Episches Musiktheater

Die Elemente des Musiktheaters bilden ein „historisches System“, das sich im Wandel der geschichtlichen Entwicklungen jeweils neu gruppierte. Ausgang ist dabei die Idee vom Gesamtkunstwerk, die theoretisch wie praktisch viele verschiedene Realisierungen erfuhr. Ein Höhepunkt war im ausgehenden 19. Jh. RICHARD WAGNER (1813–1883) mit der Konzeption des „Musikdramas“ als einem Gesamtkunstwerk, in das auch das Publikum „eingeschmolzen“ war. In Reaktionen darauf und als Gegenpol dazu hat sich das „epische Musiktheater“ entwickelt.

BERTOLT BRECHT

BERTOLT BRECHT

BUSONIS Musiktheater-Konzept

Der Komponist und Musikästhetiker FERRUCCIO BUSONI (1866–1924) umriss in seiner kleinen, aber bedeutenden Schrift „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ (1907) und in späteren Schriften das Ideal einer „Jungen Klassizität“. Sein Schüler KURT WEILL (1900–1950), der Theaterdichter BERTOLT BRECHT (1898–1956) und viele andere knüpften daran an. In seinem „Entwurf“ formulierte BUSONI das Konzept eines anti-traditionellen und anti-naturalistischen Musiktheaters als Antwort auf die Frage nach der „Zukunft der Oper“.

BUSONI kritisierte das Opernpublikum in einer regelrechten Publikumsbeschimpfung als „durchaus kriminell“, weil es einen „unanstrengenden“ Lebensersatz auf der Bühne wolle. Er betonte demgegenüber die entscheidende Rolle der rezeptiven Aktivität im Gesamt der Realisierung von Kunst und wendete sich gegen eine Ästhetik der Einfühlung, der Identifikation und Illusion: „So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen.“ Damit stellte sich für ihn das Problem, wie Musik und speziell das Singen auf der Bühne zu rechtfertigen seien, worin er, wie viele, eine Grundfrage der Oper sah. Er gab die Antwort: „Bei Tänzen, bei Märschen, bei Liedern“.

Diese erste Antwort meinte also den szenisch bzw. dramaturgisch motivierten Einsatz von Musik im Theater, bei der die Musik in solchen Situationen auftritt, wo sie auch im alltäglichen Leben vorkommt oder vorkommen könnte. Insoweit handelte es sich hier um eine auch und gerade mit naturalistischen Theaterkonzeptionen kompatible Antwort.

BUSONIS zweite Antwort dagegen zielte auf das genaue Gegenteil: Notwendig sei Musik auch „beim Eintreten des Übernatürlichen in die Handlung“. Als zentrales Problem erscheint dabei das Singen. Da Singen auf der Bühne eine „Konvention“ sei, müsse die dazu passende Handlung „auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahrscheinliche gestellt sein“. Dafür sei in der Oper „eine Scheinwelt zu schaffen, die das Leben entweder in einen Zauberspiegel oder einen Lachspiegel reflektiert“.

Damit eröffnete BUSONI einen modernen und folgenreichen Weg für das Musiktheater. Die Scheinhaftigkeit von Kunst soll in Produktion wie Rezeption stets bewusst bleiben: durch „offenkundige und angesagte Verstellung“. Das richtet sich gegen die Illusion, dass sich wirkliche Handlungen auf der Bühne vollzögen. Musik solle die Handlung nicht verdoppeln sondern kontrapunktieren. Damit zeichnete sich jene „Trennung der Elemente“ ab, die dann BERTOLT BRECHT auf den Begriff brachte, die aber schon vonIGOR STRAWINSKY (1882–1971) realisiert wurde.

BUSONIs „Arlecchino“

FERRUCCIO BUSONIs „Arlecchino oder Die Fenster“ mit der Gattungsbezeichnung „Ein theatralisches Capriccio in einem Aufzug“ (1912/1916; Uraufführung Zürich 1917) ist eine Probe aufs Exempel. Der gesprochene Prolog der Figur Arlecchinos „vor dem Vorhang“ betont eingangs, das „Schauspiel“ wende „sich an den menschlichen Verstand“, und schließt mit Verweis auf den distanzierend-reflektierenden „Lachspiegel“ der Ästhetik.

Das „Problem“ des „gesungenen Worts auf der Bühne“ umging BUSONI dadurch, dass er ausgerechnet dem Protagonisten Arlecchino eine Sprechrolle zuwies. Das Sprechen ist dann exakt rhythmisiert, wenn es als Teil eines Melodrams, mit instrumentaler Einbettung, fungiert. Und wenn Arlecchino ein einziges Mal doch singt, so nur hinter der Szene und nur ohne Worte auf „la, la, la“. Die Vermeidung des „gesungenen Worts auf der Bühne“ ist also doppelt konsequent. Überdies ist als weitere Ironie Annunziata, Angebetete Arlecchinos (und Frau eines anderen), als stumme Rolle angelegt. Arlecchino fungiert sowohl als Figur des Spiels selbst wie als Kommentator des Geschehens – und überdies noch als Sprachrohr des Komponisten.

