Märchen

Begriff und Merkmale

Bei Märchen (mhd.: maere = Kunde, Bericht, bekannte Geschichte) handelt es sich um kürzere, aus der mündlichen Volkstradition aller Völker überlieferte Prosaerzählungen. Sie gehören zu den frühesten Formen naiver, künstlerischer Welt- und Naturaneignung überhaupt. Märchen lebten über Jahrhunderte durch mündliche Weitergabe von Generation zu Generation vor allem in bäuerlich-plebejischen Schichten fort. Daraus erklärt sich ein gewisser Grundbestand an Stoffen und Motiven und die Existenz zahlreicher Varianten. Ihre systematische Sammlung und Aufzeichnung fand erst im 18. Jahrhundert mit der Besinnung auf die Wurzeln der Nationalliteraturen statt. Zu dieser Zeit setzte nicht nur die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Volksmärchen ein, bekannte Autoren wie

  • CHRISTOPH MARTIN WIELAND,
  • JOHANN WOLFGANG VON GOETHE,
  • FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUE,
  • CLEMENS BRENTANO,
  • ACHIM VON ARNIM und
  • WILHELM HAUFF

schufen vielmehr auch zahlreiche Kunstmärchen.

Das heutige Verständnis von Volksmärchen ist durch die umfangreiche und akribische Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ (1812–1815) der Brüder GRIMM geprägt. Sowohl der Textkorpus als auch die gattungstheoretischen Überlegungen der GRIMMs bestimmen maßgeblich die bis heute gültige Definition des Genres.

Merkmale

Märchen sind durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet:

Im Gegensatz zu den Sagen und Legenden, die sich auf Geschehnisse, Orte oder Personen berufen, die als verbürgt gelten, sind Märchen frei erfunden.

  • Während in Sage und Legende das wunderbare Geschehen eigens herausgehoben wird, geschehen im Märchen Wunder und Zaubereien, als seien sie vollkommen selbstverständlich: sprechende Tiere und Gegenstände („Die Bremer Stadtmusikanten“, „Der gestiefelte Kater – siehe PDF "Brüder Grimm – Kinder- und Hausmärchen", „Frau Holle“), wieder zum Leben erweckte Tote („Schneewittchen“), herabregnende Schätze („Aschenbrödel“, „Frau Holle“), sich verzaubernde Menschen („Der Froschkönig“, „Dornröschen“, „Schneewittchen“, „Brüderlein und Schwesterlein“) usw.
  • Die Handlung des Märchens ist einsträngig und auf einen Helden oder eine Gruppe von Akteuren („Strohhalm, Kohle und Bohne“, „Hänsel und Gretel“) konzentriert. Aus deren Erlebnissen ergibt sich die episodische Reihung des Geschehensablaufs.
  • Märchen folgen oft einem festen Erzählschema – der Held muss Mutproben absolvieren, Hindernisse überwinden, überirdische Hilfe in Anspruch nehmen, die Prinzessin aus den Fängen des Drachen befreien, sich in einem Spukschloss aufhalten, Riesen überlisten oder einen Zauber lösen.
  • Auch die Figurenwelt ist stark typisiert: der tapfere Prinz, die gute Fee, die böse Hexe, die schöne Prinzessin, der letztlich triumphierende Schwache. Die Figuren bekommen keine charakterliche Schärfe, ihr Handeln wird nicht psychologisch motiviert.
  • Bestimmte Grundsituationen kehren in den Märchen in Variationen immer wieder, sie ähneln einander sogar in Märchen aus verschiedenen Kulturkreisen.
  • Im Märchen, und darin unterscheidet es sich vom älteren Mythos, sind die Rollen von Gut und Böse klar festgelegt. Die Handlung zielt letztlich immer auf den Sieg des Guten, Erniedrigung und Benachteiligung kehren sich in Triumph „Und nun fehlte nichts mehr zu ihrem Glück, solange sie lebten.“ – „Der goldene Vogel“), aus anfänglicher Not wird Gewinn („Da sammelte es sich die Taler hinein und war reich für sein Lebtag.“ – „Sterntaler“), Bosheit findet ihre gerechte Strafe („Da ward sie mit ihrem Helfershelfer in ein durchlöchertes Schiff gesetzt und hinaus ins Meer getrieben, wo sie bald in den Wellen versanken.“ – „Die drei Schlangenblätter“).
  • Die Erzählform ist oft dialogisch und besonders am Anfang und am Ende finden sich die formelhaften Formulierungen wie: „Es war einmal …“, „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Der Märchenbeginn führt sofort mitten in das Geschehen: „Es war einmal ein Förster, der ging in den Wald auf die Jagd, und wie er in den Wald kam, hörte er schreien, als ob's ein kleines Kind wäre.“ – („Fundevogel“).
  • Eine wichtige Rolle spielt die Symbolik der Zahlen Drei und Sieben (die sieben Raben; die sieben Zwerge; Mäuschen, Vögelchen und Bratwurst; die drei Faulen; drei Wünsche hat der Held frei; drei Mutproben muss er bestehen; drei Rätsel lösen, Das Märchen von den drei Schwestern).

