Beethovens Streichquartette

Die Entstehungszeit von LUDWIG VAN BEETHOVENs (1770–1827) Quartetten ist durch zahlreiche Krankheiten und seine zunehmende Gehörlosigkeit geprägt. Angesichts der fortschreitenden Taubheit sind die Kompositionen als „Ideenkunstwerke“ entworfen, die dem innersten Anliegen des Meisters Ausdruck verleihen sollen. Auf das Fassungsvermögen der Hörer ist dabei zunehmend weniger Rücksicht genommen. In klar voneinander getrennten Gruppen durchlaufen die Quartette alle Schaffensphasen des Komponisten.

Die frühen Quartette (op. 18)

Der erste Quartett-Zyklus op. 18, der zwischen 1798 und 1800 im Auftrag des Fürsten FRANZ JOSEPH M. V. LOBKOWITZ (1722–1816) entstand, steht noch ganz in der Tradition der großen Vorbilder

  • JOSEPH HAYDN (1732–1809) und
  • WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756–1791).

Bereits die zyklische Anordnung von sechs Werken unter eine Opus-Zahl folgt der Tradition HAYDNs und MOZARTs. Jedoch entspricht die Entstehungszeit der Quartette nicht ihrer Anordnung im Zyklus von op. 18. Das zuerst entstandene Quartett war das Streichquartett D-Dur op. 18,3. Die Werke wurden unabhängig von ihrer Entstehung so angeordnet, dass bei der Aufführung des gesamten Zyklus ein strahlendes Eröffnungsquartett am Beginn steht. Doch BEETHOVEN ging bei der Suche nach der richtigen Anordnung der Quartette in op. 18 noch einen Schritt weiter: Zwei benachbarte Quartette sind jeweils im Sekundabstand angeordnet: F–G/D–c/A–B. Die Kompositionen stehen zudem in einer Werk übergreifenden Quintbeziehung: GBildc/DBildA. Dabei umschließen die äußeren Streichquartette des Zyklus die inneren Quartette durch einen Quintrahmen: FBildB.

Das erste der Quartette – F-Dur op. 18,1 – zeigt deutlich die Auseinandersetzung mit den großen Vorläufern HAYDN und MOZART. BEETHOVEN greift die Motivtechnik HAYDNs auf und zitiert ein Motiv aus MOZARTs Es-Dur Divertimento für Streichtrio (KV 563, I/T. 43–46). Darüber hinaus finden sich aber schon in diesem Werk motivisch-thematischen Ableitungen, die den eigenen Stil BEETHOVENs prägen. Auch der Verzicht auf die Wiederholung von Durchführung und Reprise in den Kopfsätzen von op. 18,1-4 stellt eine Abgrenzung von den Vorbildern dar.

Das Quartett G-Dur op. 18,2 wird aufgrund seines Hauptthemas auch „Komplementierquartett“ genannt, denn dieses Thema setzt sich aus drei Motiven zusammen, die wie graziöse Verbeugungen scheinen. Der Finalsatz bildet mit seinen Bezügen zu HAYDNs Streichquartett G-Dur op. 77,1 (1799) eine direkte „Hommage à Haydn“.

Gegenstück zu dieser Reminiszenz an HAYDN bildet die Erinnerung an MOZART in A-Dur op. 18,5. Vorbild dieses Werkes war MOZARTs A-Dur-Quartett KV 464.
Das einzige Moll-Quartett des Zyklus – c-Moll op. 18,4 – gilt als „Pathétique“ unter den Streichquartetten, vergleicht man es mit der ebenfalls in c-Moll tonierten „Grande Sonate pathétique“ op. 13 (1798/1799).

Der Kopfsatz des Quartetts B-Dur op. 18,6 ist nach dem Prinzip eines klassischen Sonatenhauptsatzes konzipiert. Im Finale tritt aber nicht nur ein ungewöhnlich melancholischer Ton in den Schlusssatz, sondern auch an das Ende des gesamten Werk-Zyklus. Diese Melancholie ist durch die Satz-Überschrift: „La malinconia“ intendiert.

