Alliierte Politik zur Entnazifizierung der Deutschen

Entnazifizierung als alliiertes Kriegsziel

Aus Sicht der alliierten Sieger konnten die gewaltigen Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland nicht nur auf die wenigen, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und seinen Folgeprozessen angeklagten Führer dieser Bewegung zurückgeführt werden.
Zumindest für die Durchführung dieser Verbrechen bedurfte es vieler Unterstützer des Nationalsozialismus, vieler kleiner Rädchen, die die Maschinerie der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft laufen ließen. Manche taten dies vielleicht gleichgültig, was schlimm genug war; viele aber auch aus Überzeugung.
So hatten allein 8 Mio. Deutsche der NSDAP und zusätzlich ca. 4 Mio. den verschiedenen Unterorganisationen dieser Partei angehört. Viele weitere Deutsche unterstützten, wenn auch manchmal schweigend, deren Politik.
Darum wurde im Laufe des Krieges immer deutlicher die Beseitigung des Nationalsozialismus in Deutschland als ein Kriegsziel der Alliierten formuliert
Im Kommuniqué der Konferenz von Jalta, auf der sich im Februar 1945 die „großen drei“, Churchill, Roosevelt und Stalin, trafen, hieß es dann kurz vor Kriegsende:

„Es ist unser unbeugsamer Wille, den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, daß Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören. Wir sind entschlossen ... alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse aus den öffentlichen Dienststellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes auszuschalten ....“

Welche Form der Entnazifizierung?

Was aber konnte es heißen, den Nationalsozialismus zu zerstören?
Er war ja erstens eine Weltanschauung. Diese setzte sich zweitens über nationalsozialistische Organisationen in konkrete Politik um. Und dafür bedurfte es drittens vieler Überzeugter, Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen, Unterstützer und Mitläufer.
Als konkrete Politik war der Nationalsozialismus mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 besiegt. Die alliierten Sieger hatten als Besatzungsmächte die oberste Gewalt in Deutschland übernommen.
Wie aber konnte man eine Weltanschauung, eine Überzeugung, eine bestimmte Art des Denkens, die in den Köpfen der Menschen existierte, zerstören?
Vor allem in den USA gab es während des Krieges vielfach Überlegungen für eine Umerziehung der Deutschen. Sie wurde mit dem englischen Wort auch als reeducation bezeichnet.
Damit wollte man versuchen, den persönlichen Charakter jedes einzelnen wie auch die nationalen Leitbilder der Deutschen zu verändern, z. B. die damals typisch deutsche Untertanenmentalität oder ein weitverbreitetes antidemokratisches Bewusstsein, die sicher zur nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland beigetragen hatten.
Ansätze dieser Idee der Umerziehung ordnet man heute aber eher der Bildungspolitik und dem Konzept der Demokratisierung, also des langsamen Aufbaus demokratischer politischer Strukturen und gesellschaftlichen Bewusstseins, zu.
Unter Entnazifizierung im engeren Sinne versteht man dagegen eine Politik der personellen Säuberung. Überzeugte Nationalsozialisten sollten aus dem öffentlichen Dienst und staatlicher Verwaltung, aber auch aus wichtigen Stellen der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens wie Presse und Rundfunk entlassen oder gar nicht erst eingestellt werden.
Eine Grundlage dafür wurde auf der Potsdamer Konferenz gelegt. Hier legten die Besatzungsmächte Folgendes fest:

„Alle Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben und alle anderen Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, sind aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern und von den verantwortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmen zu entfernen.“

Mit mehr als nominellen Tätern meinte man überzeugte und aktive Nationalsozialisten und Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen im Gegensatz zu bloßen Karteileichen.

