Militarismus – Flottengesetze – Flottenbau

Strategiewechsel in der deutschen Außenpolitik

Mit der Entlassung des Reichsgründers OTTO VON BISMARCK 1890 änderte sich auch die klassische preußisch-deutsche Außenpolitik grundlegend. Diese war unter BISMARCK Jahrzehnte auf den Ausgleich der Kräfte zwischen den europäischen Großmächten und die außenpolitische Sicherung Preußens gerichtet gewesen.
Nach dem Willen des jungen deutschen Kaisers, WILHELM II., sollte das Reich nun aber aus seiner Beschränkung auf Europa befreit werden und Weltgeltung erlangen.
In einer Rede vor dem Reichstag im Dezember 1897 kennzeichnete der spätere Reichskanzler Fürst VON BÜLOW diese deutsche Weltmachtstreben als das Erreichen eines „Platzes an der Sonne“; eine Wendung, die zum geflügelten Wort werden sollte.
Der „Platz an der Sonne“ war von da an der Kern eines neuen außenpolitischen Programms der Zukunft, das von WILHELM II. als „Neuer Kurs“ bezeichnet wurde. Diese Programm konnte allerdings nur verwirklicht werden, wenn sich das Reich auch außerhalb Europas engagierte.

Das Flottenbauprogramm und seine Folgen

Für die angestrebte politische und wirtschaftliche Weltmachtstellung Deutschlands waren die Fähigkeit, als Seemacht zu agieren, und folglich der Besitz einer entsprechenden Flotte unabdingbar.
Diese Überlegungen des Kaisers und seiner Regierung mündeten in ein Flottenbauprogramm, das ab 1897 von Admiral TIRPITZ vorangetrieben wurde.

Admiral TIRPITZ

ALFRED VON TIRPITZ wurde 1849 als Sohn eines Juristen und einer Arzttochter geboren und trat als 16-Jähriger in die Marine ein. Die Marine galt zu dieser Zeit als liberale Waffengattung, weil sie im Unterschied zum Heer nicht verlangte, dass ihre Offiziere dem Adel angehören mussten.
Nach dem Deutsch-Französischen Krieg stieg TIRPITZ rasch in der Hierachie der Marine auf. Schon 1887 kommandierte er die Torpedoboot-Flotille, die Prinz WILHELM von Preußen, den späteren Kaiser WILHELM II., zum Thronjubiläum von Königin VIKTORIA nach England begleitete. Auf der Überfahrt führte er lange Gespräche mit dem Prinzen über die deutsche Flotte.
TIRPITZ' Worte mussten bei WILHELM tiefen Eindruck hinterlassen haben, denn auch nach seiner Thronbesteigung im Jahre 1890 hatte der Kaiser TIRPITZ nicht vergessen. 1892 wurde TIRPITZ zum Stabschef beim Oberkommando ernannt und bekam vom Kaiser persönlich den Auftrag, die taktische Arbeit der Hochseeflotte weiterzuentwickeln.
Am 31. März 1897 wurde TIRPITZ schließlich zum Staatssekretär im Reichsmarineamt berufen. Das Deutsche Reich besaß zu diesem Zeitpunkt nur sechs hochseefähige Panzerschiffe erster Klasse. Damit stand Deutschland weltweit unter den Seemächten erst an fünfter Stelle, obwohl es inzwischen zur zweitgrößten Handelsmacht der Welt geworden war.

Das Flottengesetz

Besessen von der Idee, als sichtbares Zeichen deutscher Weltmachtstellung eine starke Flotte aufzubauen, machte TIRPITZ das Marineamt zur Propagandazentrale seiner Flottenpläne. Mit Vorträgen, Veranstaltungen und Werbeschriften wurde eine Werbekampagne gestartet, an der sich Universitätsprofessoren, Marineoffiziere und der von TIRPITZ gegründete Deutsche Flottenverein beteiligten. Die Werbekampagne entfachte in der deutschen Bevölkerung eine riesige Marinebegeisterung, die auch die Reichstagsmitglieder erfasste.
So passierte das von TIRPITZ 1898 eingebrachte Flottengesetz den Reichstag ungehindert. TIRPITZ hatte das Gesetz vor dem Reichstag mit dem Argument begründet, die deutschen Handelsinteressen in der Welt müssten durch eine starke Flotte geschützt werden.

