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- Deutsch Abitur
- 4 Literaturgeschichte
- 4.7 Literatur des 18. Jahrhunderts
- 4.7.2 Sturm und Drang
- Der Roman der Sturm- und Drang-Zeit
Der Roman der Aufklärung war meist ein statisch angelegtes Konstrukt, die Figuren wirkten exemplarisch und vertraten entweder die eindeutig positiven Werte des bürgerlich-aufklärerischen Ideals in seinen verschiedenen Varianten oder waren die negativen Gegenfiguren dieses Ideals. Individuelle Entwicklungen wurden im deutschen Roman der Aufklärung kaum gestaltet. Besonders die Familienromane des Briten SAMUEL RICHARDSON (1689–1761) zeichneten sich jedoch durch eine neue Qualität aus. Seine Romanfiguren mussten sich durch vielfältiges Leiden bewähren, was zu einer gesteigerten Empfindsamkeit führte. Mit ihm wurden englische Romane maßgebend für die deutsche Romanentwicklung.
In seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ (1774, siehe PDF 1) verarbeitet GOETHE eigene Erlebnisse mit CHARLOTTE BUFF, aber auch die biografischen Reflexe seines Bekannten KARL WILHELM JERUSALEM aus seiner Zeit in Wetzlar.
GOETHE kam am 10. Mai 1772 als Rechtspraktikant am Reichskammergericht nach Wetzlar. Er lebte zusammen mit JAKOB HEINRICH BORN, einem Bekannten aus der Leipziger Studienzeit und Sohn des Bügermeisters von Leipzig in einem Haus.
Nach der unglücklichen Liebe zu CHARLOTTE BUFF verließ GOETHE Wetzlar am 11. September 1772 wieder. Nach dem Freitod des Gesandtschaftssekretärs KARL WILHELM JERUSALEM Ende Oktober 1772 kehrte GOETHE vom 6. bis 10. November 1772 noch einmal für kurze Zeit nach Wetzlar zurück.
JERUSALEMs Selbstmord war für GOETHE der Auslöser für seinen Roman „Die Leiden des jungen Werthers“. Darin verbindet er die eigenen Erlebnisse mit seiner angebeteten CHARLOTTE BUFF mit dem Schicksal JERUSALEMs, das er in Gesprächen mit Personen, die kurz vor seinem Tod noch mit ihm zu tun gehabt hatten, ergründete.
Die Verbindung von Leidenschaft, Gesellschaftskritik und Natursehnsucht setzte eine Welle von Empfindsamkeit in Gang, die dem Zeitgefühl entsprach und dem Roman eine sensationelle Wirkung bescherte.
„Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf“.
(Goethe in „Dichtung und Wahrheit“)
Vor einem Ball lernt Werther Lotte kennen und liebt sie leidenschaftlich, obwohl er weiß, dass sie schon an den strebsam nüchternen Albert vergeben ist. Als der Verlobte auftaucht, muss er erkennen, dass ihm Lotte versagt bleibt. Da stürzt er vom höchsten Glücksgefühl in tiefste Verzweiflung. Seine Lage wird unerträglich. Werther nimmt eine Stelle in einer Gesandtschaft an, doch Adelsdünkel und Engstirnigkeit drängen ihn aus dem Amt. Er kehrt zur inzwischen verheirateten Lotte zurück. Als er die Ausweglosigkeit seiner Lage erkennt, erschießt er sich.
Der absolute Geltungsanspruch von Werthers Gefühl ist unvereinbar mit den Institutionen der Gesellschaft (Ehe, Beamtenberuf ...). Es ist seine Tragik, dass ihn seine Empfindungsfülle zerstört, dass sein unbedingter Freiheitswille ihn in den Tod treibt. Der Schwärmer, der aus der Ichseligkeit seiner Empfindungen in die Leere hinabstürzt, wirkt als Protestfigur gegen die enge Ständegesellschaft.
Um die Unbedingtheit seiner Gefühle zum Ausdruck zu bringen, richtet die Hauptfigur Werther einseitig Briefe an seinen Freund Wilhelm, in denen er sich unmittelbar mitteilt. Die Gattung des Briefromans verliert hier ihren dialogischen Charakter, da angemessene Antworten nicht mehr vorstellbar sind. Um so intensiver erfasst der Leser das Geschehen aus der Perspektive der Zentralfigur.
