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- Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.
Die wohl berühmteste Biografie deutscher Zunge, GOETHEs „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ beginnt mit den vom Bildungsbürgertum stets zitierten und oft kolportierten folgenden Worten:
„Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.“
(vgl. PDF "Johann Wolfgang von Goethe - Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit")
GOETHE beginnt seine Autobiografie (Auto = griech. selbst-, bio = griech. Leben, graf =schreiben, beschreiben) mit einer Geschichte, einer Mär: Er kann die Details seiner Geburt aus eigenem Erleben gar nicht kennen. Er muss sich also auf die Schilderungen seiner Mutter stützen, sich auf den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen verlassen. Dabei kann an zweierlei Dingen gezweifelt werden:
Auch die nicht erzählten Details dieser Geburt führen dazu, dass an der Wahrheit gezweifelt werden und angenommen werden darf, dass es sich in dieser Einleitung um Dichtung handelt. Auch der so genau beschriebene Zeitpunkt der Geburt („mit dem Glockenschlage zwölf“) darf für die damalige Zeit als durchaus glaubwürdig betrachtet werden. Angesichts heutiger Atomuhren, die um Vieles genauer die Zeit anzeigen, können wir durchaus davon ausgehen, dass der beschriebene Zeitpunkt vom Autor als ein durchaus gelungener Paukenschlag eingebaut wurde, der der Wahrheit entbehrt. GOETHE spielt zudem mit astrologischen Angaben. Er unterstellt den Sternen, sie wären ihm gewogen gewesen und zugleich dem Mond, dieser würde sein Erscheinen auf der Erde verzögert haben, damit er, GOETHE, pünktlich „mittags mit dem Glockenschlage zwölf“ geboren würde. Daran darf getrost gezweifelt werden.
Der Auftakt der Autobiografie macht deutlich, was ihr Untertitel bereits vorweg nimmt: Dichtung und Wahrheit. Zugleich sieht sich ein Autor, der sein eigenes Leben erzählt, von verschiedenen Fragen umtrieben:
Stoffauswahl :
Ein Mann wie GOETHE (1749–1832), der 83 Jahre alt wurde, mit 62 Jahren, also 1811, den ersten Band, dann in den Jahren 1812, 1814 und 1831 die anderen Bände zur Veröffentlichung freigab (der letzte Band erschien posthum 1833), hatte soviel Stoff, von dem er zehren konnte, dass er eine Auswahl treffen musste. Diese Auswahl trifft er jedoch nicht „objektiv“, d. h., vom Blickpunkt des unabhängigen Beobachters aus, sondern aus rein subjektiven Erwägungen heraus. Er hatte Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Das, was wesentlich war, entschied er selbst, keine Vermittlerperson erleichterte ihm die Auswahl. Um diese Aufgaben bewältigen zu können und trotzdem ein „gültiges“ Ergebnis zu erzielen, musste er sich bewusst werden:
Aufgaben und Zweck, Zielsetzungen der Biografie:
Welche Aufgabe sollte die Biografie haben, welchen Zweck sollte sie verfolgen? Der wohl allererste Zweck dürfte sein, dem Vergessenwerden zu entrinnen, die „Daseinsflüchtigkeit“, wie Günter de Bruyn es nennt, aufzuhalten, und sich selbst klar darüber zu werden: Wie war das damals eigentlich? Er versucht sich in Selbsterklärung, Selbstauseinandersetzung. Allerdings führt diese Frage bereits zum nächsten Problem:
Der Autor einer Autobiografie versucht, trotz seiner Erinnerungslücken, trotz bewusst ausgesparter „peinlicher Momente“, trotz des Fehlens einer unabhängigen, beobachtenden Instanz, sein Leben mit dem Wissen des Erfahreneren, des Klügeren zu rekonstruieren.
GOETHE war sich, wie ja der Eingang der Biografie schon zeigt, dieser Problematiken durchaus bewusst (siehe PDF "Johann Wolfgang von Goethe - Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit"), weshalb er sein Werk mit dem Doppeltitel doppelt absicherte:
Der erste Teil des Titels signalisiert, dass nicht das ganze Leben episch ausgebreitet wurde, sondern der Autor selektive (ausgewählte) Momente vorführt. Im zweiten Teil wird deutlich, dass es sich sowohl um tatsächliches Geschehen handelt, dass allerdings auch fiktive (erdachte) Elemente in dem Werk zu finden sind. Was allerdings erdacht, was wahr ist, weiß nur der Autor selbst, denn:
„Das Problem jeder Autobiographie: der Betrachtende ist selbst der Betrachtete; er schreibt wie ein Epiker und ist selber die Hauptgestalt im Bilde.“
(Trunz, Erich: Anmerkungen des Herausgebers. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Trunz, Erich. Bd. 9. München: Beck, 1974 S. 608)
Dabei war wohl durchaus Selbstzweck im Spiel, als sich GOETHE um 1810 entschloss, seine Biografie selbst zu schreiben:
„Indem wir auf unser Leben zurücksehen und es in Gedanken rekapitulieren; so genießen wir es zum zweiten male, und indem wir es aufzeichen bereiten wir uns ein neues Leben in und mit andern.“
(Goethes Brief an Hackert vom 04.04.1806)
GOETHE wagte in seiner Biografie den Versuch, zwei Ebenen miteinander zu verbinden:
Er formulierte in seiner Autobiografie (Vorwort):
„... die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder entfernter auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auf mich, wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen, den größten Einfluß gehabt, mußten vorzüglich beachtet werden.“
(Goethe, a.a.O.)
Indem er diese Ebenen miteinander verwob, musste GOETHE einedistanzierende Erzählhaltung einnehmen. Denn es galt, nicht ihn als Mikrokosmos darzustellen, sondern ihn inmitten seiner Zeit und Zeitgenossen episch zu erzählen. Wahrheit ist nicht auf die eigene Wahrheit reduziert, sondern wird wahrscheinlich, wenn sie als Summe von Wahrheiten auftritt. Die Distanz zur eigenen Person (Ich-Erzähler) bringt Nähe zu anderen Denkhaltungen, anderen „Mitwirkenden“. Dabei hilft eineironische Schreibweise , wie sie bereits in den ersten Zeilen des Buches „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.“ ersichtlich wird. Mit dieser beschriebenen Grundhaltung zu seinem eigenen Werk lässt sich die Frage nach der Grundsätzlichkeit der Existenzberechtigung von Autobiografien stellen, die GOETHE beantwortet:
„Die Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es thut, für den höflichsten aller Menschen. Wenn sich einer nur mittheilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es thut.“
(Goethe, a.a.O.)
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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