„Mutmaßungen über Jakob“ und „Der geteilte Himmel“

„Mutmaßungen über Jakob“

Ein Autor, der nicht nur als einer der ersten die deutsche Teilung thematisiert hat, sondern auch wie kein anderer als deutsch-deutscher Autor galt, ist UWE JOHNSON (1934–1984). Der am 20. Juli 1934 in Cammin bei Stettin (heute Polen) Geborene wuchs in Anklam (Vorpommern) auf. Er studierte u. a. in Rostock und Leipzig (einer seiner Lehrer war HANS MAYER) Germanistik. Seinen während dieser Zeit entstandenen Romanerstling „Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953“ legte er in der DDR vier Verlagen vor. Änderungswünschen wollte er nicht nachkommen, sodass er das Manuskript dem Frankfurter Verleger PETER SUHRKAMP anbot. Es erschien in der Bundesrepublik 1985 posthum. Als sein zweites Manuskript „Mutmaßungen über Jakob“ (1959; 1960 mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet) bei SUHRKAMP erschien, verließ JOHNSON die DDR.

Inhalt von „Mutmaßungen über Jakob“

„Mutmaßungen über Jakob“ erzählt die Geschichte des Eisenbahners Jakob Abs, der sich mit der republikflüchtigen Tochter Gesine seines Vermieters Cresspahl trifft. Mit ihr verbinden ihn Liebe und eine innige Gemeinsamkeit vergangener Zeiten, in denen sie zusammenlebten wie Bruder und Schwester. Am Morgen nach seiner Rückkehr in die DDR verunglückt er auf dem Weg ins Stellwerk, seinem Arbeitsplatz. In der Absicht, einer entgegenkommenden Lokomotive auszuweichen, wird er auf dem Nebengleis von einer anderen erfasst. Seine Geschichte wird vom Ende her erzählt, sie wird rekonstruiert. Vier Stimmen bieten ihre Vermutungen darüber an, warum Abs verunglückte, der doch die Welt der Gleise kannte wie kein anderer, und warum er nach dem Besuch bei Gesine zurückgekehrt war. „Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen“, beginnt der Roman.

Dieser Roman war und ist ein wichtiges literarisches Ereignis, weil er nicht unmittelbar gegen die offiziellen Stimmen in Ost und West geschrieben ist. Er erzählt von der Teilung Deutschlands als einen für die Menschen fremden Zustand, der vor allem durch militärische Mächtegruppierungen bestimmt ist. Für Jakob ist Westdeutschland eine fremde Welt, für Gesine die DDR. Zugleich identifizieren sich beide nicht mit dem Staat, in dem sie leben. Sie finden keine Verhältnisse, in denen ein gemeinsames Leben möglich scheint. Bewusst entzieht der Erzähler dem Leser jede Möglichkeit eindeutiger Vergewisserung. Die Motive von Abs liegen jenseits eines vordergründigen politischen Selbstverständnisses. Die verbleibende „Unkenntlichkeit“ (ENZENSBERGER) empfanden westdeutsche Kritiker als sehr „deutsch“, als das „Realistische“ des Romans. Um der Etikettierung als Dichter der deutschen Teilung zu entgehen, siedelte sich Johnson 1967 für zwei Jahre in den USA an und begann dort mit der Arbeit an den „Jahrestagen“, die Jakobs und Gesines europäische Geschichte mit der Welt und Eindrücken aus New York verbindet.

„Der geteilte Himmel“

Ein Roman, der immer wieder mit den „Mutmaßungen“ verglichen wurde, ist „Der geteilte Himmel“ (1963) von CHRISTA WOLF (geb. 1929). Beide Romane beziehen sich auf einschneidende politische Ereignisse: Johnson auf den Ungarn-Aufstand 1956, WOLF auf den Bau der Mauer 1961. WOLF nimmt das zentrale Bild von JOHNSON auf:

Nachdem Rita von einem Besuch bei Manfred, der nach Westberlin übersiedelte, zurückgekehrt ist, bricht sie auf dem Bahngelände ihres Betriebes zusammen. Sie sieht von links und rechts Waggons auf sich zurollen. Während ihres Krankenhausaufenthaltes erinnert sie sich ihrer Geschichte. Sie wird gesund, studiert und wird Lehrerin.