Auf kirchlicher Seite entfachte der „Werther“ einen Proteststurm. Die junge Generation hingegen fühlte sich verstanden und nahm den Roman begeistert auf. Ein Werther-Fieber brach aus, Werther-Mode wurde getragen, begleitet von einer Selbstmordwelle im Wertherstil. Zahlreiche Parodien und Nachdichtungen verstärkten das Interesse am Werther-Stoff.
Eine ungewöhnliche Rezeption erfuhr GOETHEs Roman zweihundert Jahre nach der ersten Niederschrift. 1972 erschien ULRICH PLENZDORFs (1934–2007) Erzählung „Die neuen Leiden des jungen W.“. Der Autor übernahm das Handlungsmuster, um das Lebensgefühl der jungen DDR-Generation zu formulieren. Edgar Wibeau, der junge Werther in Bluejeans, verwendet Zitate aus dem „Old Werther“, um sich seiner Befindlichkeit mithilfe vorformulierter Sätze zu vergewissern.
Die Titelfigur von FRIEDRICH HEINRICH JACOBIs (1743 – 1819) Romanfragment „Aus Eduard Allwills Papieren“ (1775 – 1776, siehe PDF "Friedrich Heinrich Jacobi - Eduard Allwills Papiere") ist als „Zwillingsbruder Werthers“ bezeichnet worden. Auch er wird wie Werther zum Verkünder eines Naturglaubens im Sinne ROUSSEAUs.
Im Jahre 1787 erschien ein Roman mit dem Titel „Ardinghello und die glücklichen Inseln“ (siehe PDF "Wilhelm Heinse - Ardinghello und die glückseligen Inseln") des Autors WILHELM HEINSE (1746 –1803). Obwohl der Autor sich nie dem Sturm und Drang zugehörig fühlte und auch von GOETHE und SCHILLER mit Missachtung gestraft wurde, trägt sein Held die Züge dichterischen Selbsthelfertums und geniehaften Originalschöpfertums.
Prospero Frescobaldi, für Stürmer und Dränger das Ideal eines begnadeten Menschen – jung, schön, voll Leidenschaft, voll Geist und Sinnlichkeit –, hält sich unter dem Decknamen Ardighello als Maler in Venedig auf. Hier lernt er die schöne Cäcilia kennen, die seinen Lebensweg schicksalhaft bestimmen soll. Der Widerspruch zwischen der Freiheit der jungen Liebe und der Befangenheit in traditionellen Vorstellungen bricht auf, als der Stadthalter von Kandia um die Geliebte wirbt und von der Familie als zukünftiger Bräutigam angenommen wird. Die „Rachenovelle“ im Stile der Renaissance endet im ersten Teil des Romans mit der Ermordung des Ehemanns auf dessen Hochzeitsfest. In den zwei folgenden Teilen lernt der Held weitere Frauen kennen, die sich in unterschiedlicher Weise von konventionellen Zwängen befreit haben, aber ihre angestrebte Freiheit nicht ausleben können. Der Roman endet folgerichtig in einer Utopie. Da sich das Ideal des freien Menschen in einer freien Gesellschaft nicht verwirklichen lässt, beschließt Ardinghello, mit seinen Freunden und Freundinnen auf den Inseln Naxos und Paros im Ägäischen Meer einen Idealstaat zu gründen.
Mit der ungehemmten Sinnlichkeit, dem unbedingten Altruismus und der aggressiven Verachtung der ständischen Gesellschaftshierarchie seines Helden weist HEINSE einen Weg zur Selbstverwirklichung des Individuums, das am Vorabend der Französischen Revolution ein Licht auf die auch in Deutschland auf der Tagesordnung stehenden gesellschaftlichen
Veränderungen warf.
FRIEDRICH MAXIMILIAN KLINGERs (1752 –1831) philosophischer Reiseroman „Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt“ (siehe PDF "Friedrich Maximilian Klinger - Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt") aus dem Jahre 1791 setzt bereits den Schlusspunkt unter das Romanschaffen der Stürmer und Dränger, das insgesamt keineswegs eine Ausprägung erfuhr wie etwa die dramatische Kunst.
Faust war, wie auch Prometheus, eine Lieblingsgestalt der Stürmer und Dränger. Der Rebell, der es wagt, die göttliche Macht in Frage zu stellen, die Grenzen seiner Möglichkeiten zu überschreiten, war eine literarische Verkörperung der Probleme, die die junge Generation bewegte.