Wie häufig im 20. Jh., war das musikalisch-dramaturgische Konzept BUSONIs radikaler und avancierter als das musikalische Material selbst, wiewohl Vielfalt und Finessen von BUSONIs Verfahrensweisen ein erhebliches innovatorisches Potential freisetzten.

STRAWINSKYs Stilisierung

Etwas von dem, was BUSONI konzipierte, realisierte IGOR STRAWINSKY (1882–1971) in seinen Musiktheater-Werken in der Zeit des Ersten  Weltkriegs. Das Machen, Herstellen, Spielen von Kunst soll nach STRAWINSKYs Ästhetik sichtbar bleiben. Kunst soll als Kunst durchschaubar, einsehbar sein. So polemisierte STRAWINSKY gegen die Kunstreligion und äußerte geradezu

Abscheu davor, Musik mit geschlossenen Augen zu hören“.

Um Musik voll zu begreifen, müsse man

auch die Gesten und Bewegungen des menschlichen Körpers sehen, durch die sie hervorgebracht wird“.

STRAWINSKY wendete sich deutlich und zukunftsweisend gegen die Verdeckung des Gemachtseins von Kunst.

Zusammen mit dem Dichter CHARLES-FERDINAND RAMUZ (1878–1947) erarbeitete STRAWINSKY in seinem Schweizer Exil (nach 1914) eine eigentümliche Verfremdungstechnik für sein Musiktheater. Im satirischen Fabel-Spiel „Renard“ („Reineke Fuchs“, 1915/16) verwendete STRAWINSKY russische Bauernmusik, trennte die Musiktheater-Elemente „Singen“ und „Spielen“ bzw. „Tanzen“ und verteilte sie auf verschiedene Darsteller. Damit verhinderte er die glatte Einfühlung in die Fabel-Figuren. Distanzierende, verfremdende Elemente erschienen bereits in Petruschka (1911) – durch den „Rahmen“ der Jahrmarktsschaubude und die Marionetten, die in Umkehrung des Üblichen von leibhaftigen Tänzern „verkörpert“ werden. Diese „Jahrmarktsphäre“ kehrte auch in „Renard“ wieder. Dazu nutzte STRAWINSKY auch ältere Volkstheater- (wie auch Volksmusik-)Materialien, und die mit Fabelelementen und Tiermasken operierenden Aufführungen der russischen Skoromochen (Gaukler) mit ihren antiklerikalen Satiren.

Das Paradox einer Oper ganz ohne Gesang verwirklichte dann die „Geschichte vom Soldaten“ (Libretto von C. F. RAMUZ, 1918). Das kleinformatige Werk trägt statt einer Gattungsbezeichnung den Zusatz „Gelesen, gespielt, getanzt und in zwei Teilen“. Die szenische Aktion vollzieht sich also einerseits im Tanz, andrerseits als Schauspiel-Handlung. Ein Sprecher erzählt zugleich die Handlung. STRAWINSKY montierte Musik „von unten“ ein: Bauernmusik, Jazz (Ragtime), Tanzmusik (Tango, Walzer), Choral, Marsch und machte das Vertraute zugleich durch extreme Stilisierung fremd: den Choral schrägt er mit Dissonanzen an, der Marsch stolpert, der Tango stockt. Die Montage wird zur Stilmaske.

Bei der Pariser Premiere von „Les Noces“ („Die Hochzeit“, 1923) kam zusätzlich noch ein Stück ostasiatischer Stilisierung und Konventionalisierung dazu. So blieb die ganze Zeit der Vorhang oben, und die Tänzer gingen auch während der Klagelieder der beiden Mütter anlässlich des Weggangs ihrer Töchter nicht von der Bühne. Und obwohl Braut und Bräutigam die Bühne nie verlassen, sprechen die Gäste so, als ob sie überhaupt nicht anwesend wären. Diese Konvention und Stilisierung findet sich auch im japanischen Kabuki-Theater.

Montage, Verfremdung und Innovation

Ein von STRAWINSKY verwendetes Verfahren ist die Verfremdung. Wesentliche Bestandteile sind Distanzierung und Stilisierung. Verfremdungsverfahren sorgen für ein Aufbrechen von Gewohnheiten. Eine Definition findet sich in BRECHTs Schrift „Über experimentelles Theater“ (1939/1940): „Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, [ihm] das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.“

Die durch BERTOLT BRECHT (1898–1956) berühmt gewordene „Trennung der Elemente“ auf der Musiktheater-Bühne hat drei Hauptgründe:

  • Zum Ersten zielt sie auf grundsätzlichen Anti-Naturalismus – Abstraktion, Stilisierung usw., wie bereits anhand von BUSONI ausgeführt.
  • Zum Zweiten geht es um differenzierte Arbeitsteilung auch innerhalb der jeweiligen Künste – ein Motiv gerade auch für STRAWINSKY –, weil nur jeweils Spezialisten in der Lage sind, innerhalb ihres Fachgebiets das Optimum zu leisten (also eben nicht der tanzende Sänger-Darsteller, sondern die Tänzerin usw.).
  • Zum Dritten schließlich geht es – kritisch-negativ – gegen das Konzept des Gesamtkunstwerks Wagnerscher Provenienz, das auf Überwältigung des Publikums zielt, darauf, mittels „Verschmelzung“ der Elemente eine „Einschmelzung“ der Zuschauenden und Zuhörenden (so BERTOLT BRECHT) zu erreichen.

