Kurzgeschichte

Die Kurzgeschichte ist ein relativ junges Genre der Erzählliteratur, das in der amerikanischen Literatur entstanden ist. Der Begriff ist aus dem amerikanischen „short story“ rückübersetzt. In der Tat haben amerikanische Autoren wie

  • ERNEST HEMINGWAY (1899–1961),
  • WILLIAM FAULKNER (1897–1962),
  • SHERWOOD ANDERSON (1876–1941),
  • THOMAS WOLFE (1900–1938),
  • O. HENRY (1862–1910),
  • BRET HARTE (1836–1902) und
  • JACK LONDON (1876–1916)

das Genre zur Meisterschaft geführt.

Merkmale

Die Kurzgeschichte lässt sich durch typische Merkmale charakterisieren:

  • Die Kurzgeschichte zeichnet sich im Vergleich zu anderen Erzählformen durch ihren geringen Umfang aus, wobei die Festlegung, wann von einer Kurzgeschichte, wann von einer Erzählung gesprochen wird, hinsichtlich der Länge nicht einfach zu treffen ist.
  • Kurzgeschichten haben eine charakteristische Eröffnung. Die Geschichte setzt ohne Einleitung mitten im Geschehen ein und gibt bereits den hohen Grad der Raffung des Erzähltempos und den kargen skizzierenden Ton vor.

„Es hörte auf zu regnen, als Nick in den Weg einbog, der durch den Obstgarten hinaufführte.“
(ERNEST HEMINGWAY, „Drei Tage Sturm“)

„Wanka Shukow, ein neunjähriger Junge, den man vor drei Monaten zu dem Schuster Aljachin in die Lehre gegeben hatte, legte sich in der Weihnachtsnacht nicht schlafen.“
(ANTON TSCHECHOW, 1860–1904, „Wanka“)

  • Der Blickwinkel ist sehr eng gezogen und auf eine Person oder ein Ereignis gerichtet. Entsprechend der personalen Erzählhaltung ist das dialogische Prinzip oft vorherrschend. Häufig wird die Geschichte als Ich-Erzählung dargeboten von einem Erzähler, der als Zeuge das Geschehen schildert.
  • Die Kurzgeschichte zeichnet sich durch einen sehr konzentrierten Erzählverlauf aus. Es wird sehr „schnell“ erzählt, d. h. der Autor hält sich nicht mit langatmigen Beschreibungen, Erörterungen, Figurencharakterisierungen oder psychologischen Darstellungen auf. Im Satzbau sind parataktische Reihungen bevorzugt. Wie der Anfang ist auch das Ende stark pointiert.
  • Die Handlung ist meist einsträngig, die Personage klein gehalten. Die Umstände der Handlung sind knapp, aber präzise skizziert. Die Personen werden nur in wenigen Zügen charakterisiert. Dargestellt ist meist eine alltägliche, charakteristische Situation, vor der in äußerst verknappter Schilderung und ohne Ausschmückungen das Besondere des Geschehens enthüllt wird. Psychologische Tiefe oder epische Breite finden sich nicht in der Kurzgeschichte. Vielmehr ist die Aktivität des Lesers gefordert.
  • Der Stil ist lakonisch, dicht an der Alltagssprache, oftmals mit Dialekt- oder Soziolektelementen versetzt. Anders als in der Novelle wird ein Geschehen nicht in dem Sinne entwickelt, dass es auf einen dramatischen Höhepunkt zusteuert und dann im Geschehen eine Wende eintritt. Das Exemplarische ergibt sich vielmehr gerade aus der Fokussierung auf die situative Schilderung, die Pointierung des Ereignisses und die knappe Zeichnung der Personen. Anders als die Parabel bezieht sich die Kurzgeschichte nicht auf ein Wertesystem, das außerhalb des Erzählten liegt.

Historie

Die Vorläufer der Kurzgeschichte sind bereits in der Novellistik des 19. Jahrhunderts auszumachen. Es ragen als frühe Meister:

  • ANTON TSCHECHOW (1860–1904),
  • GUY DE MAUPASSANT (1850–1893) und
  • EDGAR ALLAN POE (1809–1849, siehe PDF "Edgar Allan Poe – Das ovale Porträt") heraus.