Entnazifizierung in der amerikanischen Zone

Besonders in der amerikanischen Zone wurde diese Form der Entnazifizierung als personelle Säuberung anfänglich sehr rigoros durchgeführt. Die Öffentlichkeit und auch viele Politiker in den Vereinigten Staaten zeigten ein besonderes Interesse daran.
Auch eine Anweisung des amerikanischen Außenministeriums an die amerikanische Militäradministration in Deutschland von Ende April 1945 machte eine Unterscheidung in „nominelle“ und aktive Nationalsozialisten deutlich. Sie enthielt eine Liste mit Personengruppen, die automatisch zu verhaften oder zu entlassen waren.
Darunter fielen höhere nationalsozialistische Funktionäre, Angehörige von SS, SD und Gestapo, aber auch hohe Beamte, Bürgermeister und politische Leiter bis hinab zur Kreisebene.
Die meisten Verhafteten wurden in Internierungslager gesteckt; bis zum Frühjahr 1946 waren es ca. 120 000. Häufig wurde diese Behandlung von Deutschen kritisiert, da die pauschale Verdächtigung allein aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Positionen keinen Raum für Einzelfallprüfungen zuließe. Zudem waren die Verhältnisse in den Internierungslagern manchmal sehr schlecht. Viele sprachen auch von ungerechter Siegerjustiz.
Schon im September 1945 wurden die Maßnahmen für eine Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft aber ausgeweitet. Um möglichst viele Nazis ausfindig zu machen, wurde ein Fragebogen mit insgesamt 131 Fragen erstellt. Diese hatten zunächst alle jene zu beantworten, die aufgrund ihrer Tätigkeiten Kontakt zur amerikanischen Militärregierung hatten.
Dieser Bogen wurde häufig aufgrund seiner zum Teil sehr nebensächlichen und banalen Fragen bespöttelt oder gar als Gesinnungsschnüffelei kritisiert, die über das eigentliche Ziel der Entnazifizierung hinausginge. Er wurde von vielen Deutschen als demütigend empfunden.
Ebenso wurde er aber auch gefürchtet. Da die Amerikaner in den Besitz der kompletten Mitgliederkartei der NSDAP gekommen waren, konnten versuchte Täuschungen auffallen.
Bis März 1946 waren auf diese Weise ca. 1,4 Mio. Fragebögen bei den zuständigen amerikanischen Stellen eingereicht und etwas mehr als die Hälfte von ihnen bearbeitet worden. Das verursachte den Amerikanern aber enorme Kosten und war aufgrund des bürokratischen Aufwands mit ihrem begrenzten Personal kaum zu bewältigen. So entschloss man sich im Frühjahr 1946, die Durchführung den Deutschen zu übertragen.
Der Länderrat der amerikanischen Zone, in dem die deutschen Ministerpräsidenten zur Beratung einer gemeinsamen Politik zusammenkamen, verabschiedete, auf leichten amerikanischen Druck hin, am 5. März 1946 das „Gesetz zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus“, kurz auch „Befreiungsgesetz“ genannt.
Nach diesem Gesetz sollte jeder Deutsche über 18 die 131 Fragen des Meldebogens beantworten. Da hiervon oftmals Beschäftigungsmöglichkeiten und die Ausgabe von Lebensmittelkarten abhingen, wurden in der amerikanischen Zone schnell 13 Mio. Fragebögen abgegeben, die nun weiter zu bearbeiten waren.
Mit der Auswertung wurden nach dem „Befreiungsgesetz“ sogenannte deutsche Spruchkammern befasst, die jeweils aus einer juristisch ausgebildeten Person und vier Beisitzern bestehen sollten. Das war eine monatelange Beschäftigung.
Am Ende wurden 3,5 Mio. Fälle herausgefiltert, über die es eine Verhandlung vor den Spruchkammern geben sollte.
Beschuldigte wurden in fünf Kategorien eingestuft, die dann verschiedene abgestufte Formen der Bestrafung zur Folge haben sollten.

  • Hauptschuldige, Belastete und Minderbelastete hatten Strafen wie Arbeitslager, Einziehung des Vermögens und Verlust der Alterspensionen, Arbeitsbeschränkung, Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und Ähnliches zu befürchten.
  • Als Mitläufer Eingestuften drohten Geldstrafen.
  • Entlastete wurden freigesprochen.

Es gab die Möglichkeit der Berufung.

