Slam Poetry ist ein relativ junges Phänomen. Ende der 1980er-Jahre, als die digitalisierte Medienwelt die Jugend vor den Fernsehern und Computermonitoren zu fesseln begann, fanden sich junge Leute in amerikanischen Großstädten an Orten ein, die man normalerweise nicht mit Literatur in Verbindung bringt, um gemeinsam Poesie zu hören oder sich gegenseitig ihre Texte vorzutragen. Die Initiatoren dieser Poetry Slams organisierten die Vortragswettbewerbe wie Sportveranstaltungen. Eine Jury wurde ernannt oder aus dem Publikum zusammengestellt und gab mit emporgehaltenen Ziffern ihr Urteil ab. Die Mischung aus
hatte Erfolg und lockte ein immer breiteres Publikum an. Mittlerweile ist Slam Poetry eine internationale Bewegung geworden.
Die Präsentationsform der öffentlichen Live-Darbietung ist das wichtigste Merkmal der Slam Poetry. Im mündlichen Vortrag kommen Rhythmus und Klang der Texte deutlich zur Geltung, deutlicher als auf dem Papier. Das Publikum reagiert unmittelbar auf das Gehörte, mitunter durchaus lautstark, und gibt spontan sein Urteil über den Vortrag ab. Ein Poetry Slam ist ein Wettbewerb unter Poeten und eine Interaktion zwischen Publikum und Dichter. Es ist eine ungleich lebendigere Veranstaltung als eine Dichterlesung mit Leselampe und Wasserglas vor schweigendem Auditorium, das andächtig lauscht und am Ende brav seine Fragen an den Dichter richtet.
„Slam“ ins Deutsche zu übersetzen ist nicht ganz einfach. „Slam“ hat unter anderem die Bedeutung von „zuschlagen“, mit „voller Wucht“, aber auch jemanden „harsch kritisieren“, „verreißen“. Man kennt „Grand Slam Turniere“ aus der Welt des Tennis' und „Slam-Dunk“ aus dem Basketball. Alle diese Konnotationen spielen in den Begriff Slam Poetry hinein. Eine gültige deutsche Übersetzung für Slam Poetry ist „Heftige Dichtung“, nach der gleichnamigen Anthologie des Berliner Verlages Galrev aus dem Jahre 1993.
Die Orte, wo Poetry Slams ausgetragen werden, sind vielfältige lebendige, öffentliche Orte: Clubs, Kneipen, Diskotheken. Ein MC, ein Master of Ceremonies, moderiert eine solche Veranstaltung.
Die Slam-Poeten, die Slammer, treten gegeneinander an, wollen einander in ihren Performerqualitäten überbieten und die Jury durch Schlagfertigkeit und Sprachwitz überzeugen. Slam Poetry bezieht ihre Wirkung also zu einem guten Teil aus Spontaneität, Geistesgegenwart und guter Form. Es ist ähnlich wie beim Boxen und anderen Sportarten: Ein Punktesystem entscheidet über den Sieger. Für die Texte selbst sind Genre- oder Gattungsklassifizierungen völlig irrelevant. Es handelt sich meist um Lyrik, nicht selten auch um rhythmisierte oder szenische Prosa. Die Sprachmelodie ist nicht gefällig, nicht lyrisch, sondern eher heftig und aggressiv, sie gewinnt ihren Rhythmus aus harten Beats, ähnlich wie beim Rap. Die Sprache ist direkt, einfach, unverschlüsselt, nahe an der Alltagssprache und dem Slang. Die Themen sind lebensnah und setzen sich unmittelbar mit der modernen Lebenswirklichkeit auseinander:
In Amerika, wo die sozialen Gegensätze viel stärker aufeinanderprallen als in Deutschland, überwiegt die soziale Thematik:
Für die Slam-Poeten gilt das Prinzip, authentisch zu sein, nicht lange an den Texten herumzufeilen und nicht auf Kosten der Spontaneität nach Tiefsinn zu schürfen.
