Ideengeschichtliche Grundlagen: Leitbild Antike

Ideengeschichtliche Voraussetzungen

Dem Verstandeskult und Vernunftoptimismus der Aufklärung stehen in der Klassik die Ideale des Guten, Wahren, Schönen entgegen.
Die Zweifel an der Vätergeneration des „... tintenklecksenden Säkulums“ (SCHILLER) waren weitestgehend ausgeräumt. Das nur über das Gefühl aufgenommene Menschenbild (dichterische Freiheit), dieser Subjektivismus des Sturm und Drang, ist nun einer schöpferischen Fortentwicklung der Autoren im Wege. Geistige Freiheit sah man nun als Blick vom Individuellen zum Allgemeinen.
Vor dem politischen Hintergrund der französischen Revolution und deren Wirkung und Nachwirkungen auf ganz Europa entwickelten die deutschen idealistischen Philosophen und die klassischen Autoren das Konzept einer Dichtung der Humanität. Diese empfanden die klassischen Autoren als Norm.
Ziel der Revolution war es, den sozialen Menschen mit dem natürlichen Menschen gleichzusetzen.

Ästhetische Leitideen

Als Teilgebiet der Philosophie untersucht die Ästhetik (von griech. aisthánesthai = durch die Sinne wahrnehmen) die Probleme der Kunst und des Schönen. Sie befasst sich

  • mit dem Entstehungsprozess eines Kunstwerkes,
  • mit seiner Struktur und
  • mit dem Verhältnis Kunst – Wirklichkeit.

Poetik nennt man den Teil der Ästhetik, der sich mit der Dichtung beschäftigt.

Die ästhetischen Leitideen wurden von IMMANUEL KANT maßgeblich beeinflusst, denn die deutsche Klassik, wie die der Aufklärung, beruht auf den philosophischen Ideen KANTs. Dieser untersuchte in der „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) den Vorgang sittlichen Handelns.

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“
(Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: ders.: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 18)

Die Kunst des Genies ist, nach KANT, gleichzusetzen mit der schönen Kunst. Daraus folgt ihr Regelkatalog (Kanon).

„Ich verstehe unter einem Kanon den Inbegriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen überhaupt. So ist die allgemeine Logik in ihrem analytischen Teile ein Kanon für Verstand und Vernunft überhaupt, aber nur der Form nach, denn sie abstrahiert von allem Inhalte. So war die transzendentale Analytik der Kanon des reinen Verstandes; denn der ist allein wahrer synthetischer Erkenntnisse a priori fähig. Wo aber kein richtiger Gebrauch einer Erkenntniskraft möglich ist, da gibt es keinen Kanon.“
(Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: ders.: Werke in zwölf Bänden. Band 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 670-671.)

Bild

Nach den Vorstellungen der Klassiker lebten die Menschen der Antike in Einheit mit der Natur. Nur so ließ sich das Erhabene schaffen. Dies sahen sie als Voraussetzung für Harmonie (Mensch – Natur) und Humanität (Vernunft – Gefühl).

Schwierigkeiten mit dem Kanon

GOETHEs und SCHILLERs Rolle bei der Kanonbildung ist historisch gesehen durchaus zwiespältig. Sie waren um 1790 die „Autoritäten des Kanons“. Beide waren antirevolutionär gesinnt (die Gründe dafür unterschieden sich jedoch). GOETHE z.B. strebte zudem einen Kompromiss mit dem Adel an. Als Minister war er selbst an der Machtausübung des Staates beteiligt. Neuere Untersuchungen gehen davon aus, dass

„antirevolutionäre Gesinnung, Konformität an bestehende Verhältnisse, ein gemäßigter Ästhetizismus und patriotische Männlichkeit die Tugenden sind, die den Zugang zum Kanon garantieren“
(ANETTE HORN, zitiert nach: http://www.inst.at/trans/6Nr/ahorn.htm).

Über GOETHES Rolle als „Fürstenknecht“ schrieb bereits der Zeitgenosse LUDWIG BÖRNE enttäuscht:

„Das zahme Dienen trotzigen Herrschern hat sich Goethe unter allen Kostbarkeiten des orientalischen Bazars am begierigsten angeeignet. Alles andere fand er, dieses suchte er; Goethe ist der gereimte Knecht, wie Hegel der ungereimte.“
(LUDWIG BÖRNE, Briefe aus Paris, 27.05.1830, vgl. PDF "Ludwig Börne - Briefe aus Paris")

Im selben Brief aus Paris zitiert BÖRNE einen nicht genannten Wiener Gelehrten:

„Dieser Goethe ist ein Krebsschaden am deutschen Körper, und das Ärgste ist noch, daß alles die Krankheit für die üppigste Gesundheit hält, und den Mephistopheles auf den Altar setzt und Dichterfürsten nennt. Ja Fürsten d.i. Despotendichter sollte er eigentlich heißen.“
(ebenda)

Kanon und Kanonbildung hängen also sehr stark davon ab, welchen Einfluss Autoren und ihre Literatur auf die Gesellschaft, insbesondere auf Literaturkritik auf der einen und der staatlichen Macht auf der anderen Seite ausübt bzw. zurückwirkt.

