Sigmund Freiherr von Herberstains Bericht über Moskowien

Renaissance-Diplomat als Gesandter bei WASSILIJ III.

SIGMUND FREIHERR VON HERBERSTAIN, NEYPERG UND GUETTENHAG (1486–1566) war ein gelehrter Renaissance-Diplomat, der den Humanisten nahestand. Er war einer der Ersten, die eine diplomatische Mission dazu nutzten, Land und Volk umfassend zu beobachten und zu studieren, um so aus eigener Erfahrung Verlässliches über Moskowien mitzuteilen.
Der österreichische kaiserliche Gesandte weilte 1516/17 und 1526 im Auftrag MAXIMILIANS I. bzw. KARLS V. bei Großfürst WASSILIJ III. (BASILIUS), dem Vater IWANSs DES SCHRECKLICHEN. Das Ziel seiner Gesandtschaftsreise nach Moskau bestand darin, einen Frieden zwischen Russland und Polen zustande zu bringen. Für Westeuropa war Russland zu dieser Zeit eine der terrae incognitae am Eismeer.

Erste umfassende Kunde von Moskowien

HERBERSTAINS Beschreibung der Stadt Moskau und des ganzen russischen Landes ist eine der bemerkenswertesten Reisebeschreibungen des 16. Jahrhunderts. In seiner „Moskowia“ brachte der habsburgische Diplomat, der in Slowenien geboren wurde und neben Deutsch das Südslawisch seiner Heimat beherrschte, Russisch allerdings nur teilweise verstand und so auf Dolmetscher und Übersetzer angewiesen war, den Westeuropäern die erste umfassende Kunde vom russischen Großfürstentum. Dieses hatte sich von über 200-jähriger tatarisch-mongolischer Fremdherrschaft befreit und war seit 1480 auf dem Wege, die russischen Fürstentümer und Teilfürstentümer zu einem nationalen Staate zu vereinen.

Lateinisch und Deutsch

Die lateinische Erstausgabe des Berichtes über Moskowien erschien 1549 in Wien. Acht Jahre später folgte ebendort eine deutsche Ausgabe, die HERBERSTAIN selbst aus dem Lateinischen übersetzte. Populär wurde eine deutsche Übersetzung, die 1563 in Basel von dem Arzt und Historiker HEINRICH PANTALEON unter dem Titel „Moscoviter wunderbare Historien“ herausgegeben wurde.

Gesehenes und Gehörtes

HERBERSTAIN berichtete in seiner „Moskowia“ von Land und Leuten, ihrer Geschichte und dem, was er als russische Gegenwart wahrnahm. Er schilderte das Leben am Hofe und beschrieb das russisch-orthodoxe Christentum. Er teilte mit, was er über die Geografie Russlands wusste und auch, was ihm erzählt wurde über die Länder und die darin lebenden Völker, die im Osten und im Norden an Russland grenzten. HERBERSTAIN hörte auch sagen vom Reichtum des Landes Sibir, das man erreichen konnte, wenn man über die Kama setzte und den Ural überwand. Das Chanat Sibir war ähnlich wie die Chanate Kasan und Astrachan ein Land, das nach dem Zerfall des mongolischen Reiches der Goldenen Horde übrig blieb.

Quelle für Historiker und Geografen

Die „Moskowia“ war ein Kind ihrer Zeit, mit Spuren zeitbedingter Fantastereien und (Noch-)Nicht-Wissens. Doch schildert der Bericht weitgehend sachlich Moskowien, wie HERBERSTAIN es vorgefunden und was man ihm von dem Land der Russen und seiner Geschichte erzählt hatte. HERBERSTAINS Buch spielte geradezu eine Vorreiterrolle in Bezug auf die Vermittlung von Wissen über das damalige Russland. Im 16. Jahrhundert war die „Moskowia“ das verlässlichste Dokument über Russland in Mitteleuropa. Auf HERBERSTAIN beriefen sich Historiker, Statistiker und Geografen der damaligen Zeit, seine Angaben fanden sich in Geschichtsbüchern und Atlanten wieder. In den nächsten Jahrzehnten gab es keine Reiseliteratur über das östliche Europa, die sich nicht auf HERBERSTAINS „Moskowia“ stützte.
Und als Engländer und Holländer seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts versuchten, einen nördlichen Seeweg nach China zu finden, so waren diese direkt oder zumindest indirekt angeregt von der herberstainschen Beschreibung der Gebiete jenseits des Urals, deren Eroberung Russland noch bevorstehen sollte.

