Stimmen der Welt

Klangfarbe, Dynamik, Stimmansatz, Register, Vibrato, Stimmumfang, Atem- und Verzierungstechnik tragen das ihre bei, um die Ausdrucksvielfalt in Verbindung mit einem kulturell bezogenen emotionalen Inhalt in der Bandbreite von Freude, Angst, Glück oder Trauer zu verbinden. Auch die mit den Klangfarben und Klangformen assoziierten Vorstellungen sind jeweils kulturell bedingt. Timbre, Bewegungsverlauf und Motorik des Singens sowie das Verhältnis zur Sprache sind jeweils in unterschiedlichen Überlieferungszusammenhängen und in ihrer Zeit zu sehen.

Rufen, Schreien, Jauchzen (Signalruf, Freudenschrei, Ritualschrei)

Zurufe, Jauchzer und Schreie werden in hoher Falsettlage ausgestoßen. Ihnen zugrunde liegen Affekte wie Lust, Freude, Angst und Aggression und sie wirken zugleich als Signal. Jäger, Sammler, Nomaden, Bauern und Fischer kennen seit jeher Zurufe, Freudenschreie, Jauchzer und Signalrufe.

Der Jauchzer ist auch bei Hirten und in Berggebieten z.B. beim Wildheuen, beim Schlittenfahren und beim Klettern ein beliebtes Verständigungsmittel überschäumender Freude. Der Melodieverlauf ist in Alpengebieten meist absteigend (deszendent), mehr oder weniger mit rhythmischen Impulsen strukturiert.

Aus Paraguay sind in einem Ritual über „die Ursprünge der Welt“ langgezogene und ritualisierte Schreie bekannt, die kombiniert werden zwischen Einzelnen und der Gruppe und zugleich in gegensätzlichen Stimmlagen. Die Schreie werden mit und ohne Worte sowie mit und ohne Vibrato ausgeführt und kommen zum Schluss auf einer rhythmischen Basis wieder zusammen mit den Klängen einer Rassel (Maraca) und mit einem Panflötenensemble, deren Instrumente sich je aus zwei Einzelpfeifen zusammensetzen.

Rituelle Erzählungen untermischt mit Schreien und Rufen sind in zahlreichen Kulturen verbreitet, so etwa auch in Neu Kaledonien und bei den Maori. Eine modernisierte Form des chorisch unison-rhythmisierten Brüllens und Schreiens wird seit 1987 von dem 30 bis 80 Köpfen zählenden finnischen Männerchor MIESKUORO HUUTAJAT gepflegt. Deren straff organisiertes Brüllen mutet martialisch an, will aber eine Karikatur von Drill und Disziplin des täglichen Lebens darstellen. Herausgebrüllt werden im kollektiven Urschrei finnische und deutsche Schlager, Heimatschnulzen und Nationalhymnen.

Ruf und Antwort (call und response)

Signal-Rufe von einer Talseite zur anderem werden beantwortet und bilden eine der Voraussetzungen für eine kreative Weiterentwicklung im responsorialen bzw. antiphonalen Singen. Das besonders in Afrika und im afro-amerikanischen Traditionen beheimatete Modell von call and response findet sich besonders bei Arbeitsgesängen in vielen Varianten ausgestaltet, wie z.B. bei der Arbeit von kalabrischen Fischern beim Fangen von Thun-Fischen und dem Heranziehen der Netze. Call and response findet man auch oft im Jazz oder in der Gospelmusik.

Diddle (textloses Singen)

Das freie kreative Umgehen mit nicht-textbezogenen Silben wird im diddling (auch lilting und jigging) mit einem besonderen „lift“ rhythmisiert. Diese Form des Dudelns galt einst als die mouth music armer schottischer und irischer Emigranten und Flüchtlinge. Heute ist sie als „keltisches Erbe“ beim Wettkampf-Diddeln wieder zu Ehren gekommen. Man improvisiert einfache Melodien, imitiert fehlende Musikinstrumente und macht Anleihen bei bekannten Liedern und Tänzen.

Dudeln, Ludeln, Johlen, Jodeln (Bruststimme und Kopfstimme)

Wo das wortlose Singen im spielerischen Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme wechselt, zeichnet sich musikalisch das Jodeln ab. Unter Jodeln (österr. auch dudeln und ludeln) versteht man im Allgemeinen (1.) ein text- und wortloses Singen, in dem das Spiel der Klangfarben besonders in der Abfolge von einzelnen, nicht sinngebundenen Vokal-Konsonant-Verbindungen (wie jo-hol-di-o-u-ri-a) betont wird und sich zugleich (2.) mit der Technik des fortlaufenden Registerwechsels zwischen Bruststimme und Falsett- (bzw. Kopfstimme) auf kreative Weise verbindet. (3.) Geschulte Spitzenjodler verfügen über eine stimmliche Bandbreite von drei Oktaven. Gejodelt wird einstimmig und mehrstimmig mit und ohne Instrumentalbegleitung, kombiniert mit Lied und Jodelrefrain.

