Gesellschaftsmodelle

Gesellschaftsmodelle sind Auslegungen oder Annahmen, mit denen

  • soziale Beziehungen bzw.
  • typische Verhaltens- und Handlungsweisen der Lebenswirklichkeit

interpretiert werden. Gesellschaftsmodelle sind keine Theorien im engeren Sinn.

Sie

  • dienen der Charakterisierung von Gesellschaften,
  • eröffnen den Zugang zu strukturellen Wandlungsprozessen,
  • signalisieren aber auch Ängste, Hoffnungen und Befürchtungen.

Vielfach in Gegenüberstellung zu anderen, meist früheren Gesellschaftstypen werden im Sinne von Grundmodellen Begriffspaare zur Charakterisierung von Gesellschaften gebildet.

statische und dynamische
Gesellschaft
in Anlehnung an AUGUSTE COMTE (1798–1857), der den Begriff „Soziologie“ prägte und einführte
primitive und komplexe
Gesellschaft
in Anlehnung an EMILE DURKHEIM (1856–1917) und andere
bürgerliche und sozialistische
Gesellschaft
in Anlehnung an marxistische Theoretiker, insbesondere an KARL MARX (1818–1883)
offene und geschlossene
Gesellschaft
in Anlehnung an KARL R. POPPER („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, 1944)
pluralistische und monokratische Gesellschaftin Anlehnung an GEORGES GURVITCH (1894–1965)
antagonistische und nichtantagonistische Gesellschaftin Anlehnung an WOLFGANG ABENDROTH (1906–1985) – etwa gleich mit bürgerlicher und sozialistischer Gesellschaft
industrielle und postindustrielle Gesellschaftin Anlehnung an DANIEL BELL („Die nachindustrielle
Gesellschaft“ 1975)
entwickelte Industriegesellschaften und EntwicklungsländerGesellschaftstypen mit unterschiedlichem Entwicklungsniveau, die das gegenwärtige Nord-Süd-Gefälle in der Welt markieren

Bis heute wird Gesellschaft vorwiegend national definiert. Im Zuge des Globalisierungsprozesses wird aber zunehmend auch über die Herausbildung einer „Weltgesellschaft“, die zu einer Umformung des Sozialen beitragen wird, diskutiert.

Gesellschaftsbegriffe als Zeitdiagnose

Seit den 1950er-Jahren werden in der Bundesrepublik verschiedene Modelle aufgestellt, die wichtige Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung thesenhaft interpretieren.

Darüber hinaus werden unter Hervorhebung bestimmter Merkmale oder Tendenzen weitere Modelle diskutiert, so

  • die Wohlstandsgesellschaft, die den relativ hohen Lebensstandard und Massenkonsum in Einheit mit einem hohem Maß an sozialer Sicherheit in den Mittelpunkt rückt; dabei werden auch Modelle entwickelt, die auf einen weniger güterintensiven Lebensstil und auf Ressourcen schonendes Wirtschaften gerichtet sind;
     
  • die Erlebnis- oder Spaßgesellschaft, die Konsum und Freiheit, Individualisierung und Lifestyle, Pop-, Körper- und Medienkultur als prägende Werte und Bedürfnisse einer Überfluss produzierenden Gesellschaft hervorhebt;
     
  • die multikulturelle Gesellschaft, die den Wandel der national-homogenen Gesellschaft erfasst und sowohl die Erfordernisse wie auch Probleme der Integration oder Assimilation von Bürgern unterschiedlicher rassischer, ethnischer oder religiöser Herkunft aufzeigt.

Gesellschaftlicher Strukturwandel

Komplexere Erklärungsansätze für strukturelle Wandlungsprozesse werden durch Modelle auf der Grundlage der Drei- bzw. Viersektoren-Theorie vorgenommen. Diese stellt die wirtschaftliche Tätigkeit in den Mittelpunkt und geht von einer Schwerpunktverlagerung

  • vom primären Sektor (Agrarsektor)
  • zum sekundären (Industriegesellschaft) und von diesem
  • zum tertiären (Dienstleistungsgesellschaft) aus. In der Gegenwart vollzieht sich
  • der Übergang zu einem vierten, dem Informationssektor.