Slam Poetry ist mittlerweile ein globales Phänomen. Slams werden in vielen größeren Städten dieser Welt veranstaltet. Slammer organisieren sich in losen Gruppierungen um ihre Veranstaltungsorte, bauen sich Netzwerke übers Internet auf, wo sie sich austauschen und Termine bekannt geben. In etwa folgen ihre Veranstaltungen überall demselben Regelwerk, was nicht ausschließt, dass die jeweiligen Veranstalter der regionalen Slams ihre Wettbewerbskriterien in eigener Regie festlegen.
Das alles klingt sehr modern und scheint überhaupt nichts mit einsamen verstaubten Dichterstuben des bürgerlichen Zeitalters zu tun zu haben. Doch das öffentliche Vortragen von Dichtung ist eine sehr alte Tradition, eigentlich ist es der Ursprung der Dichtkunst. In den Slams kehrt die Dichtung gewissermaßen zu ihren Wurzeln zurück. Lange bevor es Techniken für die Verschriftlichung gab, lange bevor die Drucktechnik das Wahrnehmen von Poesie zu einer einsamen, stillen Lesebeschäftigung machte, war es üblich, Dichtung öffentlich vor Publikum zu Gehör zu bringen. Der öffentliche Vortrag lyrischer Gebrauchstexte war Bestandteil kultischer Rituale in primitiven Kulturen, etwa
Dies sind die Wurzeln der sich entwickelnden Lyrik. In der Antike wurden Texte in einer Art Sprechgesang zur Lyra, einem Saiteninstrument, vorgetragen. Es heißt, dass der sagenhafte Dichter HOMER als Rhapsode durch die Lande gezogen sei und seine bis heute berühmten Dichtungen seiner Zuhörerschaft vortrug.
Das Wettbewerbsprinzip lag in der antiken Welt fast allen Darbietungen zugrunde, die sportliche, literarische und andere musische Disziplinen wie Tanz und Tragödie vereinten. Diese Veranstaltungen, Agones genannt, nahmen oft die Ausmaße von nationalen Spielen an (Olympische, Nemeische, Isthmische Spiele), zu denen die griechischen Provinzen und Städte ihre besten Künstler und Sportler entsandten. Den Siegern winkten nicht nur Lorbeerkränze, sondern mitunter beachtliche Gewinne, etwa für das ergreifendste Preisgedicht auf einen Cäsaren oder die beste sportliche Leistung. Im Römischen Reich setzte sich diese Tradition der hellenischen Kultur fort. Nicht wenige Künstler machten es zu ihrem Beruf von Agon zu Agon zu reisen.
In der Feudalgesellschaft zogen fahrende Sänger von Fürstenhof zu Fürstenhof und trugen für Gunst und Geld ihre Lieder und Texte vor und traten in Sängerwettstreiten gegeneinander an. Eine Blüte erlebte diese Form der höfischen Kultur in der französischenTroubadourslyrik und dem deutschen Minnesang.
Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde Literatur immer mehr eine Angelegenheit einsamer Schreiber und stiller Leser. Im kleinen Kreis von Interessenten wurde Dichtung natürlich weiterhin vorgetragen und diskutiert. So hielten es im 18. Jahrhundert die Besucher und Akteure der literarischen Salons der Romantik, im frühen 20. Jahrhundert die Dichter des GEORGE-Kreises, nach dem Zweiten Weltkrieg die Autoren der Gruppe 47, die ihre literarischen Erzeugnisse einander vortrugen, um sich der Ad-hoc-Kritik der Kollegen auszusetzen. Aber all dies waren Angelegenheiten unter Eingeweihten.
