung, beeinflussen sich Schüler und Lehrer gleichermaßen. KONRAD LORENZ außerordentlichen Visionen, seine genialen Erklärungsansätze und sein Enthusiasmus werden optimiert durch die kritischen Betrachtungen, Reflektionsfähigkeiten seines Schülers TINBERGEN und seinem ausgeprägten Willen die formulierten Ideen im Experiment zu überprüfen. Diese Fähigkeiten seines Schülers veranlassen LORENZ häufig zu kindischen Begeisterungsausbrüchen. Außerdem haben beide Forscher einen ähnlichen Humor und verfallen, wie LORENZ es liebevoll formulierte, oft in Lausbuberei. LORENZ über seinen Freund TINBERGEN anlässlich der Verleihung des Nobelpreises im Jahr 1973: …„VON FRISCH hätte ihn viel eher erhalten müssen, aber die Tatsache, dass Niko und ich ihn zusammen erhalten haben, erfüllt mich mit tiefer Befriedigung. Wenn jemals zwei Forscher aufeinander angewiesen waren und einander halfen, sind wir zwei es gewesen“.
Diese gemeinsamen Monate waren entscheidend für ihre zukünftige wissenschaftliche Zusammenarbeit und für eine lebenslange Freundschaft. Als TINBERGEN nach Holland zurückkehrt, schreibt er schüchtern dem großen KARL VON FRISCH, der zu dem Zeitpunkt an dem ebenso bekannten, von ROCKEFELLER erbauten, Labor in München beschäftigt ist. FRISCH lädt TINBERGEN nach München ein, der ehrfürchtig das erste Zusammentreffen schildert. Er ist begeistert von dem Naturwissenschaftler FRISCH als auch von FRISCH als Mensch und von seinem Verhalten auf einen aggressiven „Heil Hitler-Gruß“ eines Studenten, dem er mit einem ruhigen „Grüß Gott“ antwortete.
1938 verschafft die Netherlands-America Foundation TINBERGEN eine Reise nach New York und zurück, die er für einen 4-monatigen Aufenthalt nutzt. Für einen Dollar pro Tag lebt er in YMCA's (40 Cent für das Zimmer, 50 Cent für die tägliche Verpflegung und 10 Cent für die U-Bahn). Während dieses USA-Aufenthalts trifft er Personen, wie ERNST MAYR (geb. 1904), FRANK A. BEACH (1911-1988), TED SCHNEIRLA, ROBERT M. YERKES (1876-1956) und viele andere. Die amerikanischen Psychologen beeindrucken ihn sehr.
Es folgt ein hartes Jahr wissenschaftlicher Arbeit, neben einer kontinuierlichen schriftlichen Korrespondenz zu LORENZ, die ein Leben lang anhält, allerdings bei Ausbruch des 2. Weltkrieges abbricht. Für beide befreundeten Forscher ist dieser Krieg eine Katastrophe. „Wir hatten soviel Gutes vor….“, schrieb LORENZ bevor der Nationalsozialismus mit seinen Auswirkungen auch die Niederlande erreicht.
TINBERGEN verbringt während des Krieges 2 Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft, während seine Frau versucht, die Familie in den schwierigen Zeiten durchzubringen. LORENZ arbeitet als Armeearzt und verschwindet während der Schlacht von Witebsk spurlos. Erst 1947 gelingt LORENZ die Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft. Als die beiden Freunde sich 1949 bei W.H. THORPE in Cambridge wieder sehen, sind beide emotional sehr berührt, aufgewühlt und außerordentlich froh, sich wieder zu sehen.
Ab 1947 ist TINBERGEN an der Leidener Universität Professor für Zoologie.