Das Jodeln als Phänomen ist jedoch nicht nur in den zentraleuropäischen Alpengebieten bekannt, sondern auch im amerikanischen Cowboy-Jodel etwa eines JIMMIE ROGERS (1897–1933). Jodelähnliche Phänomene sind in vielen Gebirgs- und Waldregionen anzutreffen, unter anderem in Polen, Rumänien, Albanien und Georgien. Nicht nur in Zentralasien findet man verwandte Gesangstechniken, sondern auch bei Buschmännern, Jägern und Sammlern in verschiedenen afrikanischen Ländern (Äthiopien, Ruanda, Zaire, Angola, Burundi, Gabun) und besonders bei den Pygmäen. In der südlichen Hochland-Provinz von Papua-Neuguinea ist bei den Huli jodelähnliche Klangfarbenmelodik ebenso bekannt wie bei den Bororo im Amazonas.

Kehlkopfsingen und Atemtechnik

Neben geflüsterten Gesängen gibt es auch das Singen mit gepresster Stimme, wobei rhythmisch markierte Atemgeräusche und gutturale Klänge sich mit speziellen Atem- und Kehlkopftechniken verknüpfen. Wird das tiefe Aus- und Einatmen besonders forciert, kann dies bewusstseinsverändernde Nebenwirkungen erzeugen. Diese Technik wird vor allem auch zur Herbeiführung von Trancezuständen verwendet. In der islamisch-spirituellen Übung des dhikr wird mit punktiertem Rhythmus solch eine Atemtechnik besonders beim Lobpreis von Allah herausgearbeitet und allmählich so gesteigert, dass die Sänger in einen Zustand der Ergriffenheit versetzt werden.

Hoquetus-Technik und Klangfarbenspiel

Lautstarkes und heftiges Ein- und Ausatmen im Wechsel zwischen zwei Frauen, untermischt mit stoßenden nasalen und gutturalen Geräuschen ist bei den kanadischen Inuit ein überaus beliebtes Spiel, das solange ausgeführt wird, bis die eine vor Lachen abbrechen muss. Dieses Kehlkopfspiel heißt katajjak und baut auf der Hoquetus-Technik auf, d.h. während die eine Vortragende ein bis mehrere Geräuschtöne produziert, pausiert die andere und umgekehrt. Erst im Zusammenwirken der beiden ergibt sich das Ganze als gemeinsames „Klangfarbenspiel“.

Obertongesang

Der Obertongesang ist mit dem instrumental ausgeführten Maultrommelspiel von der Technik des Herauspickens und Verstärkens einzelner Teiltöne aus der gesamten Spektrumsbreite eines durchgehaltenen Tones vergleichbar. Durch die veränderte Stellung des Rachens und der Mundhöhle können beim Singen eines Grundtones einzelne Obertöne verstärkt werden. Es ist möglich, dass auf diese Weise zwei bis drei Obertöne simultan zum weiterhin erklingenden Liegeton (Grundton) eine Melodie hörbar machen, die sich aus den wechselnd hervorgehobenen Teiltönen und ihren möglichen Zusammenklängen ergeben.

Diese Vokalpraxis ist u.a. vor allem in Sibirien, bei den Tuva und in der Mongolei als chömij (wörtl. „Kehle“) und in tibetischen Schamanengesängen bekannt. Obertonsingen wurde traditioneller Weise beim Wiegen von Kindern, beim Hüten der Herden oder bei der Jagd von Rentieren verwendet. Auch die Xhosa in Südafrika und die Amanab-Yafar in Papua Neu Guinea kennen spezielle Obertontechniken.

In der Zwischenzeit hat sich diese Gesangsart zu einer eigenen Kunstform im Umkreis der Kirchenmusik einerseits und von New Age andererseits entwickelt und wurde schließlich auch im Westen durch Obertonchöre adoptiert.

Bordun, Heterophonie, Polyphonie

Eine oder mehrere Stimmen können einen einfachen Liegeton oder wenige wechselnde Dauertöne ausführen. Entfaltet sich darüber eine Melodie, spricht man von Borduntechnik. Dieses einfachste Prinzip mit einem Liegeton findet sich als Ison im griechisch-orthodoxen Kirchengesang.

Andernorts, in Indonesien, intoniert ein Chor von Männern einen unisonen Bordunton, und ein Vorsänger schmückt dazu in Sekundenintervallen nach oben und nach unten hin den Liegehalteton aus. Die Tosk in Albanien praktizieren eine andere einfache Polyphonie. Die Gesangsphrase des ersten Vorsängers wird in einer Art Imitation vom zweiten Vorsänger übernommen, und beide Melodiephrasen werden von einem langgezogenen Chorbordun (kaba) gestützt. Die Vorsänger vermischen ihr rubatohaftes Melos mit jodelartigen Kettentrillern, die im schnellen Wechsel des Registers und bei teilweiser Überlappung eine Art von Mehrstimmigkeit hervorbringen. Im Hörbeispiel 1 ist lettischer Vokalbordun zu hören.

audio

Bei den Nomaden der Wodaabe-Fulani, im westafrikanischen Staat Niger, entfalten einzelne Sänger in ihrem langsamen Tanz yake ein fünftöniges (pentatonisches) Deszendenzmelos, das von dem Chor mit lang gezogenen und wechselnden Borduntönen beantwortet wird. Mehrere Borduntöne erscheinen plötzlich gleichzeitig miteinander etwas versetzt, so dass bis zu vier Stimmen erklingen. Durch die Überlagerung der gleichen Melodiefloskeln, die sich rhythmisch leicht verschieben und auseinandergehen, ergibt sich zugleich eine Heterophonie.

Im mehrstimmigen Appenzeller Naturjodel (Schweiz) ist das Haltetonprinzip kombiniert mit einem Vorjodler (Vorzaurer), einem zweiten Vorzaurer. Der Chor bildet die „Gradhäber“ (= jene welche die Töne gerade aushalten). „Gehalten“ werden Akkorde, die so einen harmonischen Akkordbordun bilden. Da diese Grundakkorde zwischen Tonika und Dominante alternieren, spricht man auch von einem harmonischen Wechselbordun.

Bei der Polyphonie im engeren Sinn wird die Spaltung der Stimmen bewusst intensiviert. Kontrapunktische Elemente zeichnen sich hierbei durch rhythmische oder melodische Aufteilung der Stimmen mit je selbständiger Bewegungsorientierung ab. Mehr oder weniger freie polyphone Gesänge sind weitverbreitet, so in der Südukraine, in Südrussland, bei den Georgiern und Albanern, in Sardinien, Kalabrien und Sizilien. Mit Gegenbewegungen ausgestattete Mehrstimmigkeit hört man u.a. auch bei den Dorze in Äthiopien, in Zentralafrika bei den Pygmäen, in Taiwan bei den Amis und des weiteren auf den Salomonen Inseln und im Bergland von West Neuguinea. Diese und viele andere mündlich überlieferte Traditionen künden sowohl von der Vielfalt als auch der Verschiedenheit unterschiedlicher Techniken eines mehrstimmigen Singens.

Singen in parallelen Stimmen und Schwebungsdiaphonie

Das Singen in parallel geführten Oktaven, Quinten, Quarten bzw. im Quint-Quart-Organum ist in schriftlicher Überlieferung seit dem 9. Jahrhundert durch den Traktat der Musica Enchiriadis, durch die aquitanische Mehrstimmigkeit von Saint Martial zu Limoges und vor allem durch die Notre Dame Schule in Paris (LEONIN und PEROTIN) bekannt geworden.

Die zentraleuropäische traditionelle und improvisierte Singpraxis der Gegenwart ist heutzutage vorwiegend auf das parallele Singen in Terzen und Sexten eingestellt. Singen in parallelen Terzen oder Quarten ist auch bei den Baule bzw. den Gere an der Elfenbeinküste bekannt, parallele Stimmführung in Quinten ist bei den Rashaida in Eritrea belegt.

Besonders markant ist am Balkan, in Serbien, Bosnien und Herzegowina das Singen in großen Sekundparallelen. Was dem westlichen Ohr als „dissonant“ erscheint, wird dort als stimmig und schön empfunden. Vor allem sind es die so erzeugten akustischen (Schwingungs-)Schwebungen zwischen den Sekunden, die bei den dicht zusammengerückten Mitgliedern des Chores auch als physischer Reiz erlebt werden. Im Herzegowina wird diese musikalische Form ganga genannt. Das Phänomen selber wird auch mit Schwebungsdiaphonie bezeichnet. Ganga-Lieder in Sekundparallelen machen deutlich, dass die Grundannahmen, etwas sei „harmonisch“ oder „dissonant“, mentale Konstrukte sind, die jeweils nach Ort, Zeit und Tradition kulturell variieren. Schon aus solchen elementaren Grundlagen heraus wird erkennbar, dass ästhetische Werte nie allgemeinverbindlich sein können, sondern jeweils auf dem Konsens von überlieferten Traditionen, Hörgewohnheiten und konzeptionellen Vorstellungen basieren, die sich im Lauf der Geschichte zudem laufend verändern können.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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