Gegen das Ermächtigungsgesetz – die Rede von Otto Wels im Reichstag

Die Hintergründe des Ermächtigungsgesetzes

Die Reichstagswahlen vom 5. März 1933 brachten den Nationalsozialisten nicht die ersehnte absolute Mehrheit im Deutschen Reichstag. Nur knapp 44 % der Wähler entschieden sich für die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP).
Die Nationalsozialisten konnten damit nicht allein regieren. Sie brauchten für die absolute Mehrheit bei Abstimmungen im Reichstag die Deutschnationale Volkspartei, die 8 % der Wählerstimmen gewonnen hatte.
Dennoch eröffnete HITLER als Reichskanzler am 21. März den neuen Reichstag mit großem Pomp in der Garnisonkirche von Potsdam. Der „Tag von Potsdam“ sollte die Vereinbarkeit des neuen nationalsozialistischen Deutschland mit der jahrhunderte-alten preußisch-deutschen Tradition vor aller Welt dokumentieren. HITLER nannte das „die Vermählung zwischen den Symbolen der alten Größe und der jungen Kraft“.

Das Gesetz und seine drohenden Konsequenzen

Am 23. März, also zwei Tage nach dieser feierlichen Inszenierung, legte HITLER dem Reichstag das Ermächtigungsgesetz vor.
Das Gesetz gab der Regierung für die Dauer von vier Jahren das Recht, Gesetze ohne Beteiligung und ohne Zustimmung des Reichstages zu erlassen. Betroffen davon sollten auch Gesetze sein, mit denen die Verfassung geändert werden konnte.
Gleichzeitig wurde durch das Ermächtigungsgesetz die Rechtssicherheit der Bürger aufgehoben. Die Polizei sollte fortan ohne Gerichtsentscheid „Schutzhaft“ verhängen können.
Das Ermächtigungsgesetz übertrug faktisch die gesamte Staatsgewalt an die nationalsozialistische Regierung, folglich an HITLER. Damit schuf es in der Folgezeit die entscheidenden rechtlichen Voraussetzungen, um das totalitäre Regierungssystem der Nationalsozialisten zu etablieren.

Die „Abstimmung“ im Reichstag

Das Ermächtigungsgesetz erhielt im Reichstag mit den Stimmen der bürgerlichen Parteien sowie des Zentrums und gegen die Stimmen der Sozialdemokraten die erforderliche Zweidrittelmehrheit.
Die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien und des Zentrums waren bei der Abstimmung dem Irrtum erlegen zu glauben, mit der Zustimmung noch Schlimmeres zu verhindern und das Recht auf weitere Mitbestimmung im Reichstag zu sichern.
Von den bei der Abstimmung anwesenden 538 Abgeordneten stimmten 444 mit „Ja“. Alle anwesenden 94 Sozialdemokraten lehnten das Gesetz ab. Die 81 kommunistischen Abgeordneten fehlten gänzlich. Sie waren, ebenso die 26 fehlenden Mitglieder der SPD-Fraktion, nach dem Reichstagsbrand entweder verhaftet worden oder untergetaucht. Der Innenminister der Nationalsozialisten erklärte zynisch, die Kommunisten seien durch „dringende und nützliche Arbeiten ... in den Konzentrationslagern“ nicht abkömmlich.
In dieser Atmosphäre der Gewalt und Bedrohung legte allein der Vorsitzende der SPD-Fraktion, OTTO WELS, ein mutiges Bekenntnis gegen das Ermächtigungsgesetz ab. In seiner Rede begründete er die Haltung seiner Fraktion mit der Verpflichtung zur Demokratie, zu Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Gleichzeitig prangerte er die von der nationalsozialistischen Regierung seit der Machtübernahme begangenen oder geduldeten Unrechtshandlungen an.

Die Rede von OTTO WELS:

„Nach der Verfolgung, die die Sozialdemokratische Partei in der letzten Zeit erfahren hat, wird billigerweise niemand von ihr verlangen oder erwarten können, dass sie für das hier eingebrachte Ermächtigungsgesetz stimmt.

Die Wahlen vom 5. März haben den Regierungsparteien die Mehrheit gebracht und damit die Möglichkeit gegeben, streng nach Wortlaut und Sinn der Verfassung zu regieren. Wo diese Möglichkeit besteht, besteht auch die Pflicht. Kritik ist heilsam und notwendig.

