Russlands Expansionsstreben nach Osten und Mittelasien

Russland orientiert sich nach Osten

Die Niederlage im Krimkrieg 1855 stürzte das Zarenreich in eine schwere Krise. Der innere Frieden des Reiches war ernsthaft gefährdet. Zahlreiche Probleme hatten sich aufgestaut und warteten auf ihre Lösung, u. a. die Auflösung der völlig überlebten Leibeigenschaft der Bauern und die Freiheitserwartungen der unterworfenen Fremdvölker. Vor dem Hintergrund all dieser inneren Probleme war an eine Fortsetzung der aggressiven Außenpolitik Russlands auf dem Balkan nicht mehr zu denken. Dazu kamen noch die Auflagen der alliierten Siegermächte. Sie waren im Frieden von Paris 1856 festgelegt worden und stoppten das weitere Vordringen Russlands auf der Balkanhalbinsel. Großbritannien hatte seine Interessen im Mittelmeerraum durchgesetzt.
Russland orientierte sich von nun an nach Osten. Denn der Ferne Osten und Mittelasien boten dem russischen Zaren für seinen ungebrochenen Expansionsdrang neue, schier grenzenlose Betätigungsfelder. Die offensive Außenpolitik wurde, wie in solchen Fällen nicht selten üblich, mit der zivilisatorischen Mission Russlands in Asien moralisch gerechtfertigt.
Voraussetzung für die Erfüllung dieser „historischen Mission“ in Asien war allerdings die Befriedung der Kaukasusregion. Im Kaukasus war es mehrmals zu Aufstandsbewegungen der von Russland unterworfenen Völker der Tschetschenen, Tscherkessen, Georgier und von anderen im Kaukasus lebenden kriegerischen Stämmen gekommen. Der Widerstand der Tschetschenen im Ostkaukasus konnte erst 1859 gebrochen werden, der der Tscherkessen im Westkaukasus sogar erst 1864 nach einem längeren Kleinkrieg. Erst danach standen dem Zaren die Kräfte für den Weg nach Osten uneingeschränkt zur Verfügung.

Russlands Sibirienexpansion zum Pazifik

Bereits seit dem 16. Jahrhundert dauerte der Expansionsdrang Russlands Richtung Osten an.
Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde Sibirien besetzt und der neue Besitz durch die Anlage von Stützpunkten gesichert. Im Jahre 1639 erreichten Vorausabteilungen der Kosaken erstmals den Pazifik. Hier wurde in den Jahren von 1647 bis 1649 der Stützpunkt Ochotsk als erste russische Bastion am Pazifik angelegt. In den Gebieten am Amur und am Ussuri kam es jedoch immer wieder zu Grenzkonflikten mit dem chinesischen Mandschureich. Diese konnten erst 1689 mit dem Vertrag von Nertschinsk beigelegt werden.
Mitte des 18. Jahrhunderts landete der in russischen Diensten stehende Däne VITUS JONASSEN BERING im Verlauf der „Großen nordischen Expedition“ an der Küste Alaskas. Er begründete damit den Besitzanspruch Russlands auf diese nördlichste Region Amerikas. Die wirtschaftliche Erschließung Russisch-Amerikas erfolgte hauptsächlich durch Pelztierjäger und Fallensteller unter Führung der Russisch-Amerikanischen Kompanie, die 1799 gegründet wurde.
Im 19. Jahrhundert, vor allem seit der von den USA im Jahre 1854 erzwungenen Öffnung der japanischen Häfen, war Russland an Übereinkünften mit seinen Nachbarn im Fernen Osten außerordentlich interessiert. So wurde bereits 1855 mit Japan der russisch-japanische Handels- und Grenzvertrag abgeschlossen. Er führte u. a. zur Teilung der Inselkette der Kurilen zwischen beiden Staaten und zu einer gemeinsamen Verwaltung der Insel Sachalin. Zwei Jahre später verzichtete dann Russland auf seinen Teil der Kurilen und erhielt dafür die Hoheitsrechte auf ganz Sachalin.
Mit China kam es Ausgang der 50er Jahre zu erneuten Auseinandersetzungen um die Grenzziehung im Amurgebiet. In deren Ergebnis besetzte Russland 1858 das Gebiet am linken Ufer des Amur und annektierte 1860 die ganze sogenannte Küstenprovinz, das strittige Gebiet zwischen Ussuri und Pazifikküste. Im gleichen Jahr wurde hier die Stadt Wladiwostok („Beherrsche den Osten“) gegründet. Allein schon mit dieser Namensgebung unterstrich Russland unmissverständlich seine Ansprüche in der pazifischen Region.

Die Eroberung der Steppen Mittelasiens

Russlands Vordringen nach Mittelasiens geschah vor allem aus sicherheitspolitischen und strategischen Erwägungen heraus. Wirtschaftliche Argumente spielten hier nur eine zweitrangige Rolle. Der Schriftsteller F. M. DOSTOJEWSKIJ brachte die Ziele der russischen Expansionspolitik auf den Punkt:

„Was brauchen wir die zukünftige Eroberung Asiens? Was wollen wir in Asien anfangen? Wir brauchen sie, weil Russland nicht nur in Europa, sondern auch in Asien liegt; weil der Russe nicht nur Europäer, sondern auch Asiate ist. Und noch mehr als das: In Asien liegen vielleicht mehr unsere Hoffnungen als in Europa. Und ich sage noch mehr: Vielleicht ist Asien unseren zukünftigen Schicksalen der wichtigste Ausweg!“

