- Lexikon
- Deutsch Abitur
- 4 Literaturgeschichte
- 4.10 Literatur von 1945 bis zur Gegenwart
- 4.10.5 Die Literatur der 1970er- und 1980er-Jahre
- Die literarischen Themen der Siebziger- und Achtzigerjahre
Neue Subjektivität bezeichnet eine Richtung in der deutschen Literatur seit den Siebzigerjahren, die stark subjektive und autobiografische Tendenzen aufweist. Die Neue Subjektivität grenzt sich ab von der stark politisierten Literatur der Zeit um 1968. |
Der Begriff Neue Subjektivität wurde von MARCEL REICH-RANICKI geprägt.
Nach dem politischen Scheitern der Protestbewegung von 1968 sowie dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag ist in der deutschen Literatur eine Hinwendung zum Privaten zu beobachten. Diese Tendenz gilt gleichermaßen für Ost wie West. Rückzug ins Private meint jedoch nicht, dass die Literatur „entpolitisiert““ worden wäre. Vielmehr wird innerhalb der Epik der neuen Subjektivität die eigene Biografie zum Schreibanlass: eine Krankheit, eigene Empfindungen, Probleme im privaten Bereich, auch das Erleben der geschichtlichen Abläufe.
„Schöne Tage“ berichtet aus seiner Kindheit im österreichischen bäuerlichen Milieu. Der sechsjährige Holl wird von allen herumgestoßen, von seinem Vater, dem der uneheliche Sohn eine billige Arbeitskraft ist, von seiner Stiefmutter, von den Knechten und Mägden des Hofes. Niemand kümmert sich um ihn. In der Schule sitzt er auf der „Fenstereselbank“, trotzdem gelingt es ihm einiges zu lernen, bekommt er ein Entlassungszeugnis. „Eigentlich sollte ich ein Verbrecher werden“ resümiert er am Ende des Romans. Und erst in seiner Lehre kommt er zur Ruhe, lebt er nicht mehr unter Bestien, sondern unter Menschen.
WALTER KEMPOWSKIs (1929) „Deutsche Chronik“ unter dem Titel „Tadellöser & Wolf. Ein bürgerlicher Roman“ (1971) verarbeitete (nach seinem Erstling „lm Block“, 1969, in dem KEMPOWSKIs Haft im Stasi-Gefängnis Bautzen thematisiert worden war) seine Kindheit in Nazi-Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Der Roman setzt 1939 ein und schließt 1945 ab. Die Hauptfigur und gleichzeitig der Ich-Erzähler Walter, so alt wie der Autor, ist bei Handlungsbeginn zehn Jahre alt. Das jugendliche Alter des Haupthelden wirkt sich auch auf die Sprache des Buches aus, die zuweilen eher salopp als „hochliterarisch“ ist.
Walter berichtet aus seinem Leben im „Jungvolk“ und in der „Hitler-Jugend“, davon, wie sein Vater 1940 in den Krieg geschickt wird und 1943 auch sein Bruder Robert. Es wird davon erzählt, wie der Freund Ullas, Sven Sörensen, unter Spionageverdacht verhaftet wird und durch Grete Kempowskis Vorstelligwerden bei der Gestapo endlich wieder frei kommt, wie Ulla jedoch nach der Hochzeit die deutsche Staatsbürgerschaft verliert und das Land mit Sven Sörensen verlässt. Die Bombenangriffe auf Rostock, der Stadt, in der dieser Roman spielt, werden ebenso wahrgenommen und reflektiert, wie die Äußerungen der Familienmitglieder zu Krieg und Hitler-Faschismus. Walter wird als Flakhelfer, später zur kasernierten Hitlerjugend eingezogen. Ihm gelingt es kurz vor der Kapitulation bis nach Rostock zu gelangen. Dort wartet man auf die Engländer.
Der Titel des Romans geht auf einen Ausspruch von Walters Vater zurück, der mit Tadellöser & Wolf etwas Unübertreffliches meinte, war er doch als Raucher Stammkunde der Tabakwarenhandlung Loeser & Wolff, während er zu einem unangenehmen Vorkommnis Miesnitzdörfer & Jenssen zu sagen pflegte.
