Décadenceliteratur

Verfalls- und Untergangsmotive

Motive stellen in der Dichtung stofflich-thematische, situationsgebundene Elemente dar, deren inhaltliche Grundform schematisiert beschrieben werden kann.

Im Roman „Radetzkymarsch“ von JOSEPH ROTH (siehe PDF "Joseph Roth - Radetzkymarsch") kann man verschiedene Motive nebeneinander finden:

  • Dienermotiv
  • Enkelmotiv
  • Kaiserbild
  • Untergangsmotiv
  • Radetzkymarsch-Motiv

Verfallsmotive undUntergangsmotive wurden in der bildenden Kunst des Barock sehr häufig verwendet. Der Totenschädel, Käfer, verwelkte oder welkende Blumen oder verdorbenes Obst und Gemüse symbolisierten die Verzweiflung und Ratlosigkeit des Künstlers in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Auch in der Literatur jener Zeit hatte das Verfallsmotiv Hochkonjunktur. Die Vergänglichkeit des Menschen umschreibt ANDREAS GRYPHIUS so:

„Ein bald verschmelzter Schnee
Und abgebrannte Kerzen.“

In seinem Gedicht „An die Welt“ gelingt es dem Dichter, Motive des Verfalls neben die der Hoffnung zu setzen:

„Mein offt besturmbtes Schiff der grimmen winde spiell/
Der frechen wellen baall/ das schier die flutt getrennet/
Das vber klip auff klip'/vndt schaum/vndt sandt gerennet;
Kombt vor der zeit an port/den meine Seele will.

Offt wen vns schwartze nacht im mittag vberfiell:
Hatt der geschwinde plitz die Seegel schier verbrennet!
Wie offt hab ich den Windt/vndt Nord' vndt Sudt verkennet!
Wie schadthafft ist der Mast/ Stewr-ruder/Schwerdt vnd Kiell.

Steig aus du müder Geist! steig aus! wir sindt am Lande!
Was grawt dir für dem portt/itzt wirstu aller bande
Vndt angst/ vndt herber pein/vndt schwerer schmertzen los.

Ade/ verfluchte welt: du see voll rawer stürme:
Glück zu mein vaterlandt/das stätte ruh' im schirme
Vnd schutz vndt friden hält/du ewiglichtes schlos.“

(Gryphius, Andreas: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1, Tübingen: Niemeyer, 1963, S. 61–62)

Kultureller Verfall

Die Dichter der Décadence flüchteten in eine subjektiv übersteigerte Grundhaltung.
RAINER MARIA RILKE (siehe PDF "Rainer Maria Rilke - Die frühen Gedichte") ästhetisierte die Schwermut, den Untergang, die Mühsal in seinen Gedichten:

Todes-Erfahrung

Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das
nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund,
Bewunderung und Liebe oder Haß
dem Tod zu zeigen, den ein Maskenmund

tragischer Klage wunderlich entstellt.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen.
Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen,
spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt.

Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.

Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes
hersagend und Gebärden dann und wann
aufhebend; aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann

uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so daß wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.

(Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M.: Insel, 1955–1966, S. 518–519.)

Der kulturelle Verfall, den NIETZSCHE in seinen Werken (vgl. PDF "Friedrich Nietzsche - Der Fall Wagner") beschrieb, wird in der Literatur der Décadence auf das Traumhafte, das Innen gelenkt und das „Gewöhnliche“ der Umwelt negiert. Die Kunst siegt über den Alltag. Bei GEORGE (vgl. auch PDF "Stefan George - Blätter für die Kunst: Einleitungen und Merksprüche") heißt es: „über das leid / siege das lied“:

STEFAN GEORGE
Melancholie
[Schweige die klage]

schweige die klage!
was euch der neid
zu den gütern beschied
suche und trage.
und über das leid
siege das lied!

so will es die lehre.
er tat es in ehre
schon wieder ein jahr.
der ost wie der süd
ein täuscher ihm war
und nun ist er müd.

am fuß einer eiche
da schuf er ein grab
für mantel und stab.
sie wurden zur leiche:
nun rüst ich zur fahrt
von fröhlicher art.

dann brach der damm
verhaltener quellen.
sein auge ward feucht
er stöhnte... mir deucht
ich soll auch am stamm
meine leier zerschellen.