Autonomie der Kunst

Kompromiss mit dem Staat ist bei GOETHE und SCHILLER lediglich als politische Kategorie zu sehen. Ästhetisch wollten sich die Klassiker vom Staat und dessen Einflüssen emanzipieren. Sie schufen sich eine Freiheit innerhalb der Kunst. Die Autoren schufen eine Idee von der Autonomie der Kunst, die dadurch geprägt war, dass die Kunst sich ein autonomes Universum mit einer eigenen Wirklichkeit schafft. Dazu bedurfte es eines Formbewusstseins, das den Stürmern und Drängern in dieser Strenge noch nicht bewusst gewesen war (Der Zwang zur Formenstrenge wurde Ende des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen durch STEFAN GEORGE und die Theorie von der l'art pour l'art = Kunst für die Kunst).

Neue Ideale eroberten das Denken in der Klassik:

  • freie Selbstbestimmung
  • freie Selbstvollendung
  • Aussöhnung mit der Gesellschaft und ihren Gesetzen.

In einem solchen Sinne verstanden sich die Autoren der Klassik als Weltbürger. Die menschliche Kultur sollte sich zu einem Werkzeug zur Einigung der Welt unter die höheren Ideale entwickeln. Das Weltganze sollte eine Einheit darstellen, in der alle Disharmonien untergehen.

Bild

Vorbild Antike: Harmonie

Man strebte Vollendung und Schönheit an, deutete sie als Harmonie zwischen

  • dem Sinnlichen (Gemüt) und
  • der Vernunft (Geist).

Werte wie

  • Menschlichkeit,
  • Toleranz,
  • Ausgleich,
  • Maß und
  • Reinheit

standen dafür. Harmonie und Humanität waren die Leitideen der Klassik.
Auch theoretisch wurde das klassische Kunstideal betrachtet und die Funktion der Kunst bestimmt: u. a.

  • SCHILLER: „Über naive und sentimentalische Dichtung“ (1795/1796),
  • SCHILLER: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795),
  • GOETHE: „Literarischer Sansculottismus“ (1795).

SCHILLER hatte sich zunächst mit den Auffassungen LEIBNIZ' und SHAFTESBURYS (16711713) auseinandergesetzt. Von ihnen übernahm er den Begriff der Harmonie. Ab 1792 betrieb er ein intensives Studium der Schriften IMMANUEL KANTS. Über dessen Theorie der Gegensätzlichkeit von Sittlichkeit und Vernunft gelangte er u.a. zum klassischen Ideal. Das Ideal der Versöhnung von Sittlichkeit und Vernunft fand SCHILLER in der ästhetischen Harmonie:

Bild

In seiner Schrift „Über Anmut und Würde“ (1793) fand SCHILLER den Begriff der „moralischen Schönheit“ als Ausdruck der Freiheit in der Erscheinung selbst.
Angestrebt wurde nach Vollkommenheit und der Übereinstimmung von Inhalt und Form, ganz wie es die griechisch-römische Antike gezeigt hatte. Die Schriften (vor allem „Geschichte der Kunst des Altertums“, 1764) JOHANN JOACHIM WINCKELMANNs (1717–1768) hatten einen großen Einfluss auf das Antike-Bild der deutschen Klassik (apollinisches Schönheitsideal: „edle Einfalt und stille Größe“, Harmoniestreben).
Das Begriffspaar „edle Einfalt und stille Größe“ hat GOETHE von seinem Zeichenlehrer ADAM FRIEDRICH OESER (1717–1799) übernommen. In der antiken Kultur sah man die Harmonie zwischen Leben und Ideal, Natur und Freiheit (SCHILLER) und eine der Natur entsprechende Schönheit (GOETHE) erreicht. Der Entfremdung des Menschen von der Natur und des Denkens vom Empfinden konnte durch die Kunst begegnet werden. Mensch und Natur sowie Individuum und Gesellschaft wurden zu Begriffspaaren. Diese Dualismen wurden auch kanonbildend für nachfolgende Strömungen und Epochen.

Das ästhetische Ideal SCHILLERs:

„Glauben sie nicht der Natur und den alten Griechen, so holst du
Eine Dramaturgie ihnen vergeblich herauf.“

(aus: „Shakespeares Schatten“ von SCHILLER)

Sinnlichkeit sah SCHILLER als ästhetisches Ideal, Vernunft als moralisches Ideal an. Vermittlung zwischen beiden ist das Ziel der Kunst.Bild

SCHILLERs Beschäftigung mit der griechischen Antike zeigt sich u. a. in seinem Gedicht „Die Götter Griechenlands“ (1788) und in zwei Übersetzungen des EURIPIDES, während GOETHE sein Drama „Iphigenie auf Tauris“ (1787) vollendete.
GOETHE suchte in der Natur ein Modell für den universalen Zusammenhang aller Erscheinungen, für SCHILLER wurden Philosophie (IMMANUEL KANT) und Geschichte zu wichtigsten Bezugspunkten. Da sich beide Autoren philosophisch dem deutschen Idealismus hingezogen fühlten, ist es deshalb naheliegend, von SCHILLER als dem „Vernunftidealisten“ und von GOETHE als dem „Naturidealisten“ zu sprechen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

Lexikon Share
Deutsch Note verbessern?
 

Kostenlos bei Duden Learnattack registrieren und ALLES 48 Stunden testen.

Kein Vertrag. Keine Kosten.

  • 40.000 Lern-Inhalte in Mathe, Deutsch und 7 weiteren Fächern
  • Hausaufgabenhilfe per WhatsApp
  • Original Klassenarbeiten mit Lösungen
  • Deine eigene Lern-Statistik
  • Kostenfreie Basismitgliedschaft

Einloggen