Die Romanstruktur ähnelt zuweilen einer Collage, wenn Erzählblöcke wie aneinandergereiht erscheinen oder Reklamesprüche, Zeitungsausschnitte oder Liedtexte einzelne Teile des Romans aneinander binden. Das Verbindende der Handlung ist der Blick des Jungen Walter auf das Geschehen.
HEINRICH BÖLL beschäftigte sich in den Siebzigerjahren mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Sein Roman „Gruppenbild mit Dame“ erzählt die Geschichte einer Frau. Leni Gruyten, die Tochter des reichen Bauunternehmers, liebt den russischen Gefangenen Boris. Um ihn zu retten, besorgt sie ihm einen deutschen Pass. Nach dem Krieg erfährt sie, dass er in einem Lager der Amerikaner umgekommen ist. Mitten in den Wirren des Krieges hatte sie ein Kind von ihm empfangen. In den Jahren des Wiederaufbaus und des Wohlstandes lebt Leni bescheiden und zurückgezogen als Hilfsgärtnerin. Man hat sie um ihre Habe und um ihre Liebe betrogen, aber das Wichtigste bleibt ihr: Ein Leben, ihren Gefühlen gehorchend. Der Roman ist von der Kritik sehr gelobt worden. Man feierte die Fülle der Motive, Stoffe, Schauplätze usw. Man bewunderte die überschäumenden Einfälle.
In seinem Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ beschäftigt sich BÖLL mit der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der Mittsiebzigerjahre. In einer Zeit der Radikalenerlasse und Berufsverbote liebt Katharina einen Terroristen. Das „Terroristenliebchen“ ist von nun an stigmatisiert. Als sie Ludwig Götten zur Flucht verhilft, beginnt der eigentliche Terror gegen die „Mörderbraut“, der von den Medien gemacht wird. Schließlich erschießt Katharina den für die Pressekampagne verantwortlichen Journalisten. Der Untertitel „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ wird anhand eines „einfachen Schicksals“ beispielhaft vorgeführt.
„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wurde 1975 von VOLKER SCHLÖNDORFF verfilmt (Co-Regie: MARGARETHE VON TROTTA)
Die Protokoll-Literatur nimmt ihre Stoffe viel unmittelbarer als die erzählenden Texte der Neuen Subjektivität aus der Wirklichkeit. ERIKA RUNGEs „Frauen. Versuche zur Emanzipation“ (1970), SARAH KIRSCHs (geb. 1935) „Die Panterfrau. Fünf Frauen in der DDR“ (1973), MAXIE WANDERs (1933–1977) „Guten Morgen,du Schöne“ (1978) und KARIN STRUCKs „Klassenliebe“ (1973) sind Beispiele dafür. Sie basieren auf Tonbandinterviews und versuchen, das „wirkliche Leben“ in die Literatur einzubringen. Literarisch knüpfen sie an die Neue Sachlichkeit der Zwanzigerjahre an.
Die Lyrik der Neuen Innerlichkeit berichtet beiläufig Privates. Persönliche Erfahrungen werden in den größeren gesellschaftlichen Zusammenhang gestellt. Diese Lyrik ist gekennzeichnet durch ihre Einfachheit, Direktheit und Authentizität. Die sogenannte Alltagslyrik war auch eine Abgrenzung zur hermetischen Lyrik in den Fünfzigerjahren in der Bundesrepublik.
Politisch beginnt das 70er-Jahrzehnt in der DDR 1971 mit der Ablösung von WALTER ULBRICHT durch ERICH HONECKER als Erster Sekretär der SED (Generalsekretär). Die anfänglichen Hoffnungen auf eine Liberalisierung der Gesellschaft erfüllten sich jedoch nicht. Zwar sollte nach dem VIII. Parteitag der SED und dem 6. ZK-Plenum eine Ära folgen, in welcher es „keine Tabus auf dem Gebiet von Literatur und Kunst“ (HONECKER) geben sollte. Diese „tabufreie Zeit“ währte nicht lange. Jedoch erschienen in dieser Zeit einige der wichtigsten Werke der DDR-Literatur, u. a. CHRISTA WOLFs „Nachdenken über Christa T.“ und „Kindheitsmuster“, VOLKER BRAUNs „Das ungezwungene Leben Kasts“ (1971), BRIGITTE REIMANNs „Franziska Linkerhand“ (1974, in einer gekürzten Fassung).
