Zionismus

Die so genannten „Ostjuden“ und der Antisemitismus

Im deutschen Kaiserreich war es mit dem Ausbruch der Gründerkrise (1873) zu einer neuen Woge der Judenfeindschaft (Antisemitismus) gekommen, in der die traditionellen religiösen Anfeindungen mit rassistischen Vorurteilen kombiniert wurden. Konservative und nationalistische Kreise warfen den Juden vor, die Wirtschaftskrise verschuldet und davon profitiert zu haben.

Durch die Pogrome in Russland nach dem Mord an Zar ALEXANDER II. im Jahr 1881 verstärkte sich die Zuwanderung von Juden nach Deutschland. Von 1881 bis 1890 flohen etwa 400 000 osteuropäische Juden aus den russischen Provinzen Ukraine, Polen und Bessarabien, sowie aus Galizien und Rumänien. In den 1990er-Jahren waren es jährlich fast 100 000. Das Deutsche Reich stellte für sie zumeist nur eine Durchgangsstation auf dem Weg in die USA dar. Der dauerhafte Aufenthalt in Deutschland war nicht gestattet, und die osteuropäischen Juden blieben als Fremde weitgehend rechtlos. Dennoch stieg ihre Zahl von 12 000 im Jahr 1890 auf 78 000 im Jahr 1910 an, womit dann 12 % der in Deutschland lebenden Juden als Ausländer galten. Die meisten von ihnen fanden Arbeit bei Glaubensgenossen; aber auch in der Berliner Zigarettenindustrie, der Offenbacher Lederwarenfabrikation oder den Leipziger Kürschnereien waren sie gefragte Arbeitskräfte.

Der Zuzug osteuropäischer Juden entfachte eine antisemitische Kampagne in Presse und Publizistik, die mit rassischen (antisemitischen und antislawischen) Klischees die Gefahr der Überfremdung heraufbeschwor und den Stopp der Zuwanderung forderte. Dies forderten u. a. die von FÖRSTER und VON SONNENBERG initiierte „Antisemiten-Petition“ und der 1882 in Dresden abgehaltene „Antisemiten-Kongress“. Mehrere dezidiert antisemitische Parteien wurden gegründet.

Im Unterschied zu assimilierten (angepassten) deutschen Juden gerieten die jüdischen Zuwanderer schon durch ihr Erscheinungsbild ins Visier der Antisemiten. Aufgrund ihrer Herkunft orthodox geprägt, kleideten sie sich nach religiöser Vorschrift mit Kaftan und schwarzem Hut, trugen Bart und Schläfenlocken. Für das angepasste jüdische Bürgertum wirkten die jüdischen Immigranten, Nachfahren einst aus Deutschland vertriebener Juden, befremdlich, schienen sie doch die mühsam erreichte Emanzipation in Frage zu stellen. Es dauerte lange, bis sich deutsche Juden für das Schicksal der eingewanderten Glaubensgenossen öffentlich einsetzten.

Jüdische Organisationen

Protest gegen die Ausweisung von 10 000 Juden und 25 000 Polen aus Preußen 1885/1886 legte zunächst die SPD ein, für die WILHELM LIEBKNECHT im Reichstag das Prinzip der Humanität gegen Nationalismus verteidigte. Hilfe für die osteuropäischen Juden leistete vor allem die 1860 von ADOLPHE CRÉMIEUX in Paris gegründete „Alliance Israélite Universelle“, zu deren wichtigstem Förderer der Baron MORITZ HIRSCH wurde. Sie finanzierte auch Schulen im Orient und in den Balkanländern, sowie Agrarprojekte in Palästina. 1891 baute MORITZ HIRSCH die „Jewish Colonization Association“ auf, zunächst mit der Absicht, in Argentinien Land für vertriebene Juden zu erwerben. Später leistete die Organisation Unterstützung bei der Besiedelung Palästinas, die bereits 1882 von aus Russland emigrierten jüdischen Studenten auf eigene Faust begonnen worden war.

Dem grassierenden Antisemitismus im deutschen Kaiserreich begegneten die deutschen Juden erst relativ spät durch die Gründung eigener Organisationen. Ihrem Selbstverständnis als deutsche Staatsbürger widersprach der Aufbau spezifisch jüdischer Vereinigungen. So wandte sich die erste, 1891 gebildete politische Einrichtung, der „Verein zur Abwehr des Antisemitismus“, ausdrücklich religions- und parteiübergreifend an alle Bürger Deutschlands. De facto schlossen sich dem Verein allerdings fast nur Juden an. 1893 wurde dann mit dem „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) die erste reichsweite Interessenvertretung der deutschen Juden gegründet. Der CV versuchte, durch seine Monatshefte und den „Philo-Verlag“ die antisemitische Propaganda zu entkräften und das jüdische Selbstbewusstsein zu stärken. Außerdem ging seine Rechtsschutzkommission auf juristischem Wege gegen judenfeindliche Äußerungen in Presse und Veranstaltungen vor. Bis 1914 entwickelte sich der CV zur zahlenmäßig stärksten jüdischen Organisation.