Bereits im 18. Jahrhundert waren zur Sicherung der russischen Steppengrenzen im südlichen Sibirien Festungen errichtet worden, u. a. Omsk im Jahre 1716 und Semipalatinsk 1718. Ab 1735 entstand im Südural sogar eine regelrechte Verteidigungslinie, die durch die Ansiedlung wehrhafter Kosakenverbände noch verstärkt wurde. Dennoch drohten soziale Konflikte zwischen den Völkern der Steppenzone immer wieder auf die russischen Grenzregionen am Ural und im südlichen Sibirien überzugreifen.
Ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts wurden deshalb unter Zar NIKOLAUS I. die Kasachenterritorien schrittweise unter russische Verwaltung gestellt. Die herrschenden Khane wurden abgesetzt und weitere Eroberungszüge vorbereitet. Dabei diente die Festung Wernyi, das heutige Alma-Ata, als Ausgangsbasis für weitere Operationen in den im Süden angrenzenden Wüstenregionen.

1857 besuchte der Graf N. P. IGNATJEW im Auftrag des Zaren die Khanate Chiwa und Buchara, um sich einen Eindruck von ihren inneren Verhältnissen zu verschaffen. In seiner Position als Leiter des Asiatischen Departements (Abteilung) im Außenministerium sprach er sich im Bericht über den Besuch unverhohlen für eine Annexionspolitik des Zarenreiches in dieser Region aus.
In General M. G. TSCHERNAJEW, dem Löwen von Taschkent, fand er einen willigen Erfüllungsgehilfen. Dieser eroberte nach einer erfolgreichen militärischen Operation am 17. Juni 1865 Taschkent. Damit war das Tor in das südliche Mittelasien weit aufgestoßen. Russland war in dieser Region Mittelasiens zur Ordnungsmacht und zum interessierten Handelspartner geworden.
Dadurch wurde es aber auch unweigerlich in die Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Nomadenstämmen hineingezogen. Die Koordinierung der Aktionen gegen diese Stämme lag seit 1867 in den Händen von General VON KAUFMANN. Diesem gelang es, das neu geschaffene Generalgouvernement Turkestan fest in die Hand zu bekommen und die gesamte Region zwischen Kaspischem Meer und chinesischer Grenze zu unterwerfen: Eingegliedert in das Russische Reich wurden 1868 die Khanate Samarkand, 1873 Chiwa und 1876 Fergana.
Zur Sicherung der „Neuerwerbungen“ und als Ausgangspunkt für die Unterwerfung der gesamten Steppenregion am Kaspischen Meer wurde am Ostufer des Kaspischen Meeres die Festung Krasnowodsk angelegt. Der Widerstand der dort ansässigen turkmenischen Stämme konnte jedoch erst Jahre später gebrochen werden. Im Jahre 1884 hatte das Zarenreich schließlich die äußersten Grenzen seiner Machtausdehnung in Mittelasien erreicht.

Russisches Machtstreben in Fernost

Eine völlig neue Dimension erlangte die Ostexpansion Russlands an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.
Der russische Finanzminister Graf WITTE wollte mit einer Eisenbahn die friedliche Erschließung des riesigen asiatischen und fernöstlichen Raums beschleunigen. Er gehörte daher zu den eifrigsten Befürwortern der Transsibirischen Eisenbahn. Die Transsibirische Eisenbahn vom Ural bis nach Wladiwostok an der Pazifikküste wurde zwischen 1891 und 1919, d. h. in nur 25 Jahren, verwirklicht.Im chinesisch-japanischen Konflikt um Korea im Jahre 1895 setzte Graf WITTE auf die chinesische Karte. In Moskau wurde ein Bündnisvertrag mit China geschlossen. Russland erhielt dabei die Konzession für den Bau einer weiteren Bahnlinie, der sogenannten Ostchinabahn durch die Mandschurei. Die Bahn führte auf direktem Weg von Transbaikalien, der östlich vom Baikalsee liegenden Regionen Mittelsibiriens, über Harbin nach Wladiwostok.

Russisch-Japanischer Krieg

Russland konnte durch dieses Einvernehmen mit China seinen wirtschaftlichen Einfluss auf die Mongolei und die Mandschurei ausdehnen. Wegen der ungelösten Koreafrage und des sich verzögernden Abzugs russischer Truppen aus der Mandschurei kam es zu unüberbrückbaren Gegensätzen mit Japan. In völliger Fehleinschätzung der eigenen militärischen und finanziellen Möglichkeiten stürzte sich das Zarenreich 1904/05 in einen Krieg mit Japan. So endete der Russisch-Japanische Krieg mit einem völligen Fiasko der bisherigen Ostasienpolitik Russlands: Die russische Flotte ging in der Seeschlacht von Tsushima nahezu komplett unter, und die russische Fernostarmee unterlag den Japanern in der Schlacht bei Mukden.
Im Friedensvertrag von Portsmouth vom 5. September 1905 musste Russland die Vorherrschaft Japans in Korea anerkennen. Es trat den Südteil der Insel Sachalin ab und verzichtete zugunsten Japans auf die bestehenden Pachtrechte in Port Arthur und auf der Halbinsel Liaodong. Die Küstenprovinz und die Ostchinabahn konnte das Zarenreich aber behalten.
In den Außenbeziehungen war nun vorsichtige Zurückhaltung angesagt: In Mittelasien suchte man den Ausgleich mit Großbritannien. Russland erkannte die britischen Vorrechte in Afghanistan an, und in Persien einigte man sich auf eine Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären. Diese Vereinbarungen bildeten die Grundlage für eine Festigung der bestehenden Bündnissysteme in Europa und führten zu einer wesentlichen Einbindung Russlands in die Entente gegen Österreich-Ungarn und Deutschland.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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