Das Recht des Einzelnen: Asylie

Auch Personengruppen begeben sich unter den Schutz anderer. Um Schutz werden die Götter in ihren Heiligtümern angefleht. Ein König kann Schutz gewähren oder die Bürger einer Polis. Selbst eine Stadt kann um Schutz durch eine andere Stadt bitten.

Formen der Asylie:

  • sakrales Asyl: Schutzsuche in einem Heiligtum (z. B. kirchliches Asyl: Kirche)
  • persönliches Asyl: ein Schutzprivileg wird verliehen (Schutzbrief)
  • territoriales Asyl: ein (Stadt-)Staat gewährt Asyl auf seinem Territorium

Nach Meinung einiger weiterer Wissenschaftler gibt es zudem das fremdenrechtliche Asyl, wie es z. B. in den „Hiketiden“ des AISCHYLOS vorkommt, als die fünfzig Töchter des Danaos aus Ägypten fliehen müssen und in Argos Schutz suchen. Der König riskiert aber mit der Gewährung der Asylie einen Krieg mit Ägypten. Die Danaiden flehten also zugleich um politisches Asyl.

Der Begriffasúlos ist eine Verneinung von súlos = beraubt und bedeutet sicher. Als sicher galten im alten Griechenland die Altäre bzw. die Tempel mit den Altären im Mittelpunkt. Das Poseidonheiligtum auf Kalaureia verfügte wohl über vier saalartige Hallen, in denen Schutzsuchende Asyl fanden. Auch Gebiete in Städten konnten für heilig und unverletzlich erklärt werden. Die Göttin des Mitleids Éleos hatte einen Altar auf dem Markt von Athen, hier fanden Flüchtlinge Zuflucht, zu ihm begaben sich z. B. die Herakliden, als sie Hilfe gegen Euristheus erflehten. In SOPHOKLES' Alterswerk „Ödipus in Kolonnos“ sucht Ödipus im Hain der Eumeniden (Eumeniden = die Wohlmeinenden, griechische Rachegöttinen) in Kolonnos Schutz, seinen Frieden, seine Versöhnung mit den Göttern: seinen Tod.

Das Recht, Asyl zu gewähren, konnte Heiligtümern verliehen werden

  • von mächtigen Einzelpersonen (König) oder aber
  • von Städten (Polis Athen) und
  • Städtebünden, wie z. B. in den städtischen Schutzbünden von Heiligtümern, den Amphiktyonien.

Heiligtümer hatten somit zwar nicht die Gewissheit, von Verwüstungen durch vagabundierende Banden verschont zu werden, aber eine Zusicherung des Schutzes durch die örtlich Mächtigen.

Altar als Zufluchtsort: Hikesie

Der Altar ist die eigentliche Zufluchtsstätte. Die Schutzflehenden sind die Hiketiden. Sie genießen einen zeitlich oft begrenzten Schutz, der gewährt werden muss, weil er als heilig gilt. Holen Herren ihre geflohenen Sklaven gewaltsam aus dem Altarraum, oder werden Freie durch ihre Feinde gewaltsam aus dem Tempel getrieben oder auf dem Tempel getötet, so verstoßen sie nicht nur gegen Menschengesetze, sondern vor allem gegen Gesetze der Götter, sie brechen den als heilig geltenden Schutz und können sich des Zornes jenes Gottes vergewissern, unter dessen Schutz die Hiketiden stehen. Zeus Hikesios ist der Patron der Schutzflehenden, aber auch die anderen Götter gewähren Zuflucht, so gewährt Apoll dem Orestes Schutz vor den Rachegöttinnen in den „Eumeniden“ des AISCHYLOS. Apoll war für die Reinigung von Blutschuld zuständig. Er gab Orest den Auftrag, dessen Mutter Klythaimnestra zu töten, weil diese sich mit dem Mord an ihrem Gatten Agamemnon schuldig gemacht hatte. Die Eumeniden wollen dafür Rache, die ihnen Apoll verwehrt. Orest begibt sich in den „Tempel der Pallas Athene zu Athen; vor demselben ein Altar mit dem Bilde der Göttin. Orestes kommt ohne Hermes, setzt sich an den Altar der Göttin und umfasst ihr Bild“ (AISCHYLOS: Die Eumeniden, Regieanweisung). Athene soll über Schuld und Unschuld entscheiden. Orest fleht Athene um Befreiung von der persönlichen Schuld an:

