Lernprozesse

Um lernen zu können, müssen die Individuen in der Lage sein, Informationen aus der Umwelt aufzunehmen und zu speichern. Diese gespeicherte Information – auch als Gedächtnis bezeichnet – muss in einer späteren Situation abrufbar sein. Die Gedächtniskapazität bedingt die Lernfähigkeit eines Tieres. Der Lernvorgang entscheidet ob die Speicherung kurz- oder längerfristig erfolgt. So wird z. B. der Aufenthaltsort eines Beutetieres im Kurzzeitgedächtnis gespeichert, während z. B. die Lage des Nestes für den brütenden Vogel eine dauerhaft wichtige Information darstellt, die im Langzeitgedächtnis abgelegt wird. Alle erlernten Verhaltensweisen, die ein Tier braucht, um in seiner Umwelt überlebensfähig zu sein, werden auch als notwendiges (obligatorisches) Lernen bezeichnet (z. B. Fähigkeit, das eigene Nest in einer Brutkolonie wiederzufinden). Von fakultativem Lernen spricht man, wenn der Lernvorgang dem Tier zwar Vorteile verschafft, aber nicht unbedingt notwendig für das Überleben ist (z. B. Werkzeuggebrauch bei Affen).

Die Instinkt-Lern-Verschränkung verdeutlicht die enge Verknüpfung zwischen angeborenen und erlernten Verhaltensweisen. Das genetisch festgelegte Programm (Erbkoordination) wird durch obligatorische Lernvorgänge an die verschiedenartigen Lebens- und Umweltbedingungen angepasst.

Auch Lernvorgänge haben genetische Grundlagen. Diese Lerndispositionen können artspezifisch vom Lebensraum, der Ernährungsweise, der Art, sich fort zu bewegen aber auch von der unterschiedlichen Begabung der einzelnen Tiere einer Art abhängig sein.

Das Sandwespenweibchen Ammophila pubescens gräbt Höhlen, um dort gefangene, durch Giftstiche gelähmte Raupen abzulegen. Die Raupen werden mit eigenen gelegten Eiern versehen und die sich daraus entwickelnden Larven fressen die Raupen. Das Weibchen überprüft regelmäßig, ob dem Nachwuchs die Raupen ausgehen und sorgt ggf. für Nachschub. Dieses aufwendige Brutpflegeverhalten ist angeboren, wird aber durch obligatorische Lernvorgänge an die Lebensbedingungen angepasst. Die Wespenweibchen müssen nämlich lernen, an welchen Standorten sich die Höhlen mit den Larven befinden und wie sie auf dem Luftweg (fliegend) bzw. über den Landweg (wenn die Raupen zur Höhle transportiert werden) zur Höhle zurückfinden.

Bedingte Reaktionen

Tiere können assoziativ lernen, indem sie unterschiedliche Reizsituationen kombinieren und daraufhin angeborene, unbewusste Handlungen entsprechend verändern. Dabei werden positive Reizkombinationen (bedingte Appetenz) vom Tier bevorzugt und entsprechend häufiger aufgesucht als negative Reizkombinationen (bedingte Aversion). Verhaltensweisen, die auf diese Weise erlernt werden, nennt man bedingte Reaktionen. In der klassischen Verhaltensbiologie wurde diese Vorgänge als klassische Konditionierung bezeichnet.

Lernprozesse

Lernprozesse

Lernprozesse - Schimpanse und Werkzeuge

Der russische Physiologe IWAN P. PAWLOW (1849–1936) entwickelte zum Ende des 19. Jh. eine Methode, den Speichelfluss und die Magensaftsekretion von Hunden auf Reize quantitativ zu erfassen.Der unbedingte Reiz, den Pawlow den Hunden anbot, war Futter in einer Schüssel. Mit dem Angebot des Futters bot er schließlich stets einen zunächst neutralen Reiz an. Dabei handelte es sich um ein bestimmtes Licht oder er ließ einen Glockenton erklingen. Schon nach kurzer Zeit reichte das Aufleuchten der Lampe oder aber der Ton allein aus, um Speichelfluss und Magensaftsekretion auszulösen. Der Speichelflussreflex wurde durch die neue Erfahrung verändert, man spricht vom bedingten Reflex.

Bedingte Aktionen

Neben dem assoziativen Verhalten sind Tiere aber durchaus auch in der Lage bestimmte Verhaltensweisen neu zu erlernen. Solche bedingte Aktionen werden ausgebildet, wenn ein Tier aktiv Spiel-, Neugier- bzw. Erkundungsverhalten zeigt und durch Versuch und Irrtum die Folgen einer Handlung abzuschätzen lernt. Tiere lernen, dass zufällige Handlungen positive Folgen haben können und führen diese Handlung dadurch erneut aus. Menschen nutzen diese Erkenntnis dazu, Tiere zu dressieren und somit zu Handlungen zu bewegen, die nicht ihrem natürlichen Verhaltensinventar entsprechen. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von operanter Konditionierung. Voraussetzung für das Zustandekommen bedingter Aktionen ist die Aktivität der Tiere.

