Kammermusiklied
Das Kammermusiklied ist eine vokal-instrumentale Gattung des 20. Jh.: solistische Männer- oder Frauenstimme mit Begleitung eines für jedes Werk anderen Instrumentalapparates. Es geht dabei um variable, kammermusikalisch (also ohne chorische Stimmverdopplungen wie beim Orchester) besetzte Ensembles bzw. Besetzungen. Wie im traditionellen Klavierlied der Wiener Klassik und der Romantik oder im nach 1830 aufkommenden Orchesterlied steht also der Solo-Gesang im Vordergrund. Er ist aber in ein weiter gefächertes Instrumentalsystem eingebunden.
Diese Kombination wird charakteristisch für die Neue Musik, besonders nach 1945. Denn mit dem Zerfall des Gattungssystems soll für jedes Werk eine ganz eigene, individuelle Besetzung und eine spezifische Klanglichkeit gefunden werden.
Das Kammermusiklied ist eine Innovation des frühen 20. Jh. Es wird charakteristisch für die Neue Musik. Besetzungsmäßig bildet es sozusagen die Mitte zwischen
- Klavierlied und
- Orchesterlied,
also zwischen traditionellem Klavierlied seit der Wiener Klassik und dem nach 1830 aufkommenden Orchesterlied. Grundlegend für diese Gattung ist die Kombination Solostimme und variable Ensembles bzw. kammermusikalische Besetzungen, also Ensembles ohne chorische Stimmverdopplungen wie beim Orchester. Einfachheit als Eigenschaft von „Lied“ relativiert sich dabei oft.
SCHÖNBERGs Kammermusiklieder
Prototypen des Kammermusiklieds schuf ARNOLD SCHÖNBERG (1874–1951) mit
- „Herzgewächse für hohen Sopran, Celesta, Harmonium und Harfe“ op. 20 (symbolistisch-jugendstilhafter Text von MAURICE MAETERLINCK, 1911) sowie
- „Pierrot lunaire“. Die sowieso schon bunte Farbigkeit der Besetzung wird durch einige Ergänzungen bzw. Alternativen je nach Einzelnummer noch erweitert (z.B. Flöte oder Piccoloflöte). Komponiert ist der „Pierrot“ für Sprech-Stimme, Klavier, Flöte (auch Piccolo), Klarinette (auch Bassklarinette), Violine (auch Viola) und Violoncello op. 21 (Gedichte von ALBERT GIRAUD, deutsch von OTTO ERICH HARTLEBEN, 1912).
SCHÖNBERG spricht von „Gesängen“ und verwendet überdies eine spezielle Zwischenform zwischen Singen und theatralischem Sprechen mit exaktem Rhythmus, aber nur angedeuteten Tonhöhen. Das Werk ist also auch darin recht neuartig – hier verbindet SCHÖNBERG
– Melodram,
– französischen Cabaret-Chanson bzw.
– deutsche Variante des „Brettllieds“.
Dass SCHÖNBERG 3 mal 7 aus einem umfangreicheren Gedichtzyklus auswählt, diesen 21 Gesängen die Opuszahl 21 gibt, und auf das Jahr 12 datiert, sei nur am Rande vermerkt.
In der stilistisch vorwiegend rückwärtsgewandten, in aparter Besetzung sowie Technik und Material mit Elementen der Zwölftontechnik progressiven „Serenade für Klarinette, Bassklarinette, Mandoline, Gitarre, Violine, Viola, Violoncello und Bariton“ op. 24 von 1920/1923 kombiniert dann SCHÖNBERG die neue Gattung mit der traditionellen: Der IV. Satz ist ein Petrarca-Sonett.
Die Vielfarbigkeit und Variabilität des „Pierrot lunaire“ wirkt vorbildhaft. Dieser Typus dominiert besonders seit 1945 gegenüber Klavier- wie Orchesterlied. Die Lebensfähigkeit mancher Gattungen in der Praxis der Musikkultur zeigt sich aber daran, dass nach wie vor sowohl Klavier- als auch Orchesterlieder entstehen.
- Die einzelnen Stücke können lose nur gereiht oder zu einer gemeinsamen Opus-Nummer zusammengefasst werden, wie bei ANTON WEBERN (1883–1945) in „3 Volkstexte für Singstimme, Violine/Viola, Klarinette und Bassklarinette“ op. 17 (1924), oder
- sie bilden einen mehr oder minder fest gefügten Zyklus wie im Fall „Pierrot lunaire“ mit einer übergreifenden Dramaturgie, nach dem Vorbild der klassisch-romantischen Liederzyklen.
Mit der Kombination von Solostimme, kleiner Besetzung und der Zusammenfassung mehrerer Lieder ergeben sich Übergänge zur Solokantate bzw. Kammerkantate des Frühbarocks 1620–1640. Diese cantata da camera für Solostimme mit (kammermusikalischer) Generalbassbegleitung bildete den Anfang der italienischen Kantate (Chor und Orchester kamen erst später dazu.) Ein Unterschied bleibt:
- Eine Kantate muss mehrsätzig sein und einen durchlaufenden thematischen roten Faden haben, so dass sie eine übergreifende zyklische Einheit bildet.
- Kammermusiklieder können, aber müssen sich nicht zu solchen Einheiten fügen.