Andere wichtige Werke durften jedoch erst viel später (VOLKER BRAUNs „Unvollendete Geschichte“, entstanden 1975, erschienen 1988) oder nie (STEFAN HEYMs „Collin“, 1979, ROLF SCHNEIDERs „November“, 1979) in der DDR erscheinen.
ULRICH PLENZDORFs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (entstanden 1968, Prosafassung 1972, dramatisierte Fassung 1973) bringt auf neue Weise den Helden als Arbeiter auf die Bühne. Es ist die Geschichte eines auf Individualismus und respektlosen Umgang mit den Klassikern beharrenden jugendlichen Tüftlers.
Inhalt sangabe:
Der 17-jährige Held Edgar Wibeau schmeißt seine Lehre, nistet sich in einer Berliner Gartenlaube ein. Er findet auf dem Klo einer Laube GOETHEs „Leiden des jungen Werther“ und versucht, in Tonbandbriefen an seinen Freund Willi seine Erlebnisse in Goethes Manier zu schildern. Edgar leidet an den Anpssungszwängen der Gesellschaft. Er protestiert gegen die Welt der Erwachsenen, insbesondere gegen seinen früheren Ausbilder, dessen autoritärer Stil ihn in seiner Lebensqualität einschränkt. Er wendet sich gegen eine Vorbild-Erziehung, die die freie Entfaltung der Persönlichkeit (ein erklärtes Ziel der Pädagogik in der DDR) einschränkt. Edgar stirbt, als er versucht, ein neues Gerät für seine Malerbrigade auszuprobieren, an einem Stromstoß. Seine letzten Botschaften erreichen Willi aus dem Jenseits.
Der Leser soll die Geschichte zuende denken: War Edgars Tod ein Unfall oder ein Selbstmord, ähnlich dem des goetheschen Vorbildes? PLENZDORF führt in seinem Buch einen Helden vor, der lebt um des Lebens willen, ähnlich der Charaktere BÜCHNERs. Hier wird die Unbedingtheit des Lebens beschworen jenseits aller Richtlinien, Bevormundungen durch Staat und Partei und der verknöcherten Pädagogik, die MARGOT HONECKER als Frau des ersten Mannes im Staate DDR mit harter Hand führte. Die Sprache orientierte sich an der Jugendsprache , ähnlich wie in J. D. SALINGERs „The catcher in the Rye“ (1951, dt. „Der Fänger im Roggen“).
In den Achtzigerjahren mehrten sich die Stimmen, die sich gegen Umweltzerstörung und Wettrüsten erhoben. GRASS' Roman „Die Rättin“ ist so eine Endzeitvision. Auch CHRISTA WOLFs „Störfall“ thematisiert die nukleare Katastrophe angesichts der Zerstörung eines Kernreaktors im ukrainischen Tschernobyl im Jahre 1986. MONIKA MARONs Roman „Flugasche“ beschäftigt sich mit der Umweltzerstörung in der Region um Bitterfeld. Auch VOLKER BRAUN nimmt zu den Umweltzerstörungen in „Bodenloser Satz“ Stellung.
Innerhalb der Lyrik wurde und wird das Thema ausführlich behandelt. GÜNTER HERBURGER beschwört den „Der Gesang der Wale“, HANS MAGNUS ENZENSBERGER denkt über „das ende der eulen“ nach. SARAH KIRSCH nennt ihr trauriges Fazit „Bäume“:
Früher sollen sie
Wälder gebildet haben und Vögel
Auch Libellen genannt kleine
Huhnähnliche Wesen die zu
Singen vermochten schauten herab.
(Kirsch, Sarah: Landwege. Ebenhausen b. Müpnchen: Langewiesche-Brandt, 1985, S. 135)
In seinem Gedicht „Grünanlage“ bringt ARNFRIED ASTEL (geb. 1933) das Verhältnis der menschlichen Gesellschaft der Umwelt gegenüber lakonisch auf den Punkt:
Die Überlebenden
planieren die Erde.
Sie sorgen
für eine schönere
Vergangenheit.
(Astel, Arnfried: Notstand. 100 Gedichte. Wuppertal: Peter Hamm Verlag, 1968)
HEINER MÜLLER wandte sich