Flüsse, Meere und Gebirge

HERBERSTAIN war es, der zum ersten Mal außerhalb Russlands nähere Informationen verbreitete über den Verlauf der Flüsse Don und Wolga sowie darüber, wie das Weiße Meer mit dem Nordpolarmeer zusammenhing. Dabei sprach er vom „Don, dem hochberühmten Fluss, der Europa von Asien trennt“, und kommt daher auch zu dem Schluss: „Wenn Moskau nicht in Asien liegt, so liegt es doch ganz an der Grenze, wo Europa an Asien reicht.“

Von HERBERSTAIN erfuhr Mitteleuropa Konkreteres über das Uralgebirge, das, wie wir heute wissen, Europa von Asien trennt. HERBERSTAIN berichtete über die großen sibirischen Flüsse Ob und Irtysch, über die man in Mitteleuropa nicht eben viel wusste.

Die Stadt Moskau

Für einen Mann, der aus der Mitte Europas kam, lag die Stadt Moskau, verglichen mit den anderen Städten des Nordens (aus Wiener Sicht war und ist Moskau eine nördliche Stadt), „sehr weit nach Osten hinaus“. Das war leicht zu bemerken, da die Sonne den Reisenden

„morgens gewöhnlich entgegen und in die Augen schien. Denn von Wien aus zogen wir geradezu nach Krakau und von da zuerst einen Weg von etwa hundert Meilen nach Norden, dann aber immer nach Osten gewandt.“

Die Stadt Moskau selbst wurde von HERBERSTAIN so beschrieben:

„Der weite Umfang der Stadt macht auch, daß sie gar keine bestimmte Grenze hat, sie ist auch weder mit Mauern, noch Graben, noch Zinnen künstlich befestigt. ... einen großen Teil der Stadt umfließt die Moskwa, und in sie mündet auch am Rande der Stadt die Jausa, die hohe Ufer hat, daß man nicht an vielen Orten hinübergelangt. ... Durch ihre Flüsse ist die Stadt doch ein wenig befestigt. Sie hat von Stein nur wenige Häuser, dazu Kirchen und Klöster, sonst ist alles von Holz erbaut.“

Unmittelbar nach der Befreiung von tatarisch-mongolischer Fremdherrschaft entstanden im Moskauer Kreml viele kirchliche und weltliche Bauten, u. a. die Kremlmauer in ihrer heutigen Gestalt.

Völker „mahometischen“, d. h. islamischen Glaubens

In der Tat, allzu weit war es nicht von Moskau bis nach Asien. Denn wohl nur hundert Meilen von Moskau entfernt lag Niederneugarten, wie HERBERSTAIN den Namen der Stadt verdeutschte. Die Russen nannten und nennen sie wieder Nishni Nowgorod (in der Zeit von 1932 bis 1991 hieß sie Gorki). In der Schilderung HERBERSTAINS war das

„eine große Stadt von Holz mit einer Burg, die Basil, der jetzt herrscht, aus Stein und mit Mauerwerk auf einen Felsen gebaut hat, wo die zwei Wasser Wolga und Oka zusammenfließen. ... Hier ist nun das Ende des christlichen Glaubens nach Sonnenaufgang.“

Zwar besäße der Moskauer Fürst noch eine Burg über Neugarten hinaus, doch lebten in dem Gebiet dazwischen

„Völker, Czeremissen genannt, die nicht Christen, sondern mahometisch sind. Ferner sind dort noch andere Völker, Mordwa geheißen, mit den Czeremissen vermischt, die bewohnen einen guten Teil des Landes“ rechts der Wolga flussabwärts.“

Tscheremissen wurde früher das Volk der Mari genannt. HERBERSTAIN erkannte, dass die Bevölkerung Russlands ein Vielvölkergemisch darstellte, wie auch die Tataren „viele unterschiedliche, weit auseinanderliegende Nationen“ waren, die allein ihr religiöser Glaube einte.
Südlich von Moskau erstreckte sich bis zum Dnepr das Großfürstentum Sewera.