Anti-Wagnerisch ist auch WEILLs Konzept. Seine Oper „Der Zar läßt sich photographieren“ nach GEORG KAISER (uraufgeführt im Februar 1928 in Leipzig), steht im Zusammenhang der „Zeitoper“. Die Trennung von Rolle und Kommentar ist von WEILL allerdings weniger als Distanzierung denn als Verbindung zwischen Bühne und Zuschauer gedacht.

Episches und dialektisches Musiktheater

Den Übergang zum epischen und dialektischen Musiktheater vollzog KURT WEILL in Zusammenarbeit mit BERTOLT BRECHT – nach den erfolgreichen Ansätzen im Mahagonny-Songspiel von 1927 – mit  „Die Dreigroschenoper“ im Jahre 1928.

In diese Musik baute WEILL parodierend Elemente aus verschiedensten Musiksphären ein, vorzugsweise aus der unteren, populären: aus Tango, Moritat, Shimmy, aber auch aus Choral und Operntopos. Typisch ist der Song, der die Bestandteile unterschiedlicher Herkunft oft über ein einheitliches rhythmisches Modell miteinander verbindet. Zentral für die Funktion der Musik ist das Konzept der Verfremdung, welches sich gegen „Einfühlung“, Lyrisierung u. ä. wendet.

BRECHT kommt hier durchaus in die Nähe des Ansatzes, den WEILLs Lehrer BUSONI in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ entwickelt hatte. Er akzentuiert bei der Legitimierung des Singens auf der Bühne die Verbindung mit szenisch motivierter Musik. Er fordert denn auch für jeden größeren Song eine ironisch-pathetische und zugleich vulgäre „Songbeleuchtung“: goldenes Licht.

Mit „Happy End“ (1929), eine Art Remake der „Dreigroschenoper“, versuchten BRECHT und WEILL ihren Erfolg fortzusetzen. Das Stück spielt wiederum im Gangstermilieu; mit einer etwas planen Fabel, aber herausragenden und überdauernden Songs – z. B. „Surabaja-Johnny“ –, die raffiniert dramaturgisch funktionalisiert sind.

Eine richtige Oper wird dann  „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, (1930). Deren Ausgangspunkt und Kern ist das Songspiel. Die Konzeption wurde aber wesentlich erweitert. Musiksprachlich wie dramaturgisch nahmen WEILL und BRECHT die Errungenschaften der Dreigroschenoper in noch größerem Umfang auf.

Lehrstücke

Die seit Ende der Zwanzigerjahre entstandenen Lehrstücke BRECHTs, WEILLs und anderer zielten vor allem auf eine intensive Zusammenarbeit der verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung. Musterbeispiele sind BERTOLT BRECHTs Lehrstück  „Die Maßnahme“ (1930/1931) mit Chören und Songs von HANNS EISLER (1898–1962) sowie „Die Mutter“ (1930, nach MAXIM GORKI). Hier werden Kommentare zum Geschehen, verbale und gesungene, in die Handlung eingeblendet. Die Mitmachenden wie die Zuschauenden sollen innehalten und mitdenken.

Modell für die Lehrstücke anderer Autoren und Komponisten bis 1933 war zunächst „Der Jasager" (1930) von BRECHT in der Vertonung von WEILL. Vorbild für BRECHT war ein japanisches No-Theaterstück. Über einem dissonanten, aber tonalen, motorischen Orchestersatz im Dreiertakt eröffnet der Chor in lapidarem Oktav-Unisono mit dem Leitsatz:

„Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis.“

Im Sinne eines „dialektischen Theaters“ und musikalischer Dialektik löst WEILL die (allzu) lapidare, monumentalistische Einstimmigkeit sofort polyphon auf:

„Viele sagen ja, und doch ist das kein Einverständnis. / Viele werden nicht gefragt und viele sind einverstanden mit Falschem.“

Aufgrund der Debatten gerade auch von Seiten der Schüler produzierte BRECHT noch im selben Jahr (1930) mit dem „Neinsager“ ein Gegen-Stück.

Ballett mit Gesang

Von der Gattungsausprägung und -mischung her besonders interessant ist schließlich das Ballett mit Gesang: „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“. Dies war das letzte gemeinsame Musiktheater-Werk von WEILL und BRECHT. KURT WEILLs Mäzen wollte seine Frau als Tänzerin herausbringen; dasselbe wollte auch KURT WEILL für seine Frau, LOTTE LENYA (1898–1981), eine Sängerin. Auf diese Situation passte die Thematik von Brechts Konzeption vortrefflich. In der bündig gefassten Musik erscheinen Barock- und Klassik-Anklänge als ambivalente Parodien im musikalischen Material, durchaus vergleichbar der BRECHTschen Verwendung von Bibelzitaten und sonstigen Spruchweisheiten.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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