Historie

JOHANN GOTTFRIED VON HERDER zeigte in seinem Aufsatz „Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst“ (1777), dass aus Märchen, Volkssagen und Mythologie die Nationaldichtungen hervorgegangen sind. In der historischen Phase der Herausbildung des Nationalbewusstseins der Deutschen und insbesondere durch die Beschäftigung der Romantiker mit dem Mittelalter und volkskundlichen Überlieferungen war das Interesse am Volksmärchen geweckt.

Der Weimarer Gymnasialprofessor JOHANN KARL AUGUST MUSÄUS hatte bereits von 1782–1786 eine Sammlung „Volksmärchen der Deutschen“ vorgelegt. Seine Märchen-Ausgabe liegt noch vor den theoretischen Debatten um den Gattungsbegriff. Viele seiner Märchen tendieren daher zur Sage, sind im Kern zwar Volksüberlieferungen, aber stark dichterisch bearbeitet.

1812–1815 schufen die Brüder JACOB und WILHELM GRIMM ihre beispielhafte Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“ (siehe PDF "Brüder Grimm – Kinder- und Hausmärchen"), die sie ein halbes Jahrhundert lang immer wieder überarbeiteten und vervollständigten. Nach ihrem Vorbild entstanden in den folgenden Jahren weitere Sammlungen mit Märchen aus anderen Regionen des deutschsprachigen Raumes. Die Brüder GRIMM betonen in ihrem Vorwort zu den „Kinder- und Hausmärchen“ die Authentizität der unverfälschten Überlieferung und schildern anschaulich, wie ihnen die Märchen von Leuten aus dem Volk mitgeteilt wurden. Allerdings haben sie sehr wohl in die Textgestalt und Sprachform der Märchen eingegriffen. So war es beispielsweise ihr erklärtes Ziel, ein „Erziehungsbuch“ zu schaffen.

„Dabei haben wir jeden für das Kindesalter nicht passenden Ausdruck in dieser Auflage sorgfältig gelöscht.“

Zudem nahmen sie auch bereits von Dichtern bearbeitete Märchenfassungen auf.

Das „Deutsche Märchenbuch“ von LUDWIG BECHSTEIN (1857) war im 19. Jahrhundert äußerst einflussreich und in vielen Haushalten verbreitet. BECHSTEIN hat die von ihm gesammelten Volksmärchen oft stark bearbeitet, zusammengefasst und neu erzählt. Er verstand Märchen vor allem als Instrument für die sittliche Erziehung von Kindern und stellte die alten und einfachen Tugenden wie Bescheidenheit, Fleiß und Frömmigkeit besonders heraus.