WOLF erzählt das Scheitern einer Liebe unter Verhältnissen, in denen zur Verwirklichung für unterschiedliche Lebensentwürfe zwei unterschiedliche Länder zur Verfügung stehen. Der individuellen Entscheidung, das Land zu wechseln, gibt sie angesichts der politischen Verhältnisse auch die Dimension einer politischen Entscheidung. WOLF beharrt auf der Pflicht, sich zu entscheiden: „Der Himmel teilt sich immer zuerst“ ist das Leitmotiv der Erzählung. Die Erzählerin polemisiert damit gegen JOHNSON, dessen Figuren nur noch einen gemeinsamen Ort haben, die Wolken, Ort der Erinnerung an eine gemeinsame Kindheit. Die Diskussion in der DDR über dieses Buch tat sich schwer mit der Anerkennung der tragischen Dimension, die sich für den Einzelnen aus der Teilung Deutschlands ergab. „Da das Gefühl des Unglücks über das Gespaltensein Deutschlands möglicherweise ideologische Gefahren enthalten könnte, dürfe eben die Spaltung Deutschlands kein Unglück sein“ (DAHLKE). Diese Dimension trotzdem aufgehoben zu haben, gehört zu einer wichtigen Leistung dieses Buches, auch wenn über die ungebrochene Fortschrittsgläubigkeit der Erzählerin zu Recht kritisch zu urteilen ist. Wolf teilte mit anderen die Faszination, die von dem „Sog einer großen geschichtlichen Bewegung“ ausging. Die Teilung erhielt damit nachträglich Sinn, da sie in einem Teil Deutschlands mit einer neuen gesellschaftlichen Perspektive verbunden schien. In der Bundesrepublik scheint die Tragik der Geschichte und damit die der deutschen Teilung weniger wahrgenommen worden zu sein. Westdeutsche Abiturienten begrüßten den Roman, „weil er endlich einmal zeigt, wie ein volkseigener Betrieb an seinen eigenen Prinzipien zugrunde geht“ (BRENNER 1967). Aus dem Vergleich der „Mutmaßungen“ und des „Geteilten Himmels“ zogen Kritiker in der DDR die Schlussfolgerung, dass von einer „qualitativ einheitlichen deutschen Literatur keine Rede sein könne“ (GEISTHARDT 1966).

„Der Mauerspringer“

Der seit 1961 in Westberlin lebende PETER SCHNEIDER legte mit der Erzählung „Der Mauerspringer“ (1982) das erste westdeutsche Buch vor, das die deutsche Teilung thematisiert.

Der Autor war Ende der Sechzigerjahre Mitinitiator der Studentenbewegung. Später setzte er sich mit der Berufsverbotspraxis in der Bundesrepublik auseinander und griff die Menschenrechtsverletzungen in der DDR auf. In „Der Mauerspringer“ wird der „anitfaschistische Schutzwall“ (so die offizielle Bezeichnung für die Mauer in der DDR) dahingehend befragt, inwieweit er Einfluss nahm auf das Leben der Menschen in der geteilten Stadt Berlin. Nicht als Vorahnung begriffen, wird in der Erzählung festgestellt, dass es eine längere Zeit brauche, die Mauern in den Köpfen einzureißen, „als irgendein Abrißunternehmen für die sichtbare Mauer braucht“.

SCHNEIDER greift das wolfsche Bild vom „geteilten Himmel“ auf, indem er den Roman mit einer Draufsicht auf die geteilte Stadt beginnen lässt, in der der Schatten eines Flugzeugs die Mauer mühelos überqueren kann: Nicht der Himmel ist bei ihm geteilt, sondern die Stadt ist durch die riesige Narbe der Mauer verletzt worden. Erst in der Stadt selbst stößt der Mensch immer wieder an die Grenzen durch geteilte Straßen und Plätze.
Der Ich-Erzähler kommt aus Westdeutschland in die geteilte Stadt Berlin und ist von der dortigen Situation fasziniert. Er greift die gehörten Geschichten auf und schreibt sie, leicht verändert, nieder. Sein Blick ist der desjenigen, der das Gesehene und Gehörte für die Wahrheit hält, während sein Ost-Berliner Freund Robert allen Nachrichten misstraut.
SCHNEIDER schrieb nach seinem Roman das Buch für den Film „Der Mann auf der Mauer“ (1982).

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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