Die modernen Slam-Poeten stehen mehr in der Tradition der deutschen und französischen Dadaisten, die in provokativer Absicht die bewusste Abkehr von der sogenannten Hochkultur vollzogen und ihre Texte in Bars, Kabarettkellern und Caféhäusern vortrugen. Die amerikanischen Slam-Poeten werden sich allerdings eher auf die Beat-Generation berufen und Autoren wie ALAN GINSBERG, JACK KEROUAC und WILLIAM S. BURROUGHS, die sich in ihrer „spontanen Prosa“, den vom Jazz beeinflussten Gedichten und undisziplinierten, nonkonformistischen Werken mit antibürgerlicher Protest-Geste in den 1950er-Jahren vom Establishment abkehrten. Ihre unmittelbaren Vorläufer hat die Slam Poetry in der Spoken Word Poetry, die vor allem in der Reagan-Ära den Protest der rassisch und sozial ausgegrenzten Ghetto-Jugend formulierte. Auch dabei spielte sich das Geschehen auf Live-Veranstaltungen ab, wie beim damals noch nicht kommerzialisierten Rap.
Die Slam Poetry wurde Mitte der Achtzigerjahre in heruntergekommenen Chicagoer Bars aus der Taufe gehoben. Ein gewisser MARC SMITH hatte die Idee, Lesungen als Performances zu organisieren, sowohl mit geladenen Dichtern als auch mit spontanen Wortmeldungen in einem offenen Wettbewerb, einem sogenannten „Open Mike“ (soviel wie offenes, freies Mikrofon). Dies Konzept erwies sich als erfolgreich und bald schon etablierten sich in einem legendären Jazz-Club, dem „Green Mill Club“ in Chicago, unter MARC SMITHs Führung die Poetry Slams als wöchentliche Veranstaltung. Er formierte sogar das Chicago Poetry Ensemble, das seine Performancequalitäten ständig vervollkommnete und einen festen Platz an diesen Abenden besetzte. Ein anderer Aktivist der Slam-Bewegung in Chicago war BOB HOLMAN mit seinem Nuyorican Poets' Café. Um für das Publikum den Unterhaltungswert zu steigern, wurde der Wettbewerbscharakter forciert. Den vortragenden Autoren wurden jeweils einige Minuten eingeräumt. Eine willkürlich aus dem Publikum zusammengestellte Jury hatte unmittelbar nach dem jeweiligen Vortrag eine Wertung abzugeben.
Dieses unterhaltsame Spektakel sprach sich schnell herum und immer mehr Autorinnen und Autoren wollten an den Open Mikes, den öffentlichen Wettbewerben, teilnehmen. Auch in anderen Lokalen Chicagos und bald auch in weiteren Großstädten Amerikas wurden Poetry Slams abgehalten. Da jeder Zugang hatte und sich der Öffentlichkeit stellen konnte, gewann Slam Poetry den Charakter einer literarischen Bewegung, die nichts weniger als ein elitärer Kunstanspruch auszeichnete. Es waren lebendige, lautstarke Veranstaltungen, auf denen keine verfeinerte Kunstsprache gepflegt wurde, sondern die Poesie sich aus der Umgangssprache, dem sozialen Umfeld der Besucher ergab. Die Worte sollten von der Bühne her wirken, anschaulich und direkt.
Nachdem die Slam Poetry in New York Einzug gehalten hatte, wurde sie unter großem Medieneinsatz popularisiert.
Das Underground-Phänomen war auf dem Wege, ein mediales Ereignis zu werden, so wie es einige Jahre zuvor dem Rap ergangen war.
Anfang der Neunzigerjahre war es soweit, dass die Slam-Poetry-Teams einzelner amerikanischer Großstädte wie Boston, San Francisco, Chicago und New York gegeneinander antraten und nationale Meisterschaften mit Gruppen- und Einzelwertungen ausgetragen wurden. Bei diesen kompetitiven Formen konnte es nicht ausbleiben, dass die Slam-Szene ihre Stars hervorbrachte. Das waren Anfang der Neunzigerjahre PATRICIA SMITH und LISA BUSCANI, neben den „Veteranen“ der Bewegung wie PAUL BEATTY, MARC SMITH, BOB HOLMAN.
