Friedrich von Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen

Entstehungsgeschichte der Briefe

Die Entstehungszeit der Briefe reicht ins Jahr 1791 zurück. In jenem Jahr erkrankte SCHILLER schwer. Damals hielt sich der dänische Autor JENS BAGGESEN (1764–1826) in Weimar auf. BAGGESEN hatte zunächst nur das Drama „Don Carlos“ gelesen und war von Stund an SCHILLER-Fan:

Schiller ist ohne Zweifel der erste unter allen Shakespeare-Söhnen – der Joseph unter seinen dramatischen Brüdern“,
(in: Schiller und der Herzog von Augustenburg in Briefen. Mit Erläuterungen von Hans Schulz. Jena, 1905. S. 6.)

schrieb er. Der Däne besuchte den Deutschen in Jena. Wissend um die prekäre finanzielle Lage SCHILLERs, versuchte BAGGESEN von Kopenhagen aus dem Deutschen zu helfen. Sein „Arbeitgeber“, der dänische Erbprinz FRIEDRICH CHRISTIAN VON SCHLESWIG-HOLSTEIN-AUGUSTENBURG (1765–1814), Schwager des dänischen Kronprinzen FRIEDRICH, war zunächst nicht zu bewegen, Hilfe zu gewähren. BAGGESEN erinnerte sich:

„Der Prinz von Augustenburg war gegen Schiller eingenommen und verkannte ganz seinen Genius. Mit sehr viel Mühe brachte ich es dahin, daß er mir erlaubte, ihm Don Carlos vorzulesen. ,Ich zweifle sehr,' sagte er, ,daß wir diese Lektüre zu Ende bringen werden; indessen – weil Sie gewettet haben' – . Ich las. Ich hatte mir im voraus bedingt, daß er schlechterdings den ersten Akt anhören müsse. Er wurde hingerissen – ich las nicht nur Don Carlos aus – aber als ich den folgenden Tag dies Auslesen anfing, hatte er schon in der Nacht alles Übrige gelesen. Jetzt weiß er die vorzüglichsten Szenen auswendig. Nun wurde alles von Schiller gelesen und wiedergelesen. Was ist natürlicher? Welche selige Stunden haben uns nicht Don Carlos, die Geschichte des Abfalls der Niederlande usw. hingezaubert?“
(ebenda. S. 9f.)

Nun musste er nur noch den damaligen dänischen Finanzminister ERNST VON SCHIMMELMANN überzeugen. Man war mit den Vorbereitungen für einen Ausflug beschäftigt, als das Gerücht um SCHILLERs Tod Kopenhagen erreichte. So gab man eine Totenfeier für den deutschen Dichter, auf dem einige seiner Werke gelesen wurden. Letztlich klärte sich das Missverständnis um SCHILLER auf, aber die Lesungen hinterließen einen bleibenden Eindruck, und so erreichten BAGGESEN und der Erbprinz, dass VON SCHIMMELMANN mit von der Partie war. Gemeinsam zahlten sie an SCHILLER eine dreijährige Pension von jährlich 1000 Taler (siehe PDF "Herzog Friedrich Christian von Augustenburg / Graf Ernst von Schimmelmann - An Schiller" und PDF "Friedrich Schiller - An den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg und den Grafen Ernst von Schimmelmann").

SCHILLER schrieb am 19. Dezember 1791 voll Dankbarkeit einen Brief zurück:

„Zu einer Zeit, wo die Ueberreste einer angreifenden Krankheit meine Seele umwölkten und mich mit einer finstern traurigen Zukunft schreckten, reichen Sie mir, wie zwey schützende Genien, die Hand aus den Wolken. Das großmüthige Anerbieten, das Sie mir thun, erfüllt ja übertrifft meine kühnsten Wünsche. Die Art mit der Sie es thun, befreyt mich von der Furcht, mich Ihrer Güte unwerth zu zeigen, indem ich diesen Beweis davon annehme. Erröthen müßte ich, wenn ich bei einem solchen Anerbieten an etwas anders denken könnte, als an die schöne Humanität, aus der es entspringt, und an die moralische Absicht, zu der es dienen soll. Rein und edel, wie Sie geben, glaube ich, empfangen zu können. Ihr Zweck dabey ist, das Gute zu befördern; könnte ich über etwas Beschämung fühlen, so wäre es darüber, daß Sie Sich in dem Werkzeug dazu geirrt hätten. Aber der Beweggrund, aus dem ich mir erlaube es anzunehmen, rechtfertigt mich vor mir selbst und läßt mich, selbst in den Fesseln der höchsten Verpflichtung mit völliger Freiheit des Gefühls vor Ihnen erscheinen. Nicht an Sie, sondern an die Menschheit habe ich meine Schuld abzutragen. Diese ist der gemeinschaftliche Altar, wo Sie Ihr Geschenk und ich meinen Dank niederlege. Ich weiß, meine Verehrtesten, daß nur die Ueberzeugung, von mir verstanden zu seyn, Ihre Zufriedenheit vollendet; darum und darum allein erlaubte ich mir, dieß zu sagen.“
(ebenda S. 41–-44)

