Der neue innenpolitische Kurs

Die Zäsur - Die Entlassung BISMARCKS 1890

1888 bestieg der erst 29-jährige Enkel von WILHELM I. als Kaiser WILHELM II. den deutschen Thron. Der junge Kaiser verehrte BISMARCK als Reichsgründer und als Gestalter der Reichspolitik. Voller Tatendrang und Selbstbewusstsein wollte er aber selbstständig Politik betreiben, so dass es schon bald zu Auseinandersetzungen mit BISMARCK kam. Betrafen diese zunächst nur Nebensächlichkeiten, gab es zwischen den Beiden jedoch schon recht bald grundsätzliche Differenzen in der Sozial- und Außenpolitik. In der Außenpolitik befürwortete BISMARCK eine Verlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland, in der sich immer mehr verschärfenden Arbeiterfrage trat er für eine Verlängerung des Sozialistengesetzes ein. Vor allem über diese Frage kam es zum Zerwürfnis zwischen Kaiser und Reichskanzler. Dies ging so weit, dass WILHELM II. BISMARCK dazu veranlasste, sein Rücktrittsgesuch einzureichen. Die Entlassung des Kanzlers erfolgte am 20. März 1890.

„Der Lotse geht von Bord “– zeitgenössische Karikatur

„Der Lotse geht von Bord “– zeitgenössische Karikatur

Der „Neue Kurs“ unter WILHELM II.

Nach der Entlassung des Reichskanzlers OTTO VON BISMARCK verkündete WILHELM II. zunächst, dass er den bisherigen bewährten Kurs in der Politik fortsetzen werde. Jedoch zeigte es sich schon bald, dass es in der Innenpolitik zu grundlegenden Veränderungen kam, die als „Neuer Kurs“ bezeichnet wurden.
Diese Veränderungen standen im Zusammenhang mit dem „persönlichen Regiment“ des Monarchen. Der Kaiser war entschlossen, die Regierungsgeschäfte selbst zu führen. Der neue Kanzler sollte nicht mehr die Handlungsspielräume besitzen, die BISMARCK bei seinen Vorgängern hatte.
WILHELM II. war jedoch im Grunde unsicher und in seinen Entscheidungen oberflächlich und sprunghaft. Er ließ sich sehr leicht von Meinungen seiner Berater und Freunde beeinflussen. Sein „persönliches Regiment“ war in Wirklichkeit eine Herrschaftsform, in der unterschiedliche, oft miteinander rivalisierende Interessen- und Mächtegruppen auf den Monarchen einwirkten und so den Kurs der Politik bestimmten. Dies konnten Vertreter einflussreicher Interessenverbände sein, aber auch starke Persönlichkeiten wie der Admiral VON TIRPITZ.
Dies führte zu einem unsteten Element in der Politik der Reichsregierung, so dass keine klare Linie zu erkennen war. Dies lag auch am mangelnden Format der Kanzler dieser Zeit, die nicht in der Lage waren, gegenüber WILHELM II. souverän einen geraden Regierungskurs zu steuern.

Die soziale Frage

Den Zeitgenossen erschien der junge Kaiser anfänglich als ein den Entwicklungen der modernen Technik aufgeschlossener Monarch, der von sozialen Ideen erfüllt war. Er wandte sich auch zunächst durchaus engagiert der Frage des erweiterten Arbeiterschutzes zu. Jedoch zeigte es sich schon bald, dass ihm das wirkliche Verständnis für die soziale Problematik und die Situation der Arbeiterschaft fehlte.
WILHELM II. legte eine umfangreiche Arbeiterschutzversicherung vor. Sie beinhaltete

  • ein generelles Verbot der Sonntagsarbeit für Kinder und der Fabrikarbeit für Kinder unter 13 Jahren.
  • Die Arbeitszeit wurde für Frauen auf elf Stunden täglich begrenzt, für Jugendliche unter 16 Jahren auf zehn Stunden.
  • In einem betrieblichen Streit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern sollten künftig Gewerbegerichte schlichten.

Mit diesem sozialen Reformprogramm, das weit hinter den großartigen kaiserlichen Ankündigungen zurückblieb, sollte die Masse der Industriearbeiter von der Sozialdemokratie getrennt und mit dem Staat versöhnt werden. Als sich aber die Arbeiterschaft nicht von der Sozialdemokratie entfremden ließ und die Sozialdemokratische Partei ihre Opposition gegen die Regierung nicht aufgab, verlor der Kaiser schon bald wieder jegliches Interesse an der sozialen Frage.
Die Regierung kehrte zurück zur bereits unter BISMARCK praktizierten Politik der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Sozialdemokratie. Das Unwort „Vaterlandsverräter“ für Sozialdemokraten war bald in aller Munde. Mit immer neuen Gesetzesvorlagen, wie etwa der Umsturzvorlage 1894, wurde versucht, die antisozialistischen Maßnahmen aus der Bismarckzeit in noch extremerer Form wiederzubeleben.
Sehr häufig mischte sich WILHELM II. auch direkt ein, wobei die Gewalttätigkeit seiner öffentlichen Erklärungen selbst viele seiner Beamten erschreckte. Seinen Höhepunkt erlebte diese Einmischungspolitik des Kaisers im Jahr 1899. Auf sein Drängen hin sollte das preußische Staatsministerium ein neues Gesetz zum Schutz der Arbeit vorbereiten. In einer unprogrammgemäßen Rede erklärte WILHELM dazu, dass das Gesetz Bestimmungen enthalten werde, die jedem eine Gefängnisstrafe androhten, der einen arbeitswilligen Arbeiter von der Arbeit abhalten oder ihn gar zum Streik verleiten würde. Im August 1899 kam diese „Zuchthausvorlage“ vor den Reichstag und wurde von diesem niedergestimmt.
Die Einmischungen des Kaisers erreichten somit das Gegenteil ihrer ursprünglichen Absichten. Denn es war klar, dass der Reichstag nach dem Scheitern der Zuchthausvorlage 1899 auch keinen weiteren Sondergesetzen gegen die Sozialdemokratie mehr zustimmen würde.
Folge der kaiserlichen Politik war aber auch, dass sich der zwischen der Arbeiterschaft und dem Rest der deutschen Gesellschaft seit 1878 bestehende Graben immer mehr vertiefte und die Verbitterung unter der Arbeiterschaft immer weiter wuchs.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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