„Ich weiß, in meiner Leiden Übermaß belehrt,
Von vieler Sühnung, weiß auch, wo zu reden recht
Und wo zu schweigen. Aber wie sich jetzt es fügt,
Zu sprechen trug mir da ein weiser Lehrer auf;
Nun schläft die Blutschuld meiner Hand und trocknet auf;
Hinweggewaschen ist des Muttermordes Greul;
Auf Phoibos' Altar ward das Blut, noch war es frisch,
Von mir genommen durch der Opferferkel Blut.
Viel Worte braucht ich, wenn ich alle nennete,
Die mir Gemeinschaft unbeschadet schon gegönnt;
Es macht die Zeit mitalternd uns von allem rein.
Nun aber ruf ich lautren, freudigen Mundes an
Die Herrin dieses Landes Athenaia; sie
Nah mir zum Beistand, und sie wird dann sonder Kampf
Zu Freunden, kampfverbundnen, treu bewähreten,
Mich selbst gewinnen, meine Stadt und Argos' Volk.
Drum ob im fernen Uferlande Libyas
Am Busen Tritons, ihrer väterlichen Flut,
Den Fuß sie beuget oder hochhinschreitend eilt
Zum Schirm der Ihren oder ob sie Phlegras Feld
Gleich rüstgem Feldherrn scharenordnend überschaut,
Sie komme – fern auch hört mich doch der Göttin Huld,
Auf daß sie von mir nehme diese letzte Schuld!“
(AISCHYLOS: Die Eumeniden, siehe PDF "Aischylos – Die Orestie")

Als gestische Manifestation der Asylsuche gilt im Fragment des ALKAIOS auch das Berühren des Kinnes der Götterstatue. So flieht Kassandra in den Tempel der Athene, um Asyl zu erbitten. Der lokrische Ajas versucht, sie vom Altar zu vertreiben. Dabei wirft er das Kultbild der Athena um und zieht sich so den Zorn der Göttin zu. Er entführt Kassandra – ein weiterer Frevel – und kommt schließlich bei der Heimfahrt im Meer um.

Hikesie als Ritual der Bitte

Hikesie (griech. hiketeia) ist das Ritual der Bitte. Dieses ist nicht an ein Heiligtum gebunden. Eine Person bittet eine andere Person mittels stereotyper Wendungen und Handlungen um etwas. Vor allem das Flehen um Mitleid und Erbarmen (Eléison) kennzeichnet die Hikesierituale. ZahlreicheHikesie-Szenen gibt es bereits bei HOMER, Lykaon bittet Achill in der Ilias:

„Flehend umfass' ich dein Knie; erbarme dich meiner, Achilleus!
Deinem Schutz ja ward ich vertraut; drum scheue mich, Edler!
Denn bei dir zuerst genoss ich die Frucht der Demeter,
Jenes Tags, da dein Arm mich ergriff in dem fruchtbaren Obsthain,
Und du fern mich verkauftest, getrennt von Vater und Freunden,
Nach der heiligen Lemnos, und hundert Stiere gewannest.“
(HOMER: Ilias, 21. Gesang, 74-79, siehe PDF "Homer - Ilias")

König Priamos bittet um die Herausgabe des Leichnams seines Sohnes Hektor:

„Diesen erschlugst du jüngst, da er kämpfte den Kampf für die Heimat,
Hektor! Für ihn nun komm' ich herab zu den Schiffen Achaias,
Ihn zu erkaufen von dir, und bring' unendliche Lösung.
Scheue die Götter demnach, o Peleid', und erbarme dich meiner,
Denkend des eigenen Vaters! ich bin noch werter des Mitleids!
Duld' ich doch, was keiner der sterblichen Erdebewohner:
Ach zu küssen die Hand, die meine Kinder getötet!“
(HOMER: Ilias: 24. Gesang, 500-506, vgl.: ebenda)

Neben den Redeformeln gehören zur Hikesie festgelegte Gesten. In der Ilias „umschlang [Priamos] dem Peleiden die Knie', und küsst ihm die Hände“ (HOMER: Ilias, 24. Gesang, 478).