In der Folge schrieb er eine Reihe von Briefen an den Herzog, die als die Augustenburger Briefe bekannt wurden. Sie waren allerdings 1794 bei einem Schlossbrand vernichtet worden, sodass SCHILLER sich genötigt sah, auf der Grundlage des Verlorenen seine Überlegungen neu zu formulieren.
SCHILLERs Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (siehe PDF "Friedrich Schiller - Über die ästhetische Erziehung des Menschen") erschienen im Januar 1795 in den „Horen“. Er deklarierte sie als „Untersuchungen über das Schöne und die Kunst“. Dabei griff er auch seine Thesen aus seiner Rede „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ (siehe PDF "Friedrich Schiller - Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet") sowie aus „Kallias, oder über die Schönheit“ (1793, siehe PDF "Friedrich Schiller - Kallias oder über die Schönheit")  und „Anmut und Würde“ (1793) wieder auf: Er appellierte an den „moralischen Adel der menschlichen Natur“.

Er orientierte sich an den „Kantischen Grundsätzen“, wie er in der Einleitung (Brief 1) betonte.
SCHILLER glaubte an den sittlichen Vernunftstaat:

„Dieser reine Mensch, der sich mehr oder weniger deutlich in jedem Subjekt zu erkennen gibt, wird repräsentiert durch den Staat,“

formulierte er.

„Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen.“

SCHILLERs Denkansatz

SCHILLER war zunächst ein glühender Anhänger der Französischen Revolution. Nach der Hinrichtung LUDWIGs XVI. 1793 schien sie ihm gescheitert. Nicht also in Frankreich suchte er das Ideal einer Gesellschaft, da der revolutionäre Terror die Köpfe rollen ließ, sondern in der griechischen Antike sah er es. Das musste auch seine Haltung zur Veränderbarkeit menschlicher Gesellschaften ändern. Keine Revolte, wie in den „Räubern“ konnte die Gesellschaft ändern, sondern nur die Erziehung des Menschengeschlechts.
Aber – entgegen früherer Haltungen – sieht er Veränderbarkeit des Menschen nicht mehr in der bloßen rationalen Aufklärung, sondern im Harmoniebestreben:

„Der zweite jener Triebe, den man den Formtrieb nennen kann, geht aus von dem absoluten Dasein des Menschen oder von seiner vernünftigen Natur und ist bestrebt, ihn in Freiheit zu setzen, Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen und bei allem Wechsel des Zustands seine Person zu behaupten“
(SCHILLER, vgl. PDF "Friedrich Schiller - Kallias oder über die Schönheit").

Das ist schon klassische Denkhaltung. Harmonie wird erreicht durch den Ausgleich von Sinnlichkeit und Vernunft, oder von Stofftrieb und Formtrieb:

„Wir sind nunmehr zu dem Begriff einer solchen Wechselwirkung zwischen beiden Trieben geführt worden , wo die Wirksamkeit des einen die Wirksamkeit des andern zugleich begründet und begrenzt, und wo jeder einzelne für sich gerade dadurch zu seiner höchsten Verkündigung gelangt, daß der andere tätig ist“.
(SCHILLER, PDF "Friedrich Schiller - Kallias oder über die Schönheit")

Stofftrieb und Formtrieb

SCHILLER stellt in seinem Denkgerüst eine Formel auf, die etwa so lautet:

Formtrieb + Stofftrieb = Spieltrieb,

wobei gilt:

Gegenstand des Stofftriebes = Leben in weitester Bedeutung (Physis + Sinne = natürliches Dasein des Menschen);
+
Gegenstand des Formtriebes
=
lebende Gestalt
(„alle formalen Beschaffenheiten der Dinge und alle Beziehungen derselben auf die Denkkräfte unter sich“, also: Ausdruck des Geistes)
=
Gegenstand des Spieltriebes
=
der harmonische Ausgleich der Triebe.

Das ist SCHILLERs Begriff der totalen Harmonie. Dieser Begriff ist für ihn nichts weniger als:

„Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Notwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit“.

Die totale Harmonie erreicht der Mensch durch das Spiel.
Das Spiel ist für SCHILLER der Zustand der Leichtigkeit, der mittels der Kunst erreicht wird. Somit wird die Kunst zu einem zentralen Begriff für die Erreichung des Vernunftstaates.

Der Vernunftstaat

Der Naturstaat „bleibt seinen Bürgern fremd“, nur der Vernunftstaat erreicht ein selbstbestimmtes Leben seiner Bewohner.

„Vor einer Vernunft ohne Schranken ist die Richtung zugleich die Vollendung, und der Weg ist zurückgelegt, sobald er eingeschlagen ist..,.. gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen.“
(SCHILLER, PDF 2)

Er kommt zu dem Schluss:

„Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs.“

Schiller nennt ihn den „Staat des schönen Scheins“, den Staat „innerer wie äußerer Freiheit“.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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