Manchmal heißen denn auch Werke der hier als „Kammermusiklied“ bezeichneten Gattung „Kammerkantate“ oder gar „Kantate“. Besonders HANNS EISLER (1898–1962) schrieb im dänischen Exil 1937 eine ganze Gruppe von mehreren solchen Werken, die heute noch aktuell wirken: u.a. (bis auf eine alle auf Texte von IGNAZIO SILONE)
- „Die römische Kantate“,
- „Kriegskantate“,
- „Die den Mund aufhatten“ (Titel auch: „Kleines Requiem für einen erschossenen Freund“),
- „Man lebt vom einen Tage zu dem andern“ („Kantate im Exil“),
- sowie witzig Legenden kritisierend „Die Weißbrot-Kantate“,
- „Die Zuchthaus-Kantate“ (auf einen eigenen Text EISLERs),
- „Nein für Gesang und Streichquartett“.
Alle diese Kantaten (bis auf „Nein für Gesang und Streichquartett“) sind extrem sparsam besetzt für Gesang, 2 Klarinetten, Viola und Violoncello. In einer späteren „Kantate auf den Tod eines Genossen“ (1949, ebenfalls nach SILONE) variiert EISLER die Besetzung leicht: Gesang mit Flöte, Klarinette, Viola und Violoncello.
Weitere Werke
IGOR STRAWINSKY (1882–1971):
- „Chansons plaisantes“ (Scherzlieder) Pribaoutki für (Männer-)Stimme und Instrumentalensemble (1914);
- Gesangssuite „Berceuses du chat“ („Katzenwiegenlieder“) für mittlere Stimme und 3 Klarinetten (nach russischen Volksliedern, 1915/1916);
ANTON WEBERN (1883–1945):
- 2 Lieder für mittlere Stimme, Klarinette/Bassklarinette, Horn, Trompete, Celesta, Harfe, Violine, Viola und Violoncello op. 8 (RAINER MARIA RILKE, 1910);
- 6 Lieder für hohe Stimme, Klarinette, Bassklarinette, Violine und Violoncello op. 14 (GEORG TRAKL, 1917–1921);
- 5 geistliche Lieder für Sopran, Flöte, Klarinette/Bassklarinette, Trompete, Harfe und Violine/Viola op. 15 (1917–1922);
- 5 Kanons für hohen Sopran, Klarinette und Bassklarinette op. 16 (lateinischer Text, 1923/1924);
- 3 Lieder für Singstimme, Klarinette und Gitarre op. 18 (1925);
PIERRE BOULEZ (1925–2016):
- „Le Marteau sans maître“ („Der Hammer ohne Meister“) für Singstimme, Flöte, Viola, Gitarre, Vibraphon, Xylophon, Perkussion (RENE CHAR, 1952–1955);
ARIBERT REIMANN (* 1936):
- Epitaph für Tenor und 7 Instrumente (PERCY BYSSHE SHELLEY, 1965).
- Ein paradoxer Grenzfall neben mehreren anderen sozusagen „gewöhnlichen“ Kammermusik-Liedzyklen sind die „Attila József-Fragmente“ op. 20 für Sopran solo ohne jede Instrumentalbegleitung (1981) von GYÖRGY KURTÁG (* 1926).
Von den jüngeren Komponisten trug besonders VOLKER BLUMENTHALER (* 1951) zu dieser Gattung bei. Er schrieb u.a.:
- den „Judith-Monolog” für Mezzosopran (Sopran), Viola (Violoncello) und Klavier (OTTO WINZEN, 1968);
- „Las raíces“ – Fragmente aus dem Canto general für Sopran (Mezzosopran), Flöte und Gitarre (PABLO NERUDA, 1992);
- „hoti chronos“ (Offenbarung des Johannes, PETRARCA, HÖLDERLIN, SHAKESPEARE, RIMBAUD, NIETZSCHE, POE, 2004), „ein musikalischer Kommentar zum Apokalypse-Zyklus von MAX BECKMANN“ für Sopran, Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier;
- den Zyklus „Proportionen einer schlanken Frau, Ausrisse“ (ALBRECHT DÜRER, 1990) für Sopran, Klarinette, Bassklarinette, Kontrabass und Schlagzeug;
- den potenzierten, mehrteiligen Zyklus auf Texte mehrerer Dichterinnen und Dichter: „Rooms/Räume – Zyklus/cycle“ mit insgesamt 4 „Büchern“ und leicht variierter Besetzung: Sopran, Flöte, Klarinette, Vibraphon, Violine und Violoncello, teilweise Schlagzeug (1997/1998).
Bei BLUMENTHALER finden sich überdies schließlich einige Gattungsvarianten:
- Reine Sprechstimme – Erklärung einiger Dinge (PABLO NERUDA, 1975) für Sprecher, Flöte, Klarinette, Trompete, Violine, Violoncello und Klavier;
- Kammermusiklied mit mehr als einer Gesangsstimme „Il fiore del deserto – concetti e frammenti“ („Die Blume der Wüste – Einfälle und Fragmente“) für Mezzosopran, Tenor und kleines Orchester (G. LEOPARDI.1992);
- Übergang zum Orchesterlied: „Ziegel aus schwarzem Licht“, Kantate für Sopran und kleines Orchester (2 fl-ob-2 cl-hn-tr-tb-3 perc-2 va-2 vc-cb) (ROBINSON JEFFERS, HANS ARP, 1985);
Mit der zweifachen Besetzung von Flöte, Klarinette, Viola und Violoncello handelt es sich bereits um ein Kammerorchester.
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- Il fiore del deserto – concetti e frammenti
- Celesta
- Der Hammer ohne Meister
- Kammerkantate
- Nein für Gesang und Streichquartett
- RAINER MARIA RILKE
- ALBRECHT DÜRER
- Harmonium und Harfe