Als Wegbereiter der deutschen Kurzgeschichte werden

  • JOHANN PETER HEBEL (1760–1826) mit seinen Kalendergeschichten („Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes“, 1811) und
  • HEINRICH VON KLEIST (1777–1811, siehe PDF "Heinrich von Kleist – Die Marquise von O…") „Das Bettelweib von Locarno“, 1810) gesehen.

Das Aufleben der Kurzgeschichte ist eng an die Blüte des Zeitschriftenwesens im 18. und 19. Jahrhundert gebunden. Zeitschriften waren das adäquate Medium für die Verbreitung dieser epischen Kleinform.

In der deutschen Erzählliteratur erlebte die Kurzgeschichte einen Höhepunkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Die epische Breite des Romans erschien vor allem jungen Autoren als eine unangemessene Form, den bitteren Erfahrungen der Kriegsjahre Gestalt zu geben. Zudem waren eigentlich erst nach dem Krieg HEMINGWAYs Short Stories der Rezeption in Deutschland zugänglich und konnten ihre Wirkung entfalten.

Die Genres der Deutschen waren von jeher Novelle und Roman. Kurzgeschichten mit ihrer distanzierten Sachlichkeit wurden nie ganz die adäquate Ausdrucksform deutscher Autoren. So sind beispielsweise die Geschichten von WOLFGANG BORCHERT (1921–1947), der als wichtigster Kurzgeschichtenautor der Nachkriegsgeneration gilt („Die Hundeblume“, 1947), stark mit emphatischen, expressionistischen Sprachbildern durchsetzt.


Autoren wie ELISABETH LANGGÄSSER, HEINRICH BÖLL, SIEGFRIED LENZ, WOLF DIETRICH SCHNURRE, MARIE LUISE KASCHNITZ, MARTIN WALSER und WOLFGANG HILDESHEIMER versuchten sich die Kurzgeschichte zu eigen zu machen, in dem sie mehr oder weniger von dem amerikanischen Muster und dessen kargem Realismus abrückten und das Erzählschema in satirischen, parabolischen, legendenhaften epischen Kurztexten übernahmen:

  • Eine der beeindruckendsten Kurzgeschichten des ersten Nachkriegsjahrzehnts ist HEINRICH BÖLLs (1917–1985) „Wanderer kommst du nach Spa…“ (1950) aus dem gleichnamigen Sammelband.
  • Zu den wichtigen Kurzgeschichtenautoren dieser desillusionierten Nachkriegsgeneration gehört WOLF DIETRICH SCHNURRE (1920–1989) mit seinen Bänden „Die Rohrdommel ruft jeden Tag“ (1950), „Eine Rechnung, die nicht aufgeht“ (1958) und „Man sollte dagegen sein“ (1960).
  • Auch WOLFGANG HILDESHEIMER (1916–1991) und ELISABETH LANGGÄSSER (1899–1950) verfassten Kurzgeschichten.

Zu Bedeutung scheint die Kurzgeschichte wieder in den 1990er-Jahren gekommen zu sein. Der junge Dresdener Autor INGO SCHULZE nennt seine „Simple Storys“ zwar einen „Roman aus der ostdeutschen Provinz“ (1998), aber nicht nur der Titel, sondern auch die disparaten, in 29 Kapiteln dargebotenen Geschichten über ostdeutsche Menschenschicksale nach der deutschen Wiedervereinigung, qualifizieren ihn ebenso als Sammlung von Kurzgeschichten. Debütiert hat INGO SCHULZE 1994 mit ebensolchen episodischen Momentaufnahmen in „33 Augenblicke des Glücks“.
Alltagsgeschichten aus Berlin mit einem scharfen Blick für die skurrilen und komischen Details der politischen Veränderungen im deutschen Osten im kleinen Ausschnitt seines Kiezes hat der Russe WLADIMIR KAMINER mit dem Band „Schönhauser Allee“ (2001) vorgelegt.

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