Der amerikanische Psychologe B. F. SKINNER (1904–1990) beschäftigte sich in der ersten Hälfte des 20. Jh. mit dem Phänomen der bedingten Aktionen. Dafür entwickelte er die Skinner-Box, ein Käfig, in der Tiere zu bedingten Aktionen bewegt werden. Betätigen Ratten bei ihrem Erkundungsverhalten in der Skinner-Box bestimmte Hebel oder Tasten, werden sie mit Futter belohnt. Sie lernen also, den Hebel zu benutzen, wenn sie hungrig sind.

Gewöhnung

Wenn einem Tier ein bestimmter Reiz immer wieder angeboten wird, der weder positive noch negative Auswirkungen hat, reagiert das Tier immer weniger und schließlich gar nicht mehr (Gewöhnung, Habituation). Dabei können bedingte Reaktionen verlernt werden (Extinktion). Während z. B. frei lebende Tiere zu Beginn einer Verhaltensstudie auf den Beobachter sehr scheu reagieren und bei Annäherung meist fliehen, gewöhnen sie sich mit der Zeit an seine Anwesenheit und „dulden“ ihn in ihrer Nähe.

Nachahmung (Imitation) – Traditionsbildung

Beim Lernen durch Beobachten oder bei der Nachahmung (Imitation) übernimmt das beobachtende Tier Verhaltensanteile des handelnden Tieres. Auf diesem Weg können sichTraditionen bilden, das sind Verhaltensweisen, die von einer bestimmten Gruppe einer Tierart über mehrere Generationen, in einer spezifischen, vom Verhalten anderer Gruppen derselben Art, abweichenden Weise ausgeübt werden.

In den 90er Jahren haben VITTORIO GALLESE und GIACOMO RIZZOLATTI von der Universität Parma in Primatenversuchen Nervenzellen im prämotorischen Cortex (Broca-Areal) entdeckt, die ein ungewöhnliches Verhalten zeigen. Sie geraten zwar ebenso wie andere Neuronen in Erregung, wenn der Körper eine bestimmte Tätigkeit ausführt, sind aber auch aktiv, wenn dieselbe Tätigkeit bei einem anderen Individuum beobachtet wird. Eine völlig neue Erkenntnis, da man bisher von einer strikten Arbeitsteilung des Gehirns in sensorische und motorische Areale ausgegangen war. Das Verhalten des anderen Individuums kann demnach gedeutet und verstanden werden. Die Forscher gehen sogar davon aus, dass von diesen Spiegelneuronen Sympathie und Einfühlung, Lernen durch Nachahmung und alle weiteren Formen der menschlichen Kommunikation ausgehen.

Prägung

KONRAD LORENZ (1903–1989) entdeckte das Phänomen der Prägung. Er fand heraus, das Graugansküken jedem Objekt folgen, das sich kurze Zeit nach dem Schlüpfen bewegt und Laute von sich gibt. Zwei Tage nach dem Schlüpfen jedoch ist die sensible Phase der Küken beendet. Wenn in dieser Zeit keine Prägung stattgefunden hat, fliehen die Küken vor allen Objekten, die in der sensiblen Phase eine Nachfolgeprägung ausgelöst hätten. Werden Verhaltensweisen in einer kurzen, genetisch bestimmten Zeitspanne der frühen Jugendentwicklung durch einen spezifischen Reiz festgelegt, spricht man von Prägung. Der Vorgang ist i. d. R. irreversibel. Bleibt der prägende Reiz in der sensiblen Phase aus, kann er später nicht mehr wirken.

Man unterscheidet drei Formen von Prägung:

- Nachfolgeprägung
- Sexuelle Prägung
- Motorische Prägung

Der Ablauf des Verhaltens (Nachfolgen, Balzen) ist vermutlich angeboren, aber die Prägungsprozesse an sich sind völlig unabhängig voneinander. Eine Gans könnte also einem Menschen folgen und sexuell auf Schwäne geprägt sein, weil die entsprechenden sensiblen Phasen nicht zeitgleich sind. Auch die Reihenfolge der Prägungen ist artspezifisch. Dohlen z. B. werden vor der Nachfolgeprägung sexuell geprägt, bei Gänsen und Enten ist es, wie wir bereits wissen, umgekehrt.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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