Zum Begriff der Nation

Nation – Pass und Geburtsurkunde

Heutzutage fühlen sich die meisten Menschen in der Welt einer Nation zugehörig. Man ist Pole, Franzose, Italiener, Deutscher oder Japaner. Die Zugehörigkeit zu einer Nation ist etwas ganz Natürliches. Dokumentiert wird sie im Pass und auf der Geburtsurkunde.
In der Regel leben Nationen in von ihren Mitgliedern gestalteten Nationalstaaten. Diese statten ihre Bürger mit einer Staatsangehörigkeit, mit Bürgerrechten und Schutzversprechen aus oder erheben zumindest den Anspruch darauf. Für den Einzelnen wiederum bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Nation, dass er in eine soziale Großgruppe eingebunden ist. Von ihr kann er Solidarität und Unterstützung, aber auch soziale Absicherung erwarten. Umgekehrt werden von ihm Loyalität und die Bereitschaft erwartet, die Nation bei Gefahr zu verteidigen, notfalls auch mit dem eigenen Leben.
Nation und Nationalstaat sind für den Einzelnen die Handlungsrahmen, innerhalb deren sich seine politischen, sozialen und kulturellen Aktivitäten bewegen. Die Nation ist folglich das Band, mit dem Gesellschaften und Staaten zusammengehalten werden, durch das ihnen Stabilität verliehen wird und ihre Bürger zu gemeinsamem Handeln verpflichtet werden. Staaten, die sich auf solidarische Nationen stützen können, sind auf Dauer besser überlebensfähig.

Nation – ein moderner Begriff

Der Begriff Nation (von lat.: nasci = „geboren werden“), so wie er heute gebraucht wird, ist gerade einmal zweihundert Jahre alt. Vom Mittelalter bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert hatte er eine wesentlich eingeschränktere Bedeutung. Der Begriff Nation wurde in dieser Zeit allein auf Menschen gleicher Abstammung oder Herkunft, auf Landschaften oder Siedlungsgebiete oder auf eindeutig abgrenzbare politische Gruppen bezogen.
Durch die Französische Revolution änderte sich das. Der Begriff Nation wurde zunehmend Ausdruck und gleichzeitig auch Instrument zur politischen Mobilisierung der Menschen. Erstmals begriffen sich die Bewohner eines Staates als eine Gemeinschaft mündiger und gleicher Staatsbürger. Diese Gemeinschaft, die „Nation“, nahm sich das Recht, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen, indem von ihr gewählte Organe die höchste Souveränität ausübten.
Trotz mannigfacher sozialer, regionaler und konfessioneller Besonderheiten und Unterschiede bildeten die Bürger Frankreichs auf einer neuen Grundlage ein einheitliches Staatsvolk. Diese neue Nation als zentrale Lebensgemeinschaft sollte den bisher stärker trennenden Charakter dieser Unterschiede überwinden. Sie sollte die allein verbindliche Instanz der Sinngebung und Rechtfertigung für das souveräne Handeln des Volkes sein.

Entstehung von Nationalstaaten

Die moderne französische Nation konnte auf den Trümmern eines über Jahrhunderte gewachsenen monarchischen Staat entstehen, der über relativ gesicherte Grenzen verfügte. Die Existenzberechtigung dieses französischen Nationalstaates wurde von niemandem in Europa mehr infrage gestellt.
In vielen Teilen Europas herrschten aber andere Bedingungen: Staat und Nation waren hier aus den unterschiedlichsten Gründen nicht deckungsgleich. Das war beispielsweise in Deutschland, vor allem aber in Russland, der Habsburgermonarchie und im Osmanischen Reich der Fall, wo innerhalb der Staatsgrenzen unterschiedliche Nationen lebten bzw. zu leben gezwungen waren. In diesen Gebieten musste sich der Übergang vom historisch gewachsenen Staat zum modernen Nationalstaat zwangsläufig unter ganz anderen, z. T. schwierigeren Bedingungen vollziehen.
Die Forderung „eine Nation – ein Staat“ war dennoch wesentliches Ziel nahezu aller europäischen nationalen Bewegungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie wurde seit dieser Zeit im europäischen Raum und darüber hinaus auch weitgehend durchgesetzt, wodurch sich bis heute die politische Landkarte der Erde völlig veränderte:

Zwischen 1870 und 1914 lag die Gesamtzahl der souveränen Nationalstaaten auf der Erde bei fünfzig. Davon befanden sich sechzehn in Europa.