Mit der philologischen Arbeit der Brüder GRIMM waren Märchen zur ausdrücklichen Lektüre für Kinder geworden. Und erst die Drucklegung fixierte und kanonisierte sie gleichsam, schuf nunmehr eine gültige Textgrundlage, denn bis dahin kursierten sie in den Versionen ihrer zahlreichen anonymen Erzähler. Auch die Unterscheidung von Volksmärchen und Kunstmärchen ist mithin ein Ergebnis jener Diskussionen, die sich im 18. Jahrhundert um das Genre entsponnen.

Im Gegensatz zum Volksmärchen können für das Kunstmärchen jeweils exakt der Verfasser und die Entstehungszeit angegeben werden. Zwar geht es auch im Kunstmärchen phantastisch und wunderbar zu, jedoch ist es in der Anlage weniger schematisch und in der Ausführung weitaus kunstvoller als das Volksmärchen. Die Gestaltung der Konflikte und Charaktere ist wesentlich tiefer gehend und differenzierter.

Angeregt durch französische Feenmärchen und die orientalischen „Märchen aus 1001 Nacht“ schuf zunächst CHRISTOPH MARTIN WIELAND das Kunstmärchen „Geschichte des Prinzen Biribinker“ in dem Roman „Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder Die Abenteuer des Don Silvio von Rosalva“ (1764).

JOHANN WOLFGANG VON GOETHEs „Märchen“ (1795) aus den „Erzählungen deutscher Ausgewanderter“ und „Die neue Melusine“ (1807) wirkten nachhaltig auf die Romantiker, für die Märchen die Poesie schlechthin bedeuteten und deren Märchendichtungen zum bedeutenden romantischen Erzählschatz gehören.

 

Bekannte Märchen der Romantik

  • LUDWIG TIECK, „Der blonde Eckbert“ in: „Volksmärchen“ (1796); Märchenspiele: „Der gestiefelte Kater“ und „Ritter Blaubart“ (alle 1797);
  • FRIEDRICH DE LA MOTTE FOUQUE, „Undine (1811, siehe PDF "Friedrich de la Motte Fouqué – Undine")
     
  • ADELBERT VON CHAMISSO, „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1814, siehe PDF "Adelbert von Chamisso – Peter Schlemihls wundersame Geschichte");
  • GEORG WILHEM SALICE CONTESSA, „Das Gastmahl“ (1816);
  • E. T. A. HOFFMANN, „Der goldene Topf“ (1814); „Klein Zaches, genannt Zinnober“ (1819); „Nussknacker und Mausekönig“ (1816);
  • CLEMENS BRENTANO, „Gockel, Hinkel und Gackeleia“ (1838);
  • WILHELM HAUFF, „Märchenalmanach auf das Jahr 1826/27“.

 

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ragen die Märchendichtungen von

  • THEODOR STORM („Die Regentrude“, „Der Spiegel des Cyprianus“, „Bulemanns Haus“, 1864),
  • EDUARD MÖRIKE („Das Stuttgarter Hutzelmännlein“, 1852),
  • LUDWIG ANZENGRUBER („Die Märchen des Steinklopferhanns“, 1873–1875) sowie
  • die des Dänen HANS CHRISTIAN ANDERSEN (siehe siehe PDF "Hans Christian Andersen – Märchen") und des Engländers OSCAR WILDE hervor.

Auch im 20. Jahrhundert haben Dichter Märchen verfasst, z. B. HUGO VON HOFMANNSTHAL „Das Märchen der 672. Nacht“ (1895) und die „Die Frau ohne Schatten“ (1919). Auch Märchen für Kinder entstehen nach wie vor. Stellvertretend sei FRANZ FÜHMANN genannt, der sich nicht nur theoretisch über Märchen und Mythos („Das mythische Element in der Literatur“, 1974) äußerte, sondern auch Märchen für Kinder schrieb („Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“, 1959; „Shakespeare-Märchen. Für Kinder erzählt“, 1968; „Märchen auf Bestellung“, 1981).

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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