Die Quartette der mittleren Schaffensperiode (op. 59)

Erst nachdem BEETHOVEN im Bereich der Sonate und der Sinfonie einen neuen Weg gegangen war, widmete er sich mit op. 59 wieder der Gattung Streichquartett. Diese 1805/1806 entstandenen Quartette sind in die mittlere Schaffensperiode einzuordnen. Widmungsempfänger dieses Werk-Zyklus war der befreundete russische Graf ANDREAS KYRILLOWITSCH RASUMOWSKY (1752–1836). Er spielte selbst in einem Quartett Violine und gab den Auftrag zur Komposition der drei Streichquartette op. 59. Von 1808–1816 unterhielt RASUMOWSKY sogar ein eigenes Streichquartett, das Schuppanzigh-Quartett des österreichischen Geigers IGNAZ SCHUPPANZIGH (1776–1830). Mit diesem feststehenden Ensemble kam es schließlich zur Uraufführung, was dem Zyklus auch den Beinamen „Rasumowsky-Quartette“ einbrachte. Um die Widmung noch zu unterstreichen, verwendet BEETHOVEN in jedem der drei Quartette russische Volksliedmelodien: in op. 59,1 und op. 59,2 als direktes Zitat, im zweiten Satz von op. 59,3 in Form einer frei erfundenen Melodie im Stil russischer Volkslieder.

Das Neue in den Quartetten zeigt sich schon in der Ausdehnung ihrer Form und Formteile. Angesichts der Dimensionen sprachen Kritiker sogar von „Quartettsinfonien“. So umfasst das 1. Thema des Kopfsatzes aus op. 59,1 19 Takte. Diese ungewöhnliche Themenlänge zieht eine freiere Behandlung des Sonatensatzes nach sich. In op. 59,3 ist dem Kopfsatz erstmals eine langsame Einleitung mit präludierendem Charakter vorangestellt. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das in fast allen weiteren Quartetten beibehalten wird.

Mit ihrer enormen Länge und der ungewohnten Musiksprache blieben die Rasumowsky-Quartette lange Zeit für die Hörer unverständlich. Aus denselben Gründen war es Laienmusiker kaum mehr möglich, die angestiegenen Schwierigkeiten zu meistern. Mit den Streichquartetten aus op. 59 wandelte sich das Streichquartett aus einer Form der Hausmusik hin zu einer konzertant aufgeführten Gattung.

Die Streichquartette Es-Dur op. 74 und f-Moll op. 95

Die um 1810 entstandenen Werke stellen einen Übergang zwischen den dramatischen Werken der mittleren Schaffensperiode um 1805 und den stilistisch diffuseren Kompositionen des Spätwerks dar. Ihnen liegt ein freundlich inniger Grundton zugrunde. Zugunsten von liedhafter Freizügigkeit sind die motivisch-thematischen Verarbeitungsprozesse gelockert.

Das Quartett Es-Dur op. 74 entstand im Jahr 1809. Es wird wegen der auffälligen Pizzicato-Arpeggien im 1. Satz auch „Harfenquartett“ genannt. Wieder wird dem Thema eine langsame Einleitung vorangestellt. Diese gewinnt im Gegensatz zu op. 59,3 an Bedeutung. Sie hat nicht nur präludierenden Charakter sondern ist thematische Vorbereitung. Auffällig ist zudem das Variationsfinale, das zwischen kraftvoll heiteren und lyrisch besinnlichen Variationen wechselt.

Das Quartett f-Moll op. 95 scheint durch seinen extrem dramatischen Tonfall aus den Werken der Übergangsgruppe herauszufallen. Die Dramatik des Werkes erklärt sich aus den Umständen seiner Entstehung im Jahre 1810. BEETHOVEN schrieb dieses Quartett, nachdem die 19-jährige THERESE MALFATI seinen Heiratsantrag abgewiesen hatte. Die ganze Enttäuschung und Bitterkeit über die Zurückweisung spiegelt sich in diesem Werk wieder. Wegen seines bekenntnishaften Charakters wurde es ungewöhnlich lange zurückgehalten und kam erst 1814 zur Aufführung.

Die dramatische Grundstimmung von 1810 veranlasste BEETHOVEN, dieses Quartett als „quartetto serioso“ zu bezeichnen. In diesem Werk ist die außerordentliche Konzentration in formaler wie satztechnischer Hinsicht bemerkenswert.

Die Streichquartette der späten Schaffensperiode (op. 127, op. 132, op. 130, op. 133, op. 131, op. 135)

Erst 1824 widmete sich BEETHOVEN mit seinem Es-Dur op. 127 wieder der Gattung Streichquartett. Bereits im November 1822 hatte er von seinem Bewunderer, dem russischen Musikfreund Fürst NIKOLAUS GALITZIN (1795–1866) den Auftrag erhalten, drei neue Streichquartette zu komponieren. Offensichtlich war er aber mit seiner Zusage den Dingen vorausgeeilt, denn das gesamte Jahr 1823 war von der Arbeit an der 9. Sinfonie in Anspruch genommen. Erst im Sommer 1824 begann BEETHOVEN mit der Komposition des ersten Auftragsquartetts, dem Es-Dur-Quartett op. 127. Ihm folgen die beiden weiteren Auftragswerke, das Quartett a-Moll op. 132 und das Quartett B-Dur, das aufgrund seiner früheren Veröffentlichung die Werk-Zahl op. 130 erhielt. Der Auftraggeber Fürst NIKOLAUS GALITZIN war zugleich Widmungsempfänger, weshalb diese drei Quartette auch unter dem Namen „Galitzin-Quartette“ bekannt geworden sind.