(George, Stefan: Hymnen, Pilgerfahrten, Algabal. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 2, Berlin: Georg Bondi, 1928, S. 69–71.)

Mit OSWALD SPENGLERs „Der Untergang des Abendlandes“ (siehe PDF "Oswald Spengler - Der Untergang des Abendlandes", 1918) fanden die Dichter der Décadence einen weiteren Fürsprecher für ihre Haltung. Das Buch war in den Zwanzigerjahren eines der meistdiskutierten Deutschlands. THOMAS MANN distanzierte sich von seinem Inhalt, HERMANN HESSE lobte es. ROBERT MUSIL sprach sich gegen die darin geäußerten Gedanken aus, THEODOR WIESENGRUND ADORNO und ERNST BLOCH lobten die Theorien.

„In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf der Erde in Vollendung begriffen ist, derjenigen Westeuropas, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen. [...] Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allem Zufälligen und Unberechenbaren der singulären Ereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit geringeren Ranges vielmehr erst hervorruft? Erscheinen die großen Momente der Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer wieder in einer Gestalt, die Schlüsse zuläßt? Und wenn — wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? Ist es möglich, im Leben selbst — denn menschliche Geschichte ist der Inbegriff von ungeheuren Lebensläufen, als deren Ich und Person schon der Sprachgebrauch unwillkürhch Individuen höherer Ordnung wie „die Antike", „die chinesische Kultur" oder „die moderne Zivilisation" denkend und handelnd einführt — die Stufen aufzufinden, die durchschritten werden müssen und in einer Ordnung, die keine Ausnahme zuläßt? Haben die für alles Organische grundlegenden Begriffe Geburt, Tod, Jugend, Alter, Lebensdauer in diesem Kreise vielleicht einen strengen Sinn, den noch niemand erschlossen hat? Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?“
(Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes, 1. Band. München: C. H. Beck, 1920, S. 3., vgl. PDF "Oswald Spengler - Der Untergang des Abendlandes")

Die acht Hochkulturen

  • Ägypten,
  • Indien,
  • Babylonien,
  • China,
  • die griechisch-römische Antike,
  • das europäisch-nordamerikanische Abendland,
  • die Maya-Kultur,
  • und Arabien

durchlaufen – wie der Mensch selbst – die Entwicklungstadien von Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Verfall und Tod, behauptete SPENGLER. Die Antike sei tot und das Abendland stürbe nun auch. Mit ihm ginge seine Kultur unter. Luxus, Sport, Eklektizismus sowie Kunstwerke ohne inneren Gehalt begleiteten diesen Untergang.

Das Ende der Décadence

Mit dem verlorenen Ersten Weltkrieg (1914–1918) und der Etablierung expressionistischen Denkens in der Kunst zeichnete sich das Ende der Décadence ab. Als philosophische Grundhaltung lebte sie jedoch in späteren Kunstströmungen weiter. So sprachen SPENGLER noch in den 20er- und 30er-Jahren von der Kulturdekadenz, GEORG SIMMEL von der Tragödie der Kultur, THEODOR LESSING von der verfluchten Kultur und EDUARD SPRANGER von der Krise der Kultur.

Und auch die Realismus-Debatte von 1938, unter deutschen Exilautoren in der Zeitschrift „Internationale Literatur“ geführt, sowie die Formalismus-Debatte ab 1948 und die Kafka-Konferenz von 1963 in der DDR zeigen, wie sehr die Angst vor einem kulturellen Verfall die damaligen Kulturverantwortlichen ergriffen hatte. Die bevorzugte Gattung der Décadence war die Lyrik. Generell ist eine Trennung der Décadenceliteratur von anderen Fin-de-siècle-Strömungen jedoch nicht möglich. Die Autoren der Jahrhundertwende können lediglich über ihre Werke der einen oder anderen literarischen Richtung zugeordnet werden.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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