Freiheit oder Gleichheit

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Freiheit zählt zu den wichtigsten Grund- und Menschenrechten. Nach heutigem Verständnis kann beim Freiheitsbegriff zwischen zwei miteinander verbundenen Aspekten unterscheiden werden:

  • Freiheit von etwas, d. h. die Abwesenheit von Zwang und Unterdrückung und die Forderung nach Unabhängigkeit,
  • Freiheit für etwas, d. h. das selbstverantwortliche Handeln (oder Unterlassen) ohne äußeren Zwang.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG) formuliert im Grundrechte-Kapitel drei elementare Rechtsprinzipien:

  • in Art. 2 Abs. 1 GG die allgemeine Handlungsfreiheit und die Freiheit der Person;
  • in Art. 3 Abs. 1 GG die Gleichheit vor dem Gesetz;
  • in Art. 14 Abs. 1 GG die Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht.

In der Geschichte moderner Demokratien, in der Verfassungsrealität, im gesellschaftlichen Alltag stehen sich Freiheit, Gleichheit und Eigentum in einem widersprüchlichen Verhältnis gegenüber.

Historischer Hintergrund

Die Losung aus der Zeit der Französischen Revolution „Liberté, egalité, fraternité!“ – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – gehört seither zum Grundbestand demokratischer Wertvorstellungen. Mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 entstand in Frankreich eine Rechteerklärung, die als Maßstab für das Handeln des Einzelnen und der staatlichen Institutionen gelten sollte.
Im Artikel 1 ist formuliert, dass der Mensch frei und juristisch (nicht tatsächlich) gleich ist. Artikel 6 benennt die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz.
Im Artikel 2 werden „Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstandsrecht“ als „natürliche und unverlierbare Menschenrechte“ fixiert. Schließlich erklärt Artikel 17 das Eigentum für unantastbar. Nur per Gesetz und gegen vorherige Entschädigung kann das Eigentumsrecht im öffentlichen Interesse eingeschränkt werden.

In seinem Hauptwerk über den Wohlstand der Nationen hatte ADAM SMITH (1723–1790) bereits 1776 geschrieben:

„… Kapitalbildung und Industrieentfaltung müssen in einem Lande dem natürlichen Gang der Entwicklung überlassen bleiben. Jede künstliche wirtschaftspolitische Maßnahme lenkt die produktiven Kräfte der Arbeit und auch die Kapitalien in die falsche Richtung (…) Räumt man also alle Begünstigungs- und Beschränkungssysteme völlig aus dem Weg, so stellt sich das klare und einfache System der natürlichen Freiheit von selbst her. Jeder Mensch hat, solange er nicht die Gesetze der Gerechtigkeit verletzt, vollkommene Freiheit sein eigenes Interesse auf seine eigene Weise zu verfolgen und sowohl seinen Gewerbefleiß als auch sein Kapital mit dem Gewerbefleiß und den Kapitalien anderer Menschen in Konkurrenz zu bringen.“ (Nach: Heinz Dieter Schmid; Fragen an die Geschichte 3, Berlin: Cornelsen 1997, S. 149)

Sowohl die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ als auch das Zitat von ADAM SMITH verdeutlichen den ursprünglich engen Zusammenhang des bürgerlichen Freiheits- und Eigentumsbegriffs. Wenn man die Geschichte der Gesellschaftsideen betrachtet, die an die eingangs genannte Losung anknüpfen, dann kann vereinfacht formuliert werden:

  • Vertreter des liberalen Kapitalismus setzen vor allem auf die Freiheit,
  • Sozial und sozialistisch orientierte Vertreter betonen eher Gleichheit (und Solidarität als zeitgemäße Übersetzung von Brüderlichkeit).

Seit den großen Revolutionen in Westeuropa und Nordamerika lag eine zentrale Aufgabe des Staates darin, das Eigentum mithilfe von Gesetzen zu schützen und für deren Durchsetzung zu sorgen. Damit vertrat der Staat vor allem die Interessen der wohlhabenden Bürger, der Eigentümer. Das war eine Konsequenz aus dem Wahlrecht, das anfangs nur freien Männern gewährt wurde, die Eigentum besaßen. Mit der politischen Brisanz der sozialen Frage in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s und der Ausweitung des Wahlrechts auf die so genannten niedrigen Klassen entstanden neue Konfliktlinien. Die arbeitenden Menschen versuchten ihre an den Idealen der sozialen Gleichheit orientierten Interessen gegen die der Kapitaleigentümer und damit gegen deren Freiheitsbegriff durchzusetzen. Es entwickelten sich Gewerkschaften und Parteien, die sich der Durchsetzung sozialer Rechte (Arbeitszeitregelungen, Kranken- und Rentenversicherung, Kündigungsschutz u. ä.) verschrieben. In einem Wechselspiel von Kämpfen und Zugeständnissen wurden in einem längeren historischen Prozess soziale Umverteilungen in den Industriegesellschaften durchgesetzt.