Die Reihe der späten Quartette eröffnet das Quartett Es-Dur op. 127. Es weist eine konventionelle viersätzige Anlage auf. Innerhalb dieser Sätze kommt es aber gelegentlich zu einer unkonventionellen Verschleierung der Form, beispielsweise in der abrupt eintretenden Reprise im Kopfsatz. Durch seine Variationenfolge wird der 2. Satz zum zentralen Satz. Die 3. Variation dieses Satzes zeigt in ihrer instrumentalen Variante des Benedictus der „Missa Solemnis“ eine starke Nähe zur Messe. Zugleich ist op. 127 geprägt durch einen in sich gekehrten Grundton, der die späten Quartette kennzeichnet.

Das Quartett a-Moll op. 132 ist besonders bekannt geworden wegen seines Variationssatzes, dem „Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit in der lydischen Tonart“. Der Titel dieses 3. Satzes geht auf die Umstände seiner Entstehung zurück. BEETHOVEN schrieb diesen weihevollen Adagio-Satz unter dem Eindruck einer schweren Krankheit, die seinen enormen Schaffensdrang im April 1825 unterbrochen hatte. Der vollständigen Genesung wird im darauf folgenden Abschnitt „Neue Kraft fühlend“ Ausdruck verliehen.

Der sechssätzige Aufbau des Quartetts B-Dur op. 130 erinnert gewissermaßen an die barocke Suite. Darüber hinaus ist die gesamte Komposition mit barocken Elementen durchzogen. Im Allegro-Teil des 1. Satzes herrschen „barocke“ Spielfiguren vor. Eine stärkere kontrapunktische Arbeit als in den früheren Streichquartetten ist zu verzeichnen. So bildet eine Schlussfuge den Höhepunkt des Quartetts. Sie wurde aber wegen ihres enormen Ausmaßes auf Wunsch des Verlegers gesondert in op. 133 als „Große Fuge für Streichquartett B-Dur“ veröffentlicht. An ihre Stelle trat ein neu komponiertes Rondo-Finale.

In dem siebensätzigen Quartett cis-Moll op. 131 sind alle Sätze des Werkes durch Überleitungen zu einem großen Ganzen verbunden. Das Quartett beginnt mit einer Eröffnungsfuge und weist einen zentralen Variationssatz auf, der ein breites Spektrum an Stimmungslagen und Charakteren bietet.

Die Quartette op. 132, op. 130 und op. 131 bilden eine Einheit, was sich nicht zuletzt im Streben nach einer Erweiterung der Satzzahl spiegelt. Dies nimmt im fünfsätzigen op. 132 seinen Anfang und führt über das sechssätzige op. 130 (op. 133) bis hin zur siebensätzigen Anlage von op. 131. Umrahmt werden diese Kompositionen durch die jeweils viersätzigen Quartette op. 127 und op. 135.

Die Einheit geht jedoch über die rein formale Ebene hinaus. Zwischen den Quartetten op. 132, op. 130 und op. 131 besteht auch eine thematische Verbindung. Ein Vierton-Motiv, das am Beginn des 1. Satzes von op. 132 im Cello vorgestellt wird, kehrt in den verschiedensten Varianten an zahlreichen Stellen in op. 130 und op. 131 wieder.

Das letze der Beethovenschen Streichquartette – F-Dur op. 135 – erinnert in seiner viersätzigen Anlage, seinen ungewöhnlich knappen Sätzen sowie dem Divertimento-Ton im 1. Satz noch einmal an die Tradition HAYDNs und MOZARTs.

Zeittafel

1798–1800sechs Streichquartette, op. 18
1801/02Umarbeitung der Klaviersonate E-Dur op. 14,1 (1798) in ein Streichquartett F-Dur
1805/1806drei Streichquartette op. 59
1809Streichquartett Es-Dur op. 74
1810Streichquartette f-Moll op. 95
1824/1825Streichquartett Es-Dur op. 127
1825Streichquartett a-Moll op. 132
1825/1826Streichquartett B-Dur op. 130
1826Streichquartett cis-Moll op. 131
1825Große Fuge für Streichquartett B-Dur op. 133
1826Streichquartett F-Dur op. 135

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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