Novelle

Begriff

Die Novelle (ital.: novella = Neuigkeit) ist eine Prosaform mittlerer Länge, die sich in der Renaissance in Italien eigenständig herausgebildet hat und modernem, neuzeitlichem Ideengut und realistischer Gestaltungsweise den Boden bereitete.

Historie

Als Prototyp (Urbild) der Novelle gilt GIOVANNI BOCCACCIOs „Decamerone“ (1349/53, dt. um 1473, siehe PDF). Das von ihm kreierte Genre berief sich nicht auf formale Vorbilder in der Antike oder der christlichen Literatur, es speiste sich aus volksliterarischen Wurzeln und der Troubadourslyrik. BOCCACCIO fand die Stoffe für seine 100 Novellen in antiken und orientalischen Vorlagen sowie in seiner unmittelbaren Erfahrungswelt der italienischen Renaissancestädte. Seine lebensnahen Schilderungen von Menschen aller Stände, die realistische Behandlung ernster, philosophischer und heiterer, frivol-erotischer Themen hatten enormen Einfluss auf die europäischen Literaturen. Sie propagierten ein neues Menschenbild und spiegelten das Selbstbewusstsein des bürgerlichen Menschen, der sich nicht mehr vornehmlich als ein Glied der Kirche definierte. Ihre Inhalte orientierten auf flüchtige Sinnes- und Lebensfreude im Diesseits und nicht auf die Aussicht auf Erlösung in einer jenseitigen Ewigkeit.

BOCCACCIO hat nicht allein eine neue literarische Form geschaffen, seine Stoffe haben in mancherlei Bearbeitung in der Literatur fortgelebt. So bildet zum Beispiel das Gleichnis von den drei Ringen in GOTTHOLD EPHRAIM LESSINGs „Nathan der Weise“ das Kernstück der philosophischen und sittlichen Aussage dieses aufklärerischen Dramas. Unmittelbare Nachahmer BOCCACCIOs waren z.B.:

  • in Italien (M. BANDELLO, „Novelle“, 1554/73),
  • in Frankreich (MARGUERITE DE NAVARRE, „Heptameron“, 1558)
  • in Spanien (MIGUEL DE CERVANTES, „Novelas ejemplares“, 1613) sowie
  • im nichtromanischen Sprachraum (G. CHAUCER, „Canterbury Tales“, 1387/1400).

Mit der Aufklärung verbreitete sich die Novelle in ganz Europa. Da sie auf keinen festen Formenkanon festgelegt war, konnte sie neue Stoffe aufnehmen, auf Ereignisse flexibel reagieren und die sich verändernde Wirklichkeit gestalten. Sie bediente sich der Volkssprache und nicht der Sprache der Gelehrten. Ihre Gegenstände fanden die Novellendichter nicht in biblischen Stoffen und höfischen Themen, sondern sie suchten im Alltäglichen das Besondere oder Typische. Nicht „hohe Minne“ wurde gestaltet, sondern Liebe und Sexualität auch in ihrer Gewöhnlichkeit. Nicht die ritterlichen Kämpen des Mittelalters waren ihre Helden, sondern die Edelleute, Kaufleute, Gelehrten, Handwerker und Geistlichen, die die neuzeitlichen Städte bevölkerten. Mit ihren Gegenständen und deren Behandlung befand sich die Novelle im Gegensatz zu den normativen Vorschriften der Nachahmungspoetik, die sich auf ARISTOTELES berief und von den Autoren die Orientierung an den klassischen Mustern der Antike und die idealisierende Typisierung ihrer Gegenstände verlangte.

Für die Verbreitung und Akzeptanz der Novelle in Deutschland waren die SHAKESPEARE-Übersetzungen von Wichtigkeit, denn damit war das Interesse für die Quellen dieser bedeutenden dramatischen Dichtungen geweckt. So enthalten die SHAKESPEARE-Übersetzungen von JOHANN JOACHIM ESCHENBURG (1775–1783) im Anhang die Novellen, die dem englischen Dramatiker als Vorlage dienten.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erwies sich die Novellistik als äußerst produktives Genre, das vielfältige Ausformungen sowohl in die fantastische als auch die mehr realistische Richtung erfuhr. Unter dem Begriff der Novelle firmierten kürzere Erzähltexte, die damals in großer Zahl geschrieben wurden, um das Unterhaltungsbedürfnis breiter Leserschichten zu befriedigen. Die Novelle in ihrer klassischen Ausprägung finden wir im 19. Jahrhundert bei:

