URS WIDMER wurde am 21. Mai 1938 in Basel geboren. Sein Vater, WALTER WIDMER (1903–1965), war Gymnasiallehrer und Übersetzer (u. a. „Die Frau von dreissig Jahren“ von HONORÉ DE BALZAC sowie Werke von DENIS DIDEROT, STENDHAL, FRANÇOIS VILLON, GUSTAVE FLAUBERT). Und er war ein Freund von HEINRICH BÖLL.
Sein Elternhaus beschreibt URS WIDMER als „sehr literarisch und links-antifaschistisch“. Auch in der Schule, am Realgymnasium Zürichs, wurde die Liebe des URS WIDMER für Literatur gefördert. Sein Deutschlehrer war der Schriftsteller RUDOLF GRABER.
WIDMER studierte Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel. Für zwei Jahre ging er nach Frankreich, um seine Studien in Montpellier und Paris fortzusetzen. Er war beeindruckt von „Camus und Sartre, weil die so toll aussahen im Café, mit ihrer Gauloise im Mund.“
1966 promovierte URS WIDMER mit einer Arbeit über die deutsche Nachkriegsprosa. Er begann als Verlagslektor im Walter Verlag in Olten und wechselte 1967 zum Suhrkamp Verlag, wo er ebenfalls als Lektor arbeitete. In Frankfurt/Main lebte er siebzehn Jahre lang. 1968 gründete WIDMER mit anderen Lektoren den „Verlag der Autoren“, der „aus einem Konflikt bei Suhrkamp entstanden“ ist, wie er später berichtete.
Seit 1968 ist WIDMER freier Schriftsteller. Er lebt und arbeitet seit 1984 in Zürich. WIDMER ist verheiratet und hat eine Tochter.
Für „NZZ Folio“ der „Neuen Zürcher Zeitung“ schrieb er in den 1990er-Jahren Kurzgeschichten (gesammelt in „Vor uns die Sintflut“, 1998). WIDMER war zeitweise Dozent an der ETH Zürich.
1968 veröffentlichte WIDMER den Debütroman „Alois“. Im Rückblick bekannte der Autor, er habe viel von HANS CARL ARTMANN gelernt, den er 1965 kennengelernt habe und zu dem ihm eine tiefe Freundschaft verband. ARTMANN sei ein „Vater von Alois“ gewesen.
In „Paradies des Vergessens“ schreibt WIDMER vom Verschwinden der Erinnerung. Zugleich ist „Paradies“ eine Satire über den Literaturbetrieb. JEAN PAULs Sentenz „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“ kann dabei als Motto der Erzählung dienen.
Sein Stück „Topdogs“ handelt von Spitzenmanagern, die infolge von Rationalisierungsmaßnahmen in ihren Betrieben selbst arbeitslos werden. Der Titel ist einem Begriff von JOHAN GALTUNG (1971) entlehnt, nach dem die Topdogs jene Machthabenden sind, die an der Spitze einer Feudalstruktur stehen. WIDMER entlarvt die vermeintlichen „Opfer der Marktwirtschaft“ als das systemimmanente Scheitern von Machtpersonen, die auch nach ihrem Fall in die Arbeitslosigkeit lediglich bereit sind, ihr eigenes Scheitern als Intrige anderer Machtmenschen zu betrachten. Das Training der Topdogs in einem Outplacement-Center, mit dem sie wieder fit für den Arbeitsmarkt gemacht werden sollen, bleibt nur Egotrip, das Stück WIDMERs wird auch beim heißesten Bemühen kein Lehrstück, aber es ist beste Satire, bis auf einen zu versöhnlichen Schluss.
Mit „Der Geliebte meiner Mutter“ (2000) und „Das Buch des Vaters“ (2004) legte WIDMER zwei autobiografische Romane vor, die große Beachtung im deutschsprachigen Raum fanden. Über „Der Geliebte meiner Mutter“ bekannte der Autor, ein Buch haben zu wollen, das „ das ganz nahe bei meiner Mutter bleibt“.
Es geht in diesem Buch um die erste große Liebe der Mutter, Clara Molinari, zu einem jungen Dirigenten, Edwin. Sie ist Tochter aus reichem Hause, die nach dem Schwarzen Freitag 1929 plötzlich verarmt. Der Dirigent steht ihr gleichgültig gegenüber, zeigt sich arrogant, beginnt jedoch eine Liebesbeziehung, entscheidet sich aber später für die Tochter aus einem reichen Hause, die reich geblieben ist. Die Mutter heiratet einen anderen, lebt mit ihm und stürzt sich mit 82 Jahren aus dem Fenster. Nie jedoch verwindet sie diese erste Liebe.
Mit seinem Namen auf den Lippen stirbt sie. Ein poetischer Roman, kurzweilig, voller Sympathie für die psychisch kranke Heldin Clara.
In der Schweiz wurde nach dem Jahr 2000 heiß diskutiert, ob der junge Dirigent Edwin identisch sei mit einem berühmten Dirigenten des Landes: PAUL SACHER (1906–1999 ).
Für den Nicht-Schweizer sind die Diskussionen müßig, da er quasi „nicht eingeweiht“ ist in die Schweizer Verhältnisse. Ungeachtet aller dieser Spekulationen um „Dichtung und Wahrheit" (GOETHE) wirkt „Der Geliebte der Mutter“ aus sich selbst heraus, wie jede gute Literatur.
Ungleich spröder wirkt „Das Buch des Vaters“. Der Titel leitet sich von einer Geschichte ab, mit der das Buch öffnet: Karl, der Vater, wandert als Zwölfjähriger durch die Schweiz, vielmehr ins Dorf seiner Vorfahren, also hinein in die Tradition. Dort sind alle um die Kirche versammelt. Sie erwarten die Initiation des Zwölfjährigen, die Aufnahme des Kindes in den Kreis der Erwachsenen und schenken ihm ein leeres schwarzes Buch. Dies wird am Ende seines Lebens vollgeschrieben sein, vielleicht. Nachgeprüft werden kann das nicht, die Mutter hat das Buch nach dem Tod des Vaters in den Müll geworfen. Karl geht in die Wirklichkeit zurück, in die moderne Schweiz, und so wirkt er auch: wie ein Bindeglied zwischen Überlieferung und modernem Alltag, zwischen Tradition und Moderne. Er lernt in den Dreißiger-, Vierzigerjahren die Bohéme der Schweiz kennen, die Künstler und Schriftsteller. Und darum dreht sich ein Leben: um Literatur und Wirklichkeit.
Für seine Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele hat URS WIDMER diverse Auszeichnungen erhalten, u. a. den Heimito von Doderer-Preis (1998), Ehrengabe des Kantons Zürich (2000), Werkbeitrag der Pro Helvetia (2000), Literaturpreis der Stadt Graz/Franz Nabl-Preis (2001), den Bertolt-Brecht-Preis (2001) der Stadt Augsburg.
Er wurde als Autor geehrt, der „sich durch die kritische Auseinandersetzung mit der Gegenwart in ihrem literarischen Schaffen ausgezeichnet hat“. In Augsburg ehrten ihn die Juroren, „weil er in seinen Arbeiten Zeit- und Gesellschaftskritik in ironisch-satirischer Form übt“ und in seiner schriftstellerischen Arbeit „in hohem Maße Eigenständigkeit mit Sprachartistik verbindet“.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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