„Es hat weite, verlassene Steppen, um Bransko aber einen mächtigen Wald. Viele Burgen und Städte sind dort: Starodub, Potiwlo, Czernigow sind die namhaftesten. Wo das Land bebaut wird, trägt es reichlich Frucht; in den Wäldern gibt es Honig die Fülle, Hermelin, Feh und Marder. Das Volk ist aus der täglichen Übung gegen die Tataren geschickt zum Kriege.“

Das Fürstentum Smolensk westlich von Moskau lag inmitten großer Wälder, „aus denen man Pelzwerk und besonders viel guten Honig gewinnt“.

Nowgorod

Als Stadtrepublik und nördlichstes Mitglied der Hanse war Nowgorod, die Stadt am Fluss Wolchow, deutschen Kaufleuten gut bekannt, die bereits Ende des 12. Jahrhunderts dort einen Kaufhof besaßen. (Die Stadt Nishni Nowgorod, von der bereits die Rede war und deren Name so ähnlich lautet, liegt an der Wolga.)
„Solange die Stadt in ihren Freiheiten stand“, d. h. bevor Iwan III. Nowgorod unterwarf,

„hatte sie ein großes, weites Gebiet, das meiste nach Nord und Ost. Es war in fünf Teile geteilt, und jeder Teil hatte seine zuständige Obrigkeit in der Stadt, wo man Recht und Bescheid in allgemeinen und besondern Sachen holte. Von diesen Obrigkeiten oder Magistrat ging keine Angelegenheit weiter. Auch konnte jeder Bürger allein in seinem Stadtteil seinen Handel treiben und wider seine Mitbürger Recht erlangen. Zu der Zeit wurden große Gewerbe-Niederlagen von Kaufleuten aller Länder da gehalten; es war der große Handelsplatz von ganz Russland, daher auch die Einwohner reich wurden. Ja noch zur Zeit, als ich dort war, gab es dort deutsche Kaufleute, Händler und Factores; sie haben einen Schlitten, auf dem ich von Augsburg bis dahin gefahren war, von mir zum Andenken erbeten, ihn in die Kirche zu setzen.“

Über den Handel

„Es steht auch nicht jedem Kaufmann frei, mit seinen Waren nach Moskau zu kommen, von den Christen fast niemanden, außer den Liten und Polen und die dem Polenreich untertan sind. Die andern wie Deutsche, Dänen, Schweden, Liven und Hanseaten aus den Seestädten haben ihre Handlungen und Niederlagen zu Großneugarten, da halten sie ihre Factores das Jahr über. Aber wenn zu Chlopigorod Markt gehalten wird, so kommen dahin die Händler vieler Völker, Deutsche, Moskowiter, Türken, Tataren, Vertreter der Völker im äußersten Schweden und wilde Lappen vom Eismeer, dazu allerlei Gesindel; daselbst ist es üblich, daß mit Silber oder kleinen Münzen gehandelt wird, der Wert des Goldes ist da noch gering. Aber die großen Kaufleute, die aus Moskowien oder den deutschen Ländern dahin reisen, um einige bestimmte Waren, wie Zobel- und Hermelinpelze, einzuhandeln, die tauschen dagegen Röcke, Hüte, Messer, Löffel, Nadeln, Garn, Beile, Spiegel und dergleichen, da die Währung ihrer Heimatgegenden dort nicht gebräuchlich ist.
Wenn Botschafter aus Litauen oder den Nachbarländern nach Moskau reisen, so nehmen sie überall Kaufleute in ihrer Gefolgschaft und Schutz mit, und dann können die frei und ohne Zölle nach und von Moskau gehen. So auch, wenn der Moskowiter Botschafter schickt, ziehen ebenso ihre Kaufleute mit, so daß oft achthundert, tausend, zwölfhundert Pferde mit einer Botschaft kommen.“

Chlopigorod war ein berühmter Handelsplatz im 16. Jahrhundert. Bisher konnte nicht sicher bestimmt werden, wo er lag.