Priamos

„Weinete laut, vor den Füßen des Peleionen sich windend:
Aber Achilleus weinte den Vater jetzo, und wieder
Seinen Freund; es erscholl von Jammertönen die Wohnung.
Aber nachdem sich gesättigt des Grams der edle Achilleus,
Und aus der Brust ihm entfloh der Wehmut süßes Verlangen;
Sprang er vom Sessel empor, bei der Hand den Alten erhebend,
Voll Mitleids mit dem grauenden Haupt, und dem grauenden Barte“
(HOMER: Ilias: 24. Gesang, 510-516, vgl.: ebenda)

Es folgt Rede und Gegenrede. Auch dies ist in der attischen Tragödie ein Ritual. Achill lässt sich erweichen von der Szene: Er erkennt die Hikesie und gibt den Leichnam Hektors frei.
Das Umfassen des Bildes der Pallas Athene durch Orest in AISCHYLOS' „Eumeniden“ entspricht dieser Geste des Priamos.

Als ein weiteres Beispiel für Hikesie mag „Iphigenie in Aulis“ des EURIPIDES (siehe PDF) gelten. Agamemnon soll seine Tochter Iphigenie opfern, weil eine Windstille bei Aulis die Weiterfahrt nach Troja verhindert. Der Seher Kalchas erkennt diese Windstille als Strafe der Göttin Artemis, weil Agamemnon einst eine trächtige Hirschkuh im Heiligen Bezirk der Göttin der Jagd geschossen hatte. Er schickt nach seiner Tochter, diese kommt in Begleitung ihrer Mutter Klythaimnestra nach Aulis. Nun aber kann Agamamnon den Frauen nicht die Wahrheit sagen, statt dessen erfindet er eine bevorstehende Hochzeit zwischen Iphigenie und Achill. Dieser weiß verständlicherweise nichts von seiner bevorstehenden Vermählung. Daraufhin von seiner Frau angesprochen, muss Agamenon sich Klythaimnestra erklären und das Menschenopfer beichten. In ihrer Angst fleht sie den Helden Achill um Beistand an:

Klytämnestra (fällt ihm zu Füßen).
Und ich erröthe nicht, mich vor dir nieder
Zu werfen, ich, die Sterbliche, vor dir,
Den eine Himmlische gebar. Weg, eitler Stolz!
Kann sich die Mutter für ihr Kind entehren?
O, Sohn der Göttin! hab' Erbarmen mit
Der Mutter, mit der Unglückseligen Erbarmen,
Die deiner Gattin Namen schon getragen!

(siehe PDF "Euripides - Iphigenie in Aulis")

Das antike Drama kennt neben der Gestik auch bestimmte äußere Kennzeichen der Hikesie, so sind Wollbinden mitunter Attribute von Schutzflehenden.

Die Problematik von Asylie und Hikesie wird von den drei großen Tragikern AISCHYLOS, SOPHOKLES und EURIPIDES in einigen ihrer Dramen thematisiert:

  • AISCHYLOS:
    Die Schutzflehenden (vielleicht ein Teil der Trilogie „Die Danaiden“)
    Die Orestie
  • EURIPIDES:
    Hiketiden (Die Schutzflehenden)
    Iphigenie in Aulis
    Die Herakliden
    Hekabe
    Medea
  • SOPHOKLES:
    Ödipus in Kolonos (siehe PDF "Sophokles - Ödipus auf  Kolonos")

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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