Noch niemals, seit es einen Deutschen Reichstag gibt, ist die Kontrolle der öffentlichen Angelegenheiten durch die gewählten Vertreter des Volkes in solchem Maße ausgeschaltet worden, wie es jetzt geschieht und wie es durch das neue Ermächtigungsgesetz noch mehr geschehen soll. Eine solche Allmacht der Regierung muss sich um so schwerer auswirken, als auch die Presse jeder Bewegungsfreiheit entbehrt.

Die Zustände, die heute in Deutschland herrschen, werden vielfach in krassen Farben geschildert. Wie immer in solchen Fällen fehlt es nicht an Übertreibungen. Was meine Partei betrifft, so erkläre ich hier:
Wir haben weder in Paris um Intervention gebeten noch Millionen nach Prag verschoben, noch übertreibende Nachrichten ins Ausland gebracht.
Solchen Übertreibungen entgegenzutreten wäre leichter, wenn im Inland eine Berichterstattung möglich wäre, die Wahres von Falschem unterscheidet.
Noch besser wäre es, wenn wir mit gutem Gewissen bezeugen könnten, dass die volle Rechtssicherheit für alle wiederhergestellt sei ...

Die Herren von der Nationalsozialistischen Partei nennen die von ihnen entfesselte Bewegung eine nationale Revolution, nicht eine nationalsozialistische. Das Verhältnis ihrer Revolution zum Sozialismus beschränkt sich bisher auf den Versuch, die sozialdemokratische Bewegung zu vernichten, die seit mehr als zwei Menschenaltern die Trägerin sozialistischen Gedankenguts gewesen ist und auch bleiben wird.

Wollten die Herren von der Nationalsozialistischen Partei sozialistische Taten verrichten, sie brauchten kein Ermächtigungsgesetz. Eine erdrückende Mehrheit wäre ihnen in diesem Hause gewiss ...

Aber dennoch wollten Sie vorerst den Reichstag ausschalten, um ihre Revolution fortzusetzen. Zerstörung von Bestehendem ist aber noch keine Revolution. Das Volk erwartet positive Leistungen. Es erwartet auch durchgreifende Maßnahmen gegen das furchtbare Wirtschaftselend, das nicht nur in Deutschland, sondern darüber hinaus in aller Welt herrscht.

Wir Sozialdemokraten haben in schwerster Zeit Mitverantwortung getragen und sind dafür mit Steinen beworfen worden. Unsere Leistungen für den Wiederaufbau von Staat und Wirtschaft, für die Befreiung der besetzten Gebiete werden vor der Geschichte bestehen. Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht.
Davon können Sie nicht zurück, ohne ihren eigenen Führer preiszugeben. Vergeblich wird der Versuch bleiben, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Wir Sozialdemokraten wissen, dass man machtpolitische Tatsachen durch bloße Rechtsverwahrungen nicht beseitigen kann. Wir sehen die machtpolitische Tatsache Ihrer augenblicklichen Herrschaft. Aber auch das Rechtsbewusstsein des Volkes ist eine politische Macht, und wir werden nicht aufhören, an dieses Rechtsbewusstsein zu appellieren.

Die Verfassung der Weimarer Republik ist keine sozialistische Verfassung. Aber wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates und der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes. Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.

Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten. Sie selbst haben sich ja zum Sozialismus bekannt. Das Sozialistengesetz hat die Sozialdemokratie nicht vernichtet.
Auch aus neuen Verfolgungen kann die deutsche Sozialdemokratie neue Kraft schöpfen...“

(zitiert nach: Die deutsche Geschichte, Band 3, S. 458, Archiv Verlag GmbH, Braunschweig 2001. Hervorh. vom Autor.)

Diese Rede war für lange Jahre das letzte öffentliche Bekenntnis zur Demokratie in Deutschland. Sie wurde von den Abgeordneten der NSDAP zeitweise mit „Sieg Heil!“-Rufen übertönt. Schon vor der Sitzung hatten uniformierte SA-Leute in Sprechchören skandiert: „Wir fordern das Ermächtigungsgesetz, sonst gibt`s Zunder“.
Der Tagungsort selbst war von SS-Einheiten umstellt. Bei vielen gegen den Nationalsozialismus eingestellten Abgeordneten konnte so kein Zweifel aufkommen, was sie nach Verlassen des Sitzungssaales erwartete.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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