Ihm entspricht die Informationsgesellschaft oder Kommunikationsgesellschaft.
Bis in die 1880er-Jahre war Deutschland eine Agrargesellschaft, fast die Hälfte der Erwerbstätigen war im primären Sektor beschäftigt. Vom Ende des 19. Jh. bis in die 1970er-Jahre durchlief Deutschland die Phase einer Industriegesellschaft. Immer mehr Erwerbstätige arbeiteten im sekundären Sektor, in den sechziger Jahren fast die Hälfte. Der Anteil der Dienstleister stieg an und überholte in den 1970er-Jahren den inzwischen rückläufigen Anteil der Erwerbstätigen in der Produktverarbeitung. Der tertiäre Sektor dominierte schließlich in der Beschäftigung und in der Wertschöpfung und damit die industrielle Dienstleistungsgesellschaft.

Mit der Entwicklung neuer Technologien (Halbleiter, Computer, Software) und dem Aufbau eines Kommunikationsnetzes durch

  • Internet,
  • Mobiltelefon und
  • e-commerce

setzt sich seit Beginn der 1990er-Jahre die Informationsgesellschaft durch. Schon 2000 arbeitete die Hälfte der Erwerbstätigen in entsprechenden Berufen bzw. ausgestatteten Berufsbereichen.
Wie schon die Übergänge von der Agrar- zur Industriegesellschaft ist auch der Übergang zur Informationsgesellschaft mit weit reichenden Auswirkungen

  • auf die sozialen Beziehungen der Menschen,
  • auf ihr Wertesystem,
  • ihre Mobilität,
  • ihr Freizeitverhalten u. a.

verbunden.

Wissensgesellschaft

Zu einem grundlegenden Faktor wird dabei das Wissen, weshalb auch von einer Wissensgesellschaft (Bild 1) gesprochen wird. Charakteristisch ist, dass die Verfügbarkeit über Wissen sowohl für jeden Einzelnen als auch für Unternehmen und Staaten zu einem entscheidenden Wettbewerbskriterium im Rahmen der Globalisierung wird und dass die Beherrschung moderner Informations- und Kommunikationssysteme alle Lebensbereiche durchdringt.
Die wachsende Bedeutung des Faktors Wissen ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen:

  • auf die technischen Entwicklungen vor allem der Mikroelektronik, wodurch Reichweite, Geschwindigkeit und Effizienz der Datenübertragung stark zugenommen hat – immer mehr Informationen sind für immer mehr Menschen verfügbar;
     
  • um in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik handlungsfähig zu bleiben und den steigenden Anforderungen am Arbeitsplatz gerecht werden zu können, wird in der modernen Gesellschaft generell mehr Wissen benötigt;
     
  • durch die fortschreitende Vernetzung bisher eigenständiger Fachbereiche und den Ausbau der technischen Voraussetzungen (Multimedia) erweitern sich die Möglichkeiten zum Erwerb von Wissen ständig – das Wissen verdoppelt sich mittlerweile etwa alle fünf Jahre und die Hälfte der neuen Erkenntnisse ist schon nach drei bis vier Jahren überholt.

Die Wissensgesellschaft birgt Chancen und Risiken. Sie wird daran gemessen werden, ob und wie es ihr gelingt, allen den Zugang zu Informationen und zur Wissensaneignung zu gewähren, damit eine Teilung der Bevölkerung in Gutinformierte und Nichtinformierte, in Bildungsbesitzer und Bildungsverlierer vermieden wird.
In der Gegenwart verfügen nicht alle Menschen in den Industrieländern über die bildungsmäßigen und finanziellen Voraussetzungen zur Teilhabe an den modernen Kommunikationssystemen. Die Entwicklungsländer sind im Hinblick auf Technologie und Forschung insgesamt stark benachteiligt.
Die Wissensgesellschaft muss aber auch klären, inwieweit eine Kommerzialisierung des Wissens (z. B. die Finanzierung von Internetseiten durch Werbung) den freien Zugang erschwert und wie der Schutz des geistigen Eigentums sowie der Datenschutz im Netz zu gewährleisten sind.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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