  • THEODOR STORM („Immensee“, 1850; „Auf dem Staatshof“, 1859; „Im Schloss“, 1862; „Auf der Universität“, 1863; „Viola tricolor“, 1873; „Aquis submersus“, 1876),
  • GOTTFRIED KELLER („Züricher Novellen“, 1877; „Die Leute von Seldwyla“, 1874, u. a. mit der Novelle Kleider machen Leute , siehe PDF 2 , und „Romeo und Julia auf dem Dorfe“, PDF 3),
  • ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF („Die Judenbuche“, 1842, PDF: siehe dort),
  • MARIE VON EBNER-ESCHENBACH („Dorf- und Schlossgeschichten“, 1883),
  • in der französischen Literatur bei HONORÉ DE BALZAC, GUSTAVE FLAUBERT, PROSPER MÉRIMEÉ, GUY DE MAUPASSANT,
  • in der englischsprachigen bei ROBERT STEVENSON, EDGAR ALLAN POE und JOSEPH CONRAD.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es vor allem THOMAS MANN und HEINRICH MANN, ARTHUR SCHNITZLER („Traumnovelle“, siehe PDF), JOSEPH ROTH, ARNOLD ZWEIG, STEFAN ZWEIG und ANNA SEGHERS, nach 1945 FRANZ FÜHMANN („Kameraden“, 1956) und CHRISTOPH HEIN („Der fremde Freund“, 1982), NINO ERNÉ („Blick aus dem Fenster“, 1946; „Kinder des Saturn“, 1987), EVA ZELLER („Heidelberger Novelle“, 1988) u. a., die die Novelle im strengeren Formverständnis pflegten.
In jüngerer Zeit verwischen sich die Genre-Grenzen der kürzeren Prosaformen mehr und mehr, da insbesondere zwischen Kurzgeschichte und Novelle mitunter schwer zu unterscheiden ist und auch Romane sich des novellistischen Erzählstils bedienen.

Merkmale

So vielfältig wie die Form der Novelle selbst, als so vielfältig und schwierig haben sich die Bemühungen um eine Definition des Genres erwiesen.

  • Evident ist die ursprüngliche Erzählsituation, auf die frühe novellistische Formen sich berufen. Wie in den „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ wird oft ein Rahmen gesetzt, in dem eine oder wechselnde Erzählerfiguren die Geschichten einer Zuhörerschaft zu Gehör bringen. Bei BOCCACCIO ist es eine Gruppe von sieben jungen Damen und drei jungen Herren, die aus Florenz vor der Pest aufs Land geflohen sind und sich an zehn Tagen reihum nach einer festgelegten Ordnung die Geschichten des „Decamerone“ erzählen. JOHANN WOLFGANG VON GOETHE hat in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter“ (1795) auf diese Erzählsituation zurückgegriffen, THEODOR STORM in seinem „Schimmelreiter“ (1888), STEFAN ZWEIG in der „Schachnovelle“ (1941), ANNA SEGHERS in ihrem Roman „Transit“ (engl. 1944, dt. 1948).
  • Als grundlegendes Merkmal der Novelle gilt seit der Aufklärung ihre Kürze und die Einfachheit ihrer Fabel, die sich auf eine Begebenheit und wenige Personen beschränkt im Vergleich zum umfangreicheren Roman mit seiner verzweigten Handlung. Diese elementaren Kennzeichnungen nimmt CHRISTOPH MARTIN WIELAND in seinem Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerey oder Die Abentheuer des Don Silvio Rosalva“ (1764) vor.
  • Für GOETHE war die Novelle die Beschreibung einer „unerhörten Begebenheit“ (zu JOHANN PETER ECKERMANN, 1827), für LUDWIG TIECK ein Wendepunkt, an dem sich das Absolute mit dem Alltäglichen verbindet. Damit ist ein weiteres inhaltliches und gestalterisches Kennzeichen angesprochen. In der Novelle ist ein Vorgang auf ein krisenhaftes Ereignis zugespitzt, in dem sich schlaglichtartig das Schicksal einer Person oder die Tendenz einer Epoche enthüllt. Hinter der herausgehobenen Begebenheit offenbaren sich gewissermaßen tiefere Wahrheiten. Die Handlung ist straff und konzentriert entwickelt, die Zeit gerafft. Die Struktur ist ähnlich wie die des Dramas: Nach einer kurzen Exposition wird die Handlung bis zur Krise entwickelt, sodann verzögert durch retardierende Momente und schließlich zur Lösung oder Katastrophe geführt. HEINRICH VON KLEIST war ein Meister in der Herausarbeitung dieses Spannungsbogens und in der sprachlichen Verdichtung („Das Erdbeben in Chili“, 1806; „Die Marquise von O…“, 1807; „Die Verlobung in St. Domingo“, 1811 u. a.). Die Romantiker überhöhten die „unerhörte Begebenheit“ ins Fantastisch-Märchenhafte und führten sie auch wieder auf die gesellige Situation des Geschichtenerzählens zurück (E. T. A. HOFFMANN, „Die Serapions-Brüder“, 1819–1821).

Die „Falkentheorie“ (siehe PDF): Am Beispiel der Novelle vom Falken, ebenfalls eine Geschichte aus dem „Decamerone“, hat PAUL HEYSE 1871 im Vorwort zu seiner Sammlung „Deutscher Novellenschatz“ sein Modell von der Struktur der Novelle entwickelt, die sogenannte „Falkentheorie“. In jeder Erzählung einer „unerhörten Begebenheit“ sollte sich an ihrem Kulminationspunkt ein „überraschender und wohlbegründeter Umschwung des Schicksals“ vollziehen. Den Falken, den in BOCCACCIOs Novelle ein verliebter Mann seiner Angebeteten als Mahlzeit vorsetzt, nachdem er bereits seinen ganzen Besitz seiner Liebe geopfert hat und womit er sie endlich bekehrt, nimmt PAUL HEYSE als Beispiel eines einzigartigen, starken „Dingsymbols“, das jede Novelle von der anderen unterscheiden soll. PAUL HEYSE war selbst zu seiner Zeit ein sehr erfolgreicher Novellist und machte sich zudem als Herausgeber um das Genre verdient. HEYSEs „Andrea Delfin“ (siehe PDF) ist ein Beispiel für die praktische Anwendung seiner Falkentheorie.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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