Reichtum an Pelzen

Deutsche und andere westeuropäische Kaufleute haben sicher mit großem Interesse vernommen, was HERBERSTAIN über den Pelzreichtum Moskowiens zu berichten wusste:

„Unter den Pelzen ist große Verschiedenheit. Bei Zobel zeigen die langen, ganz schwarzen, dichten Haare, daß sie gut ausgewachsen sind. Wenn sie zur besten Zeit – so hält man es auch bei den anderen Pelzen – gefangen werden, erhöht es den Wert. ...
Hermelinfellchen bringt man gleichfalls von vielen Orten, doch werden die meisten Käufer mit ihnen betrogen. Sie haben bestimmte Zeichen an Kopf und Schwanz, an denen man erkennt, ob sie zur richtigen Zeit gefangen sind. ...
Fuchspelze, namentlich die schwarzen, wovon man gewöhnlich die Bräm um die Kolpaken, ihre Hüte, macht, sind sehr teuer. ...
Feh oder Grauhörnchen bringt man auch aus vielen Gegenden ... Die besten und erlesenen bringen die Kaufleute nach Deutschland und andern Ländern zu ihrem großen Vorteil.
Luchsfelle sind bei ihnen nicht hoch geachtet; Wolfsfelle dagegen werden seit der Zeit, da jedermann in Deutschland einen Wolfspelz zu tragen begann, teuer bezahlt. ...
Biber: stehen bei ihnen hoch im Preis ... sie verbrämen alle ihre Schauben [offene Mäntel] und Pelzröcke damit am Kragen und den vorderen Saum hinunter ...“

Als Abschiedsgeschenk erhielt HERBERSTAIN

„ein goldenes Kleid mit Zobel gefüttert ... Außer der Schaube von Gold und Zobel gab der Fürst jedem von uns zweimal vierzig Zobel-, dreihundert Hermelin- und fünfzehnhundert Fehenpelze oder Grauwerke. Auf meiner ersten Reise hat er mir außerdem noch einen Schlitten gegeben, dazu eine große weiße Bärenhaut ...“

Von Orscha nach Smolensk

Im Frühjahr waren Überschwemmungen nichts Ungewöhnliches. Da der Schnee schmolz, der Dnepr über seine Ufer trat und sich auch in seine Zuflüsse „hineinschwellte“, sonst harmlose Bächlein, wurde das Reisen weniger angenehm. HERBERSTAIN schilderte die Schwierigkeiten, auf die er und sein Begleiter in Smolensk trafen – bis Moskau waren es noch etwa 400 km. Sie waren von Orscha gekommen, einer Stadt, die heute im östlichen Belorussland liegt. In Smolensk, heute in Russland nahe der belorussisch-russischen Grenze gelegen, luden sie ihre Sachen auf ein Schiff, das nach Wjasma fuhr. Die Reisenden selbst verließen Smolensk zu Ostern in Richtung Moskau.

„Da aber der Schnee zerging, wurden die Wasser so gewaltig groß, daß bei einem Kloster auf einer kleinen Fischerzille“, einem Frachtschleppkahn, ein Mönch Herberstain und dessen Begleiter „durch die Wälder, die voll Wasser standen, weit bis wieder zur Straße fahren mußte. Da warteten wir, bis unsere Sättel und dergleichen auf derselben Zille nacheinander gebracht wurden. Die Pferde aber mußten wir drei- oder viermal von einem Hügel zum anderen schwemmen. Denn dort sind viele Hügel den Dnepr entlang, und immer zwischen zwei Hügeln rinnt ein Bächlein; die waren aber so groß geworden, da sich der Dnepr in sie hineingeschwellt hatte, daß unsere Pferde dadurch haben schwimmen müssen.“