In einer Zeit, da das Klagen über den Zustand der deutschen Literatur sehr laut wurde, kam der Trend der Slam Poetry aus Amerika nach Deutschland. Eine Vorreiterrolle kam dabei derBerliner Literaturwerkstatt zu, die die amerikanischen Slam-Poeten ALAN KAUFMAN, DOMINIQUE LOWELL, NEELI CHERKOVSKI und PAUL BEATTY 1993 nach Berlin holte und in Prenzlauer Berger Kneipen lesen ließ. Kurz darauf erschien im Berliner Druckhaus Galrev die Anthologie „Slam Poetry. Heftige Dichtung aus Amerika“. 1995 veranstaltete die Literaturwerkstatt den 1. Gesamtberliner Poetry Slam. Seit 1995 gibt es eine solche Veranstaltungsreihe auch in München im Club „Substanz“ und in anderen größeren deutschen Städten, vor allem dort, wo viele junge Menschen zusammenkommen, denen es um ein Erlebnis und Spaß geht. Die erste gesamtdeutsche Slam Poetry Meisterschaft wurde 1997 von WOLFGANG HOGEKAMP im Berliner Club „Ex ´n Pop“ veranstaltet, mit Einzelwettbewerb und Mannschaftswertung.
Die Delegierten für die nationalen Slams werden auf den regionalen durch Punktwertung ermittelt. Die Regeln folgen in etwa immer demselben Schema, wobei sie jedoch von Veranstaltung zu Veranstaltung variabel festgelegt werden können, das betrifft die Vortragsdauer für jeden Teilnehmer und das System der Bepunktung.
Seit Mitte der Neunzigerjahre hat die Literatur von jungen Autoren sprunghaft an Masse zugenommen. Die Bewegung der Slam Poetry hat viele positive Impulse auf die Literatur ausgeübt. Sie hat den Dunstkreis des Elitären verlassen, hat den Ruf der ernsten, schweren Kunstanstrengung in Richtung des Spaßes, des Eventcharakters verschoben. Es sind zahlreiche selbst ernannte Poetry-slam-Bewegungen entstanden wie
Ihre Veranstaltungen haben wegen ihres Unterhaltungswertes und durch das Medieninteresse an Bekanntheit und Zulauf gewonnen. In den Cafés und Kneipen größerer Städte sind Literaturabende zu festen Institutionen geworden, die sich großen Zuspruchs erfreuen. Ohne den mühseligen Weg über Verlage finden Leute mit Freude am Dichten eine Bühne und ein Publikum. Slam Poetry wird von den Feuilletons und der Wissenschaft zwar als literatursoziologisches Phänomen wahrgenommen, weniger Beachtung finden jedoch die einzelnen Texte. Der spontane Entstehungszusammenhang und die Direktheit des Aussprechens gehen bei vielen Texten in der Tat zu Lasten der Intensität und Verdichtung der Aussage. Doch Slam Poetry versteht sich gerade als demokratischer Gegenentwurf zum akademischen Literaturverständnis. Es ist auch ihr Verdienst, dass das Interesse an Literatur wieder gestiegen ist und in die Literatur selbst eine lange nicht mehr gekannte Frische einzog, eine Vielfalt der Stimmen und der Themen. Ein junger Autor ist heute mit Recht jung zu nennen, vorbei die Zeiten, da vierzigjährige Debütanten als Jungautoren galten.
Nicht zuletzt haben auch die jungen Dichter, die eher für die traditionelle Art der Literatur stehen, sich von diesem Aufwind tragen lassen. Die Slam-Szene wird vom breiten Lesepublikum kaum wahrgenommen, allenfalls in ausgewählten Anthologien. Der Ruhm der Slam-Stars dringt somit nicht weit außerhalb der Szene. Zu den bekannteren Namen gehören BASTIAN BÖTTCHER und BORIS PRECKWITZ, letzterer bemüht sich nunmehr auch um die theoretische Aufarbeitung des Phänomens der Slam Poetry.
Noch ist nicht auszumachen, ob die Bewegung ihren Kulminationspunkt schon überschritten hat, oder noch darauf zusteuert. Die nationalen Slams haben sich nunmehr ausgeweitet zu Slams der deutschsprachigen Länder. Im Jahr 2002 fand erstmals der Abschlusswettbewerb mit Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Bern statt.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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