Der Staat griff schließlich – bei grundsätzlicher Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung – als Interventionsstaat ein und sorgte für sozialpolitisch geprägte Umverteilung. In Deutschland steht für diesen Prozess die Entwicklung von der durch BISMARCK (1815–1898) initiierten Sozialgesetzgebung in den 1880er-Jahren bis zum heutigen bundesdeutschen Sozialstaat. Dieser wachsende Staatseinfluss widerspricht klassischen liberalen Vorstellungen über Staat und Wirtschaft. Konflikte sind vorprogrammiert. Aus der Sicht eines vermögenden bzw. sehr gut verdienenden Bürgers könnten seine Steuer- und Sozialabgaben eine Einschränkung seiner Freiheitsvorstellungen darstellen. Da aber der weitaus größere Teil unserer Gesellschaft (Kinder und Jugendliche, Rentner, Arbeitslose, Hausfrauen, Auszubildende, Studenten, Elterzeitnehmende, geringfügig Beschäftigte usw.) nettobegünstigt ist, d. h. soziale Leistungen in dieser oder jener Form erhält, nutzen die sozialstaatlichen Leistungen direkt (Pensionen) oder indirekt (Kindergeld) auch den Besserverdienenden.

Soziale Gerechtigkeit und Sozialstaat

Volkswirtschaftlich kann der gewachsene Staatseinfluss auf die Wirtschaft an der Staatsquote gemessen werden. Diese Quote erfasst den Anteil der Staatsausgaben und Sozialaufwendungen am Bruttosozialprodukt. Seit dem Ersten Weltkrieg wuchs über Jahrzehnte die Staatsquote. Mit dem in den 1970-Jahren zunächst in den USA und Großbritannien und später weltweit vollzogenen Übergang von einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik (nach JOHN MAYNARD KEYNES, 1883–1946) zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik (neoklassischen Wirtschaftstheorie) geriet das Sozialstaatsmodell in Bedrängnis. Unter den Begriffen

  • Liberalisierung,
  • Deregulierung,
  • Privatisierung

(bekannt als Washington Consensus – für lange Zeit das wirtschaftspolitische Konzept von IWF und Weltbank) wurde u. a. die Einschränkung sozialstaatlicher Leistungen als geeignetes Mittel für Wachstum und gerechtere Einkommensverteilung angesehen. Die Finanz- und Bankenkrisen seit 2007 haben die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik selbst in eine Krise gestürzt und den damit verbundenen Monetarismus an seine Grenzen geführt.

In der Bundesrepublik Deutschland wird soziale Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit bis heute als der bestimmende Wert des Sozialstaates betrachtet. Mit ihr werden breite soziale Sicherung, Armutsvermeidung, gleiche Rechte und Chancen für alle sowie eine dazu erforderliche Umverteilung der Einkommen gerechtfertigt. Neben der humanitären Wirkung sozialstaatlicher Leistungen im Sinne des Grundgesetzes gehören auch stets deren stabilisierende Wirkungen auf das gesamte sozioökonomische System hinzu. „Soziale Gerechtigkeit“ ist auch in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaates ein wichtiger Diskussionspunkt. Konkret geht es heute um solche Fragen wie

  • Generationengerechtigkeit,
  • Chancengerechtigkeit im Sinne von Teilhabe- oder Zugangsgerechtigkeit,
  • soziale Differenzierung und
  • „Leistung muss sich wieder lohnen“.

Natürlich ist eine völlige Herstellung sozialer Gleichheit in einer demokratisch verfassten Marktwirtschaft weder möglich (weil das an vorhandene Ressourcen gebunden ist) noch erstrebenswert (weil das dem differenzierenden Menschenbild und dem Wettbewerbsgedanke widerspräche). Deshalb obliegt es dem Sozialstaat in der sozialen Marktwirtschaft, den Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit unter den jeweiligen historischen Gegebenheiten möglichst konsensfähig zu lösen.

Die Idee des Sozialstaates besteht darin, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit weitestgehend zu realisieren.

Die Idee des Sozialstaates besteht darin, soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit weitestgehend zu realisieren.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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