Die zionistische Bewegung

Dem Integrationskonzept des „Central-Vereins“, das das Bekenntnis zur deutschen Nation mit der Bewahrung der jüdischen Identität verband, stand die zionistische Bewegung gegenüber. Der Begriff „Zionismus“ wurde von dem Wiener NATHAN BIRNBAUM geprägt und geht zurück auf Zion oder Sion, den Burgberg Jerusalems. In Deutschland erreichte der Zionismus jedoch maximal 10 % der Juden, vor allem Akademiker, Intellektuelle, Wirtschaftler, Studenten und Journalisten.Die zionistische Bewegung ist eng verbunden mit der Person von THEODOR HERZL. Als Sohn eines Kaufmanns in Budapest geboren, studierte HERZL in Wien Jura und arbeitete seit 1891 für die „Neue Freie Presse“ als Korrespondent in Paris. Dort erlebte er 1895 die Dreyfus-Affäre (die Verleumdung eines französischen Offiziers jüdischer Abstammung wegen angeblicher Spionage) mit.

Diese Affäre sensibilisierte HERZL für die jüdische Frage, die er 1896 in seinem Buch „Der Judenstaat“ zu einer nationalen erklärte. Nach HERZLs Ansicht hatten die trotz jüdischer Assimilation im Westen gärende Judenfeindschaft, die Pogrome und Vertreibung im Osten gezeigt, dass Emanzipation und soziale Integration gescheitert waren. Deshalb bestand für HERZL der einzig wirksame Schutz vor dem Antisemitismus in der Gründung eines jüdischen Staates und der Bildung einer eigenen jüdischen Nation.

Schon 1862 hatte der Sozialist und Hegelianer MOSES HESS in seiner Schrift „Rom und Jerusalem“ ähnlich argumentiert. Auch er plädierte für eine jüdische Nation, die im heiligen Land zu errichten sei, damit schließlich auch das jüdische Volk sich gemäß der geschichtlichen Entwicklung als Nationalstaat konstituieren könne. In Russland setzte die Palästina-Bewegung bereits um 1880 ein, erhielt aber durch die Pogrome 1881/82 den entscheidenden Anstoß. Es bildeten sich unter Studenten Zionsvereine zum Aufbau von Kolonien in Palästina. LEON PINSKER, wohlhabender Arzt aus Odessa, verfasste 1882 die Broschüre „Autoemanzipation“, die ebenfalls für einen jüdischen Nationalstaat eintrat. Eine tief-messianische Variante des Zionismus, die in Russland sehr einflussreich war, vertrat ACHAD HAAM, der gerade die Assimilation für die Schwäche des Judentums verantwortlich machte.

1897 rief THEODOR HERZL zum 1. Zionistenkongress in Basel auf, der unter Beteiligung von 197 Delegierten aus Europa, aber auch Palästina, Algier und Amerika stattfand. Die größte Gruppe von Teilnehmern stammte aber aus Russland. Vom Kongress beschlossen wurde der Aufbau eines jüdischen Staates. Aber auch die Einrichtung einer Kolonialbank und die Gründung einer Universität in Jerusalem standen zur Debatte. Zwei Exekutivorgane – das „Große Aktionskomitee“ und der „Permante Ausschuss“ wurden eingerichtet, um regelmäßige Kongresstreffen und vor allem die Staatsgründung vorzubereiten.

Vergeblich unternahm HERZL in der Folgezeit Verhandlungsreisen, in der Hoffnung, in der Türkei unter deutschem Protektorat Siedlungsgebiete zu erwerben. Der Konflikt zwischen den ostjüdischen Zionisten und HERZLs Fraktion, die eine Staatsgründung auf Grundlage internationaler Verträge anstrebte, brach auf dem 6. Kongress auf. Doch schon während des 3. Zionistenkongresses hatte sich eine Opposition, die demokratische Fraktion mit MARTIN BUBER und CHAIM WEIZMANN, gebildet. Sie rief zur Förderung der jüdischen Kultur und Sprache auf, um die Identität des jüdischen Volkes zu stärken. HERZLs Fixierung auf die technische Frage, ein Territorium zur Staatsgründung zu erhalten, stieß auf wachsende Kritik. Ihm wurde vorgeworfen, bei seinen Verhandlungen die kulturellen Belange ebenso wie die Kolonisierung Palästinas zu vernachlässigen. Seinen Entwurf eines jüdischen Staates legte HERZL zwei Jahre vor seinem Tod im 1902 veröffentlichten Roman „Altneuland“ vor.

Als Reaktion auf die zionistische Bewegung erschienen 1905 in Russland die „Protokolle der Weisen von Zion“. Obschon sie 1922 in England als Fälschung entlarvt wurden, dienten sie auch deutschen Antisemiten weiterhin als Beleg für eine angebliche jüdische Weltverschwörung. In diesen gefälschten „Protokollen“ erscheint der 1. Zionistenkongress als ein Geheimtreffen von Großmeistern jüdischer Logen, die mittels Wirtschaftskrisen, Kriegen, Seuchen, Korruption usw. die Erringung der Weltherrschaft anstreben würden.

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