Nach 1914 stieg ihre Zahl nur gering um zehn auf 60 Staaten an.

Von diesen Staaten traten nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges 1945 genau 51 den Vereinten Nationen bei. 1997 war die Zahl der Mitglieder vor allem durch den Zerfall des Kolonialsystems und die Auflösung des sozialistischen Weltsystems auf 185 Staaten gestiegen. In Europa zählte man im gleichen Jahr 43 Staaten – so viele wie noch niemals zuvor.

Für jede nationale Bewegung in Europa spielten Dichter, Philosophen, Politiker und Historiker als Vordenker eine bedeutende Rolle. Sie begründeten meist überzeugend die Ansprüche der Nation auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung. Häufig, nicht selten mit der Waffe in der Hand, trugen sie auch dazu bei, diese Ansprüche durchzusetzen. In der deutschen Nationalbewegung zu Beginn des 19. Jh. gehörten zu diesen Persönlichkeiten u. a. die Philosophen HERDER und FICHTE, der „Turnvater“ JAHN und der Publizist ARNDT.
Den Vordenkern war in allen Nationalbewegungen die Überzeugung gemeinsam, dass sich eine Nation vor allem über ihre Sprache begründet. Sprachliche Einheit war für sie deshalb für jeden Nationalstaat unverzichtbar. Jede Nation sei eine Sprachgemeinschaft. Deshalb müsse in ihr auch eine Nationalsprache gesprochen werden. Durch ein solches Verständnis wurde die Sprache in ihrer Bedeutung enorm aufgewertet. Sie galt als das äußere, sichtbare Merkmal, durch das ein Volk zur Nation gemacht wird und durch das eine Nation von der anderen unterscheidbar wird.

Nation und Nationalbewusstsein

Nationalbewusstsein wird im weitesten Sinne durch Erziehung vermittelt. Dabei wird meist das Gemeinsame hervorgehoben, die Gemeinsamkeiten z. B. in der Geschichte, der Kultur, der Sprache, in den Sitten und Gebräuchen, in den politischen Idealen oder in der Religion. Nationalbewusstsein bzw. nationale Identität wird aber auch nicht selten durch Abgrenzung von oder durch den Vergleich mit anderen Nationen definiert. Das hängt damit zusammen, dass sich Menschen in der Auseinandersetzung mit anderen ihrer eigenen Identität und ihrer Gemeinsamkeiten häufig leichter und genauer bewusst werden können.
Die Besetzung Mitteleuropas durch NAPOLEON I. war für das Nationalbewusstsein vieler Deutscher im frühen 19. Jh. ein entscheidender Auslöser. Da die französische Besetzung von vielen Deutschen als Fremdherrschaft empfunden wurde, waren die Jahre zwischen 1806 und 1813 die Geburtsstunde der nationalen Bewegung.

Nation – ein Modell mit Zukunft?

Das Band, das eine Nation zusammenhält, lockert sich, wenn sich das Nationalbewusstsein abschwächt. Dies muss nicht immer negativ sein. Denn dort, wo sich das Nationalbewusstsein abschwächt, kann Raum für andere nationale Loyalitäten geschaffen werden.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist eine solche Entwicklung im Zusammenhang mit der Einigung Europas zu beobachten. Es hat den Anschein, dass die Nation im europäischen Einigungsprozess ihre politische Bedeutung sukzessive verliert. Sie erscheint nicht mehr als der alles beherrschende Bezugsrahmen für die Loyalität des Einzelnen und die kollektive Identität aller Bürger.
In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage ob das Zusammenwachsen der unterschiedlichen europäischen Nationen zu einer einzigen Nation das alles überragende strategische Ziel sein kann. Denn die Verschiedenheit der Nationen, ihrer Geschichte oder kulturellen Traditionen, ist Ausdruck auch des Reichtums Europas in seiner kulturellen und geistigen Vielfalt. Deshalb wird die europäische Einigung nur mit den Nationen möglich sein und nicht gegen sie.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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