Über das Eis der Dwina [Düna]

HERBERSTAIN schildert, wie er auf seiner ersten Reise von Dünaburg aus, dem heutigen Daugavpils in Lettland, mit dem Schlitten den Fluss Dwina befuhr. Die Stadt gehörte damals schon den „Livländern“. Den Fluss, der „bei Riga, der Hauptstadt von Livland, in das Deutsche oder Livländische Meer“, d. h. in die Ostsee mündet, nennen die Russen heute Sapadnaja (Westliche) Dwina, die Letten Daugava. Lassen wir uns von HERBERSTAIN über die Schlittenfahrt nach Polotzkow (heute russisch Polozk, belorussisch Polack) berichten.

„Auf dem Fluss bin ich bei der ersten Reise mehr als 12 Meilen im Schlitten stromauf nach Polotzkow gefahren. Dabei kam ich an eine Stelle, wo die Breite des Flusses offen ohne Eis war, bloß die schmale Stelle, wo die eingefahrene Straße ging, hatte sich, durch das Fahren gefestigt, noch zwischen den Wasserflächen hüben und drüben erhalten. Auf fünf Schritte ungefähr war die Breite, grad soviel wie die gewöhnlichen Schlitten faßten; darüber bin ich mit allem Gesinde nicht ohne Sorge gekommen, Gott Lob.“

Auf HERBERSTAINS Russlandkarte ist auch weit im Norden ein Land namens Dwina verzeichnet, auch ein Fluss dieses Namens findet sich dort. Diese Dwina – die Russen nennen sie Sewernaja (Nördliche) Dwina – ergießt sich in das „Mitternächtige Meer“, an dessen Ufern weiße Bären lebten. Man erzählte, es gäbe dort, hinter Schweden und Norwegen, ein Land, das Engronenland hieße. HERBERSTAIN gesteht, er habe von diesem Lande nur gehört, aber niemanden getroffen, der dort gewesen wäre.

Wo liegt das Engronenland?
Dieses geografische Rätsel blieb seit der Antike ungelöst. Ein sagenhaftes, unzugängliches Land, erreichbar nur, wenn man eine Barriere von Eis und Schnee überwand, hatte seinen Platz in den geografischen Vorstellungen der Antike und dann wieder in der Renaissance. Keiner hatte genau gesagt, wo es liegen sollte. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde es immer häufiger am nordöstlichen Rande Asiens vermutet. So war es naheliegend, dieses Engronenland im Uralgebirge zu vermuten. Im 16. Jahrhundert ließ der Name Engronenland zwangsläufig an Grönland denken, obwohl beide Begriffe ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Bei HERBERSTAIN finden wir beide Deutungen. Er lässt sie beide ungeprüft.

Ural oder Grönland?

Östlich des Flusses Petschora, so erfuhr HERBERSTAIN,

„sind hohe Gebirge, die bis an die Küste des Meeres reichen. Das Gebirge ist so hoch, daß es wegen der unaufhörlichen Winde ganz von Gras und Holz entblößt ist. Dieses Gebirge hat an den verschiedensten Orten die unterschiedlichsten Namen, gewöhnlich aber nennt man es des Landes oder Erdreichs Gürtel. ... Dieses Gebirge, das allein in des Großfürsten von Moskau Gebiet gefunden wird, könnte vielleicht das Gebirge Riphei oder Hyperborei sein, von dem viele der Alten geschrieben haben, welches mit ewigem Eis und Schnee bedeckt sein soll und das nur mit der größten Anstrengung zu übersteigen sei, also daß es das unbekannte Engronenland darstellen könnte.“

An einer anderen Stelle in der „Moskowia“ schreibt HERBERSTAIN:

„Das Eismeer reicht über die Dwina hinaus bis zu den Mündungen von Petschora und Ob. Dahinter soll das Engronenland liegen, den schwedischen und norwegischen Landen weit gegenüber. Wegen des Ungestüms der Winde und wegen des Eises fährt man weder dahin noch daher; und über Land sind davor Gebirge, mit ewigem Eis und Schnee bedeckt, daß niemand darüber kann. So bleiben die Engronen von der Gemeinschaft der Menschen abgeschieden.“
Ein ehemaliger Kanzler am dänischen Königshof hatte HERBERSTAIN erzählt,
„wie zu unsern Zeiten einige Personen sich hinübergewagt hätten, die Hälfte wäre mit Schiffbruch verdorben, die Überbliebenen hätten es versucht, über Land herauszukommen, und sollen bis auf einen in dem Eis und Schnee verdorben sein.“

Jenseits der Flüsse Petschora und Schugor

Auch von den Völkern des Nordens hörte HERBERSTAIN.

„Jenseits der Flüsse Petschora und Schugor bis an das Kamengebirge, ebenso bis an das Meer und die benachbarten Inseln und um die Burg Pustosersk leben sehr verschiedene, zahllose Völker, die man mit einem gemeinsamen Namen Samojeden nennt (bedeutet soviel wie ‚sich selbst essend'). ... Die Leute dort sind noch so wild, daß sie die Gemeinschaft der Menschen richtiggehend fliehen und deshalb auch niemals nach Moskowien kommen.“

Groß wie ein Ochs und kurzfüßig wie ein Biber

Ein Walross hatte HERBERSTAIN ganz sicher nicht mit eigenen Augen gesehen.

„Von der Mündung der Petschora berichtet man über seltsame Tiere. Eins, das Mors genannt wird, soll so groß sein wie ein Ochs, hat kurze Füße wie die Biber und ziemlich hohe und breite Brust; oben hat es zwei lange Zähne. Das Tier wohnt im Meer, aber zur Brunftzeit geht es auf die Berge und ruht auch zuweilen dort.“

Diese Tiere ruhten auch auf den großen Eisschollen. „Man fängt sie allein der schönen, weißen Zähne wegen, von denen man schöne Messergriffe macht.“ Man mußte nicht nach Afrika reisen, um Jagd auf Elfenbein zu machen.

Das gefrorene Meer

HERBERSTAIN erkundigte sich in Moskowien über das nördliche Eismeer.

„Ich habe auch mit jedem einzelnen darüber geredet, wie es um das gefrorene oder Eis-Meer stünde, und sie sagten alle wie aus einem Mund, daß in den harten Winterzeiten – indem so viele und große Ströme in dies Meer einlaufen, daß deren Süßwasser das gesalzene weit hinaustreibt – das Meer gefriert, besonders an den Ufern. Doch brechen die Winde das Eis auf dem Meer durch ihr Ungestüm; das Eis dagegen, das sich in den großen Flüssen dick aufkrustet, bricht erst, wenn der Schnee schmilzt; dann hebt und löst das strömende Wasser das Eis vom Gestade und bricht es in große Stücke. Die Stücke treiben hinaus ins Meer und bleiben oft das Jahr über, so daß auch des nächsten Jahres Eis dazukommt und ein Stück sich über das andere legt; so schwimmen dann die Eise von Jahren im Meer. Daraus entsteht den Schiffenden große Sorge ...“

Das Riphäische Gebirge

Riphei-Berge nannte man bereits in der Antike ein sagenhaftes Gebirge, das als unüberwindlich galt. Es trennte die bekannte, vertraute Welt um das Mittelmeer herum vom unwirtlichen Norden. HERODOT, der im 5. Jh. v. Chr. lebte, meinte, dieses Gebirge reiche von Nordspanien bis zum Schwarzen Meer. Je mehr ihre Kenntnisse vom übrigen Europa erweitert wurden, umso mehr verschob sich das Riphäische Gebirge in der Vorstellungswelt der antiken Geografen nach Nordosten. Als ARISTOTELES lebte, im 4. Jh. v. Chr., betrachtete man das Riphäische Gebirge als nördlichsten Punkt der Erde. Das Gebirge wurde, so dachte man, vom Tanais, den wir heute Don nennen, durchschnitten, der das Schwarze Meer mit dem Ozean verband, der die Erde umgab.