KLINGERs Roman war die erste umfassende Beschäftigung mit dem Faust-Thema, nur LESSINGs und GOETHEs Fragmente und Maler MÜLLERs Dramen gingen ihm voraus. Nach GOETHEs später entstandenem Drama ist KLINGERs Faust der bedeutendste, weil er das abschreckende Gesicht der Feudalgesellschaft so schonungslos darstellt wie keine andere Dichtung am Ende des 18. Jahrhunderts.
In KLINGERs Roman wird der Alchimist GEORG FAUST (geboren um 1480) mit dem Buchdrucker JOHANNES FUST (geb. etwa 1400) identifiziert, der als Finanzier JOHANNES GUTENBERGs maßgeblich an der Erfindung des Buchdrucks beteiligt war.
Der Buchdrucker muss erfahren, dass seine Erfindung, die eine Quelle des Guten und der Verbreitung des Wissens werden könnte, keine Förderung durch die Machthaber erfährt. Seine Sehnsucht nach Freude, Freiheit und letztendlich Anerkennung wird von der Sorge um das tägliche Brot für sich und seine Familie verdrängt. In seiner Not ruft er den Teufel. Im zweiten bis vierten Buch durchstreift Faust Deutschland und Europa
und lernt die Machtstrukturen und Willkür der Herrschenden kennen. Im fünften Buch, nach Deutschland zurückgekehrt, zieht Faust ein düsteres Fazit. In einer Art Epilog erkennt er, dass er, der ausgezogen war, das Böse mit Hilfe seiner Erfindung zu bekämpfen und Gerechtigkeit herzustellen, das Gegenteil bewirkte. Fast überall brachte sein Eingreifen den Menschen noch mehr Böses.
KLINGER unterzieht in seinem Roman alle gesellschaftlichen Institutionen einer strengen Kritik. Sein Ideal von Freiheit ist dabei nicht mehr das rebellische, überindividualisierte Aufbegehren gegen jegliche Beschränkung und Verpflichtung, sondern die reife Forderung nach freier Entwicklung und Formung der Persönlichkeit, unbeeinträchtigt von Despotismus und Tyrannei:
Der Buchdrucker muss erfahren, dass seine Erfindung, die eine Quelle des Guten und der Verbreitung des Wissens werden könnte, keine Förderung durch die Machthaber erfährt. Seine Sehnsucht nach Freude, Freiheit und letztendlich Anerkennung wird von der Sorge um das tägliche Brot für sich und seine Familie verdrängt. In seiner Not ruft er den Teufel. Im zweiten bis vierten Buch durchstreift Faust Deutschland und Europa
und lernt die Machtstrukturen und Willkür der Herrschenden kennen. Im fünften Buch, nach Deutschland zurückgekehrt, zieht Faust ein düsteres Fazit. In einer Art Epilog erkennt er, dass er, der ausgezogen war, das Böse mit Hilfe seiner Erfindung zu bekämpfen und Gerechtigkeit herzustellen, das Gegenteil bewirkte. Fast überall brachte sein Eingreifen den Menschen noch mehr Böses.
„Glaubt darum nicht, ich sei einer der Toren, welche die Freiheit dahinein setzen, daß jeder tun kann, was ihm gefällt. Wohl weiß ich, daß die Kräfte des Menschen verschieden sind und ihre Lage im bürgerlichen Leben bestimmen müssen, aber da ich mich nach Gesetzen umsah, die einem jeden diese Lage, sein Gut und seine Person sicherten, so fand ich nichts als ein wildes Chaos, das tyrannische Gewalt geflissentlich zusammengemischt hat, um sich zum eigenmächtigen Herrn des Glücks und des Daseins der Untertanen zu machen.“
(Klinger, Friedrich Maximilian: Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Ausgew. u. eingel. v. Hans Jürgen Geerts, Berlin: Aufbau Verlag, 1970, S. 91)
KLINGERs „Faust“ erfreute sich bei den Zeitgenossen großer Nachfrage. Schnell gab es drei Nachdrucke (die Raubdrucke nicht mitgezählt). Der Roman wurde schon zu Lebzeiten KLINGERs mehrmals für das Theater bearbeitet und ist auch über die Grenzen Deutschlands bekannt geworden. Kurz nach dem Erscheinen wurde er ins Englische, Französische, Schwedische und Holländische übersetzt.
Offensichtlich auch in Anspielung auf sein Zerwürfnis mit GOETHE stellte KLINGER im Vorwort zum „Faust“ fest, er habe von all dem,
„was bisher über Fausten gedichtet und geschrieben worden, nichts genutzt, noch nutzen wollen“.
Sein „Faust“ sei „sein eigenes Werk, es sei wie es wolle“.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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