Auch die zum Ausbau der Schlachtflotte benötigten und für die damalige Zeit riesigen Etatsummen in Höhe von 400 Millionen Reichsmark wurden vom Reichstag bereitwillig genehmigt. Mit diesen Geldern sollte die Reichsmarine auf eine festgesetzte Stärke von

  • 19 Schlachtschiffen,
  • 8 bewaffneten Küstenbooten,
  • 12 großen und 30 kleinen Kreuzern

gebracht werden. Ergänzt werden sollte diese Flotte durch eine Hilfsflotte von zahlreichen Torpedobooten, Schul- und Spezialschiffen.
Zwei Jahre später nahm TIRPITZ die veränderte Situation im Fernen Osten, u. a. den chinesischen Boxeraufstand und den Burenkrieg in Südafrika zum Vorwand, eine Ergänzungsvorlage zum Flottengesetz durch den Reichstag zu bringen. Diese sah eine Verdoppelung der geplanten Anzahl von Schlachtschiffen in kürzester Zeit vor.

Speerspitze gegen Großbritannien

Trotz anderslautender Begründung vor dem Reichstag, für TIRPITZ selbst war jedoch Großbritannien der eigentliche Hauptgegner des Deutschen Reiches, der seinem Streben nach Weltgeltung im Wege stand. In einer Denkschrift an den Kaiser hatte TIRPITZ bereits am 15. Juli 1897 eindeutig Großbritannien als Hauptgegner benannt und angemerkt, die Flottenmacht müsse als politischer Faktor gegen England eingesetzt werden.
Das konnte aber nicht in aller Öffentlichkeit ausgesprochen werden, um das Verhältnis zu Großbritannien nicht zu stark zu belasten. So versicherte der damalige Reichskanzler HOHENLOHE den Abgeordneten des Reichstages, dass es nicht die Absicht der Reichsregierung sei, andere Mächte herauszufordern.
TIRPITZ hatte in der erwähnten Denkschrift auch schon die militärische Strategie gegen England umrissen:
Danach müsse Deutschland in seinen Heimatgewässern eine Flotte besitzen, die in der Lage wäre, die Heimatflotte Englands im Falle eines Krieges anzugreifen. Die britische Regierung wäre dann gezwungen, Flottenverbände aus dem Fernen Osten und dem Mittelmeer abzuziehen und ihre dortigen Besitzungen schutzlos zurückzulassen.
Je stärker die deutsche Flotte würde, umso klarer müssten die Engländer erkennen, dass es vorteilhafter für sie sei, Konflikte mit Deutschland zu vermeiden. Eine solche Verständigung würde auch die Position Deutschlands in Europa stärken.

Folgen der Flottenrüstung

Das strategische Ziel des Flottenbauprogramms, Deutschland zu sicheren Küsten und zu starkem internationalen Einfluss zu verhelfen, unterlag mehreren Fehleinschätzungen:

  • Einmal überschätzte man die deutsche Finanzstärke maßlos.
  • Gleichzeitig ging man aber davon aus, dass das englische Volk in gleicher Situation nicht bereit sei, die Kosten für den Erhalt der britischen Überlegenheit als Seemacht aufzubringen (Text1).
  • Zum anderen war man in deutschen Führungskreisen völlig blind für die Möglichkeit, dass sich Großbritannien andere Seemächte zum Bündnispartner wählen könnte, wodurch dann die ganze deutsche Strategie überholt wäre.

Das Flottenrüstungsprogramm hat außerdem maßgeblich zur Verschlechterung des deutsch-britischen Verhältnisses beigetragen. War das erste Flottengesetz von 1898 von der britischen Regierung noch relativ gleichmütig aufgenommen worden, so sorgte das zweite Flottengesetz von 1900 für eine lebhafte Beunruhigung in der britischen Öffentlichkeit.
Bei vielen Briten tauchte der begründete Verdacht auf, dass Deutschland, welches ohnehin schon über das stärkste Feldheer in Europa verfügte, nun auch noch die größten Flotte besitzen wollte. Dazu kam ein immer stärker werdendes Misstrauen der britischen Regierung bezüglich der Aufrichtigkeit der Freundschaftsbeteuerungen, die sie Jahr für Jahr aus Berlin zu hören bekam, ohne dass diesen entsprechende Taten folgten.
Den Tiefpunkt erreichten die deutsch-britischen Beziehungen dann 1901, als in London Verhandlungen am Ungeschick eines deutschen Diplomaten scheiterten. Das Scheitern der Gespräche verstärkte nicht nur das Misstrauen, sondern auch die Entfremdung zwischen beiden Großmächten.
Als Folge dieser Entfremdung wandte sich die britische nun anderen möglichen Bündnispartnern zu. Dies führte zunächst zur britisch-japanischen Allianz. 1904 kam es dann auch zum Bündnis mit Frankreich, der Entente Cordiale.
Die deutsche Politik, die eigentlich auf den Erhalt guter Beziehungen zu Großbritannien und Russland abzielte, war damit kläglich gescheitert. Mit seiner Flotten- und Außenpolitik hatte das Deutsche Reich England regelrecht in die Arme Frankreichs getrieben.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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