Noch in diesem Jahr (1947) wird TINBERGEN nach Großbritannien und in die USA z. B. vom American Museum of Natural History und der University of Columbia eingeladen, um von seinen Verhaltensstudien an Tieren und über die vergleichende Verhaltensforschung zu berichten und die sich daraus ergebenden Hypothesen in Vorlesungen zu vermitteln. Seine Freundschaft zu ERNST MAYR und DAVID LACK fördert sein Interesse in evolutionsbiologische und ökologische Themen. Der Inhalt seiner Vorlesungen in den USA ist in dem Buch „The study of instinct“ (1951) nachzulesen. Aufgrund seiner überall bekannten sorgfältig geplanten und durchgeführten Freilandversuche hatte TINBERGEN international einen solchen Ruf erlangt, dass viele Eliteuniversitäten ihn für sich gewinnen wollen. TINBERGEN besucht DAVID LACK am Edward Grey Institut für Feld-Ornithologie (Vogelkunde) und nimmt die Einladung von SIR ALISTER HARDY (1896-1985) an, sich in Oxford niederzulassen, um hier eine neue Abteilung zu gründen. Zu Beginn der 50er Jahre nimmt TINBERGEN also eine Professur in Oxford an. TINBERGEN baute dort das Research Department of Animal Behavior auf, das sehr schnell neben Seewiesen zu einem Dreh- und Angelpunkt internationaler Verhaltensbiologen wurde. TINBERGEN erfüllte sich damit einen Traum, er brachte der englischsprachigen Welt seine Leidenschaft, die Ethologie, nahe. Er gründete und prägte das Journal Behaviour und engagierte sich für einen näheren Kontakt zu den amerikanischen Psychologen und zu einer internationalen Kooperation mit gleich gesinnten Wissenschaftlern. Im Jahr 1955 nimmt TINBERGEN die britische Staatsbürgerschaft an und 1962 wird er Mitglied in der Royal Society, eine sehr traditionelle, ehrwürdige Gesellschaft der Naturwissenschaften.
Professor J. W. S. PRINGLE veranlasst, dass ALISTER HARDY Chef der Zoologie-Abteilung in Oxford wird und verhilft der Arbeitsgruppe somit die Brücke zwischen dem Verhalten und der Neurophysiologie zu bauen. Mit der anschließenden Gründung der interdisziplinären Oxford School of Human Sciences wird die Verhaltensbiologie samt ihrer Methoden auch für das menschliche Verhalten herangezogen.
Die Forschungsgruppe hat Gelegenheit zu ökologisch orientierten Feldstudien, als Dr. J. S. OWEN, der Direktor des Nationalparks von Tansania TINBERGEN bittet, ihm bei der Gründung des Serengeti-Forschungsinstitut zu unterstützen.
TINBERGEN und seine Frau ELISABETH haben sich darüber hinaus mit eigenen Forschungen der sozial wichtigen Frage des frühkindlichen Autismus zugewendet. Sie analysierten diese Krankheit, die mit einem Rückzug aus der Realität und durch eine sehr starke Selbstbezogenheit beschrieben werden kann, mithilfe ihrer ethologischen Methoden.
NIKOLAAS TINBERGEN starb am 21.Dezember 1988 in Oxford.
TINBERGEN zeichnete sich vor allem durch seine penibel geplanten und durchgeführten Freilandversuche aus, er galt als hervorragender Experimentator und konnte mit seinen entwickelten Methoden die exzellent formulierten Erklärungsmodelle bezüglich des Verhaltens der Tiere von KONRAD LORENZ bestätigen. Wenn er Versuche an Tieren, die in Gefangenschaft gehalten wurden, durchführte, war er außergewöhnlich selbstkritisch und vorsichtig. TINBERGEN gilt neben LORENZ als der Mitbegründer der modernen Verhaltensforschung. Mit seinem 1951 in Amerika erschienenem Buch „The study of instinct“ entwickelte er das erste Lehrbuch der vergleichenden Verhaltensforschung.
TINBERGEN war vor allem an den evolutionären Ursprüngen vieler sozialer Auslöser und ihrer Ritualisierung interessiert. Seine letzten Forschungsjahre beschäftigte er sich darüber hinaus auch mit den Fragen des frühkindlichen Autismus. Seine gewonnenen Erkenntnisse waren nicht nur für die Verhaltensforschung, sondern auch für die Biologie als Naturwissenschaft allgemein Bahn brechend und seiner Zeit voraus. Seine vier formulierten Erklärungsebenen haben auch heute noch ihre absolute Berechtigung:
Betrachtet man ein biologisches Phänomen, müssen folgende vier Aspekten untersucht werden:
1951 | The Study of Instinct - : Das erste Lehrbuch der Ethologie, Oxford, Clarendon Press, erschien 1952 mit dem Titel „Instinktlehre“ in Deutschland |
1953 | The Herring Gull's World - London, Collins: Eine sehr detaillierte Analyse über das Sozialverhalten der Silbermöwe |
1953 | Social Behavior in animals |
1958 | Curious Naturalists - London, Country Life |
1965 | Animal behavior |
1972 | The Animal in its World Vol. 1. - London, Allen & Unwin; Harvard University Press: Feldstudien über das tierliche Verhalten, erscheint 1977 auf deutsch |
1972 | (zusamen mit E. A. Tinbergen) Early Childhood Autism - an Ethological Approach - Berlin, Parey |
1973 | The Animal in its World Vol. 2. - London, Allen & Unwin; Harvard University Press |
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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