Entnazifizierung in den anderen drei Zonen

Obwohl durch eine Direktive des Alliierten Kontrollrats im Januar 1946 diese weitgehenden Formen der Entnazifizierung in der amerikanischen Zone auf die der anderen Besatzungsmächte ausgeweitet werden sollten, lassen sich für die drei anderen Besatzungszonen recht deutliche Unterschiede feststellen.

In der britischen und der französischen Zone wurden zwar auch viele Nazis verhaftet und interniert. Im Ganzen überwog hier aber das Interesse an einer halbwegs funktionierenden Verwaltung mit erfahrenen Beamten auch in Leitungsfunktionen, weshalb die personelle Säuberung viel weniger konsequent als in der amerikanischen Zone vollzogen und insbesondere weitgehend auf die Anwendung des Fragebogens verzichtet wurde.

Für die sowjetische Besatzungszone (SBZ) galt eine relativ konsequente Entnazifizierung. Bis zu ihrer offiziellen Beendigung am 27. Februar 1948 wurden annähernd 520 000 ehemalige Nationalsozialisten entlassen oder nicht mehr eingestellt.
Sie war hier aber auch ein Instrument des Umbaus gesellschaftlicher Strukturen und Machtverhältnisse im sowjetischen Sinne. So waren vielfach politisch Missliebige und Mitglieder der alten ökonomischen Eliten als „Junker“ und „Monopolherren“ von Entnazifizierungsmaßnahmen betroffen. So wurde auch die Bodenreform seit September 1945 häufig als eine Art der Entnazifizierung ausgegeben.
Dabei muss man aber bedenken, dass aus kommunistischer Sicht der Faschismus eine Folge des Kapitalismus war. Insofern liefen nicht nur politische Machtinteressen, sondern auch die kommunistische Weltanschauung auf eine Entmachtung der kapitalistischen Eliten als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus hinaus.

Ende der Entnazifizierung

Das Ende der Entnazifizierung kam in den verschiedenen Zonen im Laufe der Jahres 1948 bis 1950. Der beginnende Kalte Krieg sorgte dafür, dass man mit der Stabilisierung und Integration der jeweils eigenen Zone in den westlichen oder östlichen Staatenblock andere Prioritäten setzte. Für den staatlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau brauchte man funktionierende Verwaltungen mit erfahrenem Personal und die Unterstützung der Bevölkerung.
Weil die Spruchkammern in den westlichen Zonen anfänglich vor allem viele leichtere Fälle aufgriffen, führte das dazu, dass gegen viele schwerer Belastete nicht mehr verhandelt wurde. So konnten in den Fünfzigerjahren viele ehemalige Nationalsozialisten teilweise wieder hohe Ämter bekleiden. Die Ergebnisse der Entnazifizierung kann man sicher nicht nur in Zahlen zusammenfassen. Viele Deutsche empfanden ihre Praktiken als demütigend und ungerecht. Vielfach solidarisierte man sich mit Betroffenen, indem man ihnen einen guten Leumund gab. Beschuldigte erhielten dann sogenannte Persilscheine.
Amerikanische Umfragen zwischen 1945 und 1948 haben gezeigt, dass sich die Einstellung vieler Deutscher zum Nationalsozialismus wenig änderte. Die Zahl derer, die den Nationalsozialismus für eine gute Idee hielten, die nur schlecht ausgeführt worden sei, schwankte um 55 %, während die Zahl derer, die ihn ablehnten, sogar von 41 auf 30 % sank. Wahrscheinlich hat daher eher das mit dem Marshallplan beginnende Wirtschaftswunder die Mehrzahl der Westdeutschen zu überzeugten Demokraten gemacht.
Wenn man die Entnazifizierungspolitk aufgrund solcher Zahlen, aufgrund von Mängeln in der Umsetzung und ihrem abrupten Abbruch auch vielfältig hinterfragen kann, sollte man ihre Wirkungen aber auch nicht vernachlässigen. Immerhin nötigte er viele Deutsche erstmals, sich mit ihrem Beitrag zum Nationalsozialismus persönlich auseinanderzusetzen, auch wenn das häufig zunächst zu Abwehrreaktionen führte.

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