Wie das Riphäische Gebirge zum Ural wurde

Seit PTOLEMÄUS (um 90 bis 160) zählte die Kenntnis des Riphäischen Gebirges zum geografischen Grundwissen. Je mehr später die an der Ostsee liegenden Länder erkundet wurden, um so mehr verlagerte sich das Gebirge – im zeitgenössischen geografischen Verständnis – nach Mittelrussland. Auf Karten des 13. Jahrhunderts entspringt der Tanais westlich des Riphäischen Gebirges; die Berge selbst sind als Gebirgszug im rechten Winkel zum Schwarzen Meer abgebildet. Bis zum 15. Jahrhundert rückte das Gebirge noch weiter nach Osten – auf den Karten der Geografen; hier konnte man jetzt eine gewaltige Gebirgskette sehen, die vom Nordufer des Kaspischen Meeres bis zum Ozean im Norden reichte. HERBERSTAIN war es dann, der das russische Uralgebirge mit den Riphäischen Bergen der griechischen und lateinischen Texte identifizierte. Allerdings wussten auch die Russen im frühen 16. Jahrhundert noch nicht, in welcher vollen Länge sich der Ural von Nord bis Süd erstreckte. Deshalb überlieferte HERBERSTAIN so viele verschiedene Namen von Bergen und Gebirgsteilen dieses Gebirgszuges.

See Kitai

HERBERSTAIN hörte von den Flüssen Sibiriens, darunter dem

„aus dem See Kitai entspringenden großen Strom Ob, der so gewaltig und breit ist, daß man ihn auch mit großer Anstrengung an einem Tag kaum überschiffen kann ...“

Von dort, wo der Irtysch in den Ob mündet, sollte man mehr als vier Monate unterwegs sein, bis man den See Kitai erreichte, dem der Ob entsprang.
HERBERSTAIN erfuhr:

„Von diesem See kommen dunkelhäutige Leute, die einer normalen Sprache ermangeln, und verkaufen mancherlei Waren, vor allem Perlen und Edelgestein ...“

Es könnten durchaus Bewohner Chinas gewesen sein oder benachbarter Länder, deren Sprache in russischen Ohren unverständlich, also „unnormal“ klang.
HERBERSTAIN vermerkte noch, der See Kitai habe

„dem ganzen Land den Namen gegeben, und auch die Könige des Landes werden Khan zu Kitai genannt, die Moskowiter aber nennen ihn Khan Kitaiskij; Khan heißt auf tatarisch König ... .“

Noch heute wird China im Russischen Kitai genannt.

Gab es ein zweites Binnenmeer in Asien?

Zu Zeiten der Renaissance hatten sich die Geografen noch nicht von dem Gedanken verabschiedet, es gäbe neben dem Kaspischen Meer ein zweites Binnenmeer in Asien; dieses erhielt den Namen See Kitai. Bereits im 10. Jahrhundert bezeichneten arabische Geografen mit Kitai Nordchina. Der arabische Reisende IBN BATTUTA, der 1324/25 Mittelasien bereiste, bezog den Begriff auf ganz Südsibirien. Südsibirien und China gehörten zum tatarischen Großreich. Die Überlieferung vom See Kitai als Quelle des Ob regte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Engländer und Holländer dazu an, einen direkten Schiffsweg nach China über das nördliche Eismeer, den Ob und den See Kitai zu suchen.

Licht in die Geschichte

Die alten Römer pflegten „ihren Gesandten, die sie an ferne und unbekannte Nationen schickten, auch dies zum Auftrag“ zu geben, „daß sie Sitten, Einrichtungen und die ganze Lebensart des Volks, bei dem sie als Gesandte weilten, sorgfältig niederschrieben“. Das in diesen Schriften vermittelte Wissen diente der „Belehrung der Späteren“. HERBERSTAIN bedauerte, dass „die Menschen unseres oder des wenig zurückliegenden Zeitalters diese Einrichtung“ nicht bewahrt haben, „vielleicht hätten wir dann mehr Licht in der Geschichte, gewiß weniger Hohlheit“.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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