Phantomschmerzen

Schmerzen beginnen normalerweise dort, wo äußere Reize das Gewebe schädigen oder wo eine Entzündung vorliegt. Die Rezeptoren der betroffenen Region setzen dann Schmerzimpulse frei, die den Reiz vom Ort der Schädigung über das Rückenmark entlang der Nervenbahnen im Wirbelkanal bis zum Gehirn weiterleiten. Untersuchungen zeigen, dass entgegen der lange verbreiteten Meinung, das Gehirn besitze ein eigenes Schmerzzentrum, es tatsächlich schmerzhafte Reize in verschiedenen Bereichen verarbeitet. So sind beispielsweise bei chronischen Rücken- oder Phantomschmerzen Teile der Großhirnrinde aktiviert.

Bei den verschiedenen Schmerzregionen handelt es sich um Nervenzellen-Verbände aus auseinanderliegenden Hirnarealen, die Schmerzsignale aus unterschiedlichen Nervenbahnen empfangen und auf verschiedenartige Weise parallel oder hintereinandergeschaltet verarbeiten. Dafür, wie intensiv die betroffene Person den Schmerz wahrnimmt, sind bestimmte Nervenzellen-Verbände im sogenannten limbischen System zuständig, das an der Entstehung von Gefühlen und gefühlsbetonten Verhaltensweisen beteiligt ist. Ein weiterer Neuronen-Verband des limbischen Systems entscheidet schließlich, ob der Schmerzreiz als unangenehm empfunden wird.

Im Gegensatz zu Schmerzen, die immer durch Reize an einem noch existierenden Körperteil ausgelöst werden, betreffen Phantomschmerzen einen von den Nerven abgetrennten oder überhaupt verloren gegangenen Körperteil. In den meisten Fällen handelt es sich um den Verlust von Extremitäten (Arme und Beine), jedoch sind auch bei Brust- oder Zahnamputationen oder bei Verlust von Zunge, Enddarm, Blase, Nase, Klitoris, Hoden und Penis diese Symptome beobachtet worden. Beim Phantomschmerz werden die Schmerzen außerhalb des Körpers wahrgenommen, nämlich dort, wo sich der verlorene Körperteil noch befinden würde. Diese Wahrnehmung ist häufig mit der Annahme einer Fehlstellung oder Bewegung des betroffenen Bereichs verbunden.
Phantomschmerz wird unterschiedlich wahrgenommen, am häufigsten als brennend, kribbelnd, nadelstichartig, stechend oder krampfartig, mit oft wellenförmiger Intensitätsschwankung und mit einschießenden Attacken.

Um die Ursachen des Phantomschmerzes und die Möglichkeiten seiner Bewältigung zu erkennen, soll zunächst auf

  • die Schmerzrezeption,
  • die Auslösung der Schmerzempfindung und
  • das Bewusstsein über die Körperlichkeit eingegangen werden.

Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) können durch mechanische, thermische und chemische Reize beeinflusst werden. Die ausgelöste Erregung wird über afferente Schmerzbahnen zum Rückenmark geleitet, wobei eine räumliche Ordnung zu erkennen ist. Die Hautafferenzen jeder Hinterwurzel des Rückenmarks bilden ein eng umschriebenes Hautgebiet ab. Das wird als Dermatom bezeichnet.
Da mehrere Dermatome dicht beieinanderliegen und die Hinterwurzelfasern beim Wachstum in die Peripherie umgebündelt werden, entstehen Überlappungen. Sie haben zur Folge, dass das Innervationsgebiet (Einzugsgebiet) einer Hinterwurzel nur geringen sensorischen Ausfall, aber Verdünnung der Erregung zur Folge hat.

Vom Rückenmark werden die Erregungen weiter zu verschiedenen Teilen des Gehirns geleitet, verarbeitet und als Schmerzempfindung erkannt.
Nach neueren Untersuchungen gibt es kein spezielles Schmerzzentrum im Gehirn. Vielmehr wird die Schmerzempfindung durch das Zusammenwirken mehrerer Gehirnteile gebildet und damit auch die subjektive Schmerzempfindung erklärt.

Das Bewusstsein einer Körperlichkeit wird durch

  • den Aufbau einer räumlichen Tastwelt,
  • die Empfindung der Stellung des Körpers im Raum sowie
  • die räumliche Ausdehnung des Körpers in der Umwelt

(„Körperschema“) erreicht.

Die Informationen der gesamten Körperoberfläche des Menschen sowie Muskeln und Gelenken werden u. a. im somatosensorischen Cortex verarbeitet und gespeichert. Der Anteil der einzelnen Körperregionen an der Verschaltung im somatosensorischen Cortex richtet sich danach, wie viele Sinneszellen die jeweilige Körperregion enthält. Diese Größe bestimmt gleichzeitig die Größe des Areals. Dieses Körperschema ist offensichtlich sehr gefestigt und bewirkt, dass auch bei Amputation das fehlende Körperteil noch empfunden wird. Die eigentlich entwurzelten Nervenzellen senden trotzdem noch Signale an die Schmerzregion im Gehirn. Durch diese Täuschung entsteht das „Phantomglied“. Häufig werden von dem Phantomglied Empfindungen wie z. B. an eine Türöffnung gestoßen zu sein oder das fehlende Körperteil bewegt zu haben ausgelöst. Man spricht dann von Phantomempfindung.
So können auch Schmerzempfindungen entstehen, die vom äußeren Reiz losgelöst sind. Häufig tritt auch das Gefühl der Verkrampfung und unnatürlichen Haltung des Phantomglieds auf.

Frau PROF. HERTA FLOR, Neurophysiologin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, überprüfte, welche Veränderungen im Gehirn von Patienten mit Phantomschmerz auftreten und kam zu folgendem Forschungsergebnis: „Die Hirnareale, die Reize aus Hand und Arm verarbeiten, weiten sich nach der Amputation dieses Körperteils aus. Das bedeutet, dass Reize, die dort ankommen, stärker verarbeitet werden. Der Patient erlebt auch unwesentliche Nervenimpulse als schmerzhaft.“
(Apotheken-Umschau 2003)

Chronische Schmerzen führen offensichtlich auch zu Veränderungen der Nervenzellverbindungen im Gehirn, wodurch die Schmerzempfindung noch begünstigt wird. Wahrscheinlich spielen dabei auch Lernprozesse und das Gedächtnis über den Schmerz eine Rolle, sodass schon ein kleiner Reiz den vollen Schmerz auslöst.
Eine Hinterwurzeldurchschneidung (Rhizotomie) kann therapeutisch zur Beseitigung des Phantomschmerzes angewandt werden, da so sensorische Ausfälle gering sind, aber eine Verdünnung der Erregungsleitung zum Gehirn erfolgt.
Umfangreicher sind die therapeutischen Bemühungen, die Erinnerungen an das verlorene Körperteil zu dämpfen und die sensorischen und motorischen Speicherinhalte des Gehirns von anderen, vorhandenen Körperteilen zu erhöhen.

Ein Phantomschmerz setzt nicht nur den (Teil-)Verlust einer Extremität voraus. Er kann auch bei einer Unterbrechung der Nervenverbindungen auftreten, so z. B. nach einem unfallbedingten Ausriss des Armnervengeflechts an der Halswirbelsäule oder einer Querschnittsverletzung, bei sonst unversehrtem Körper. Zur Unterscheidung verwendet man in diesen Fällen den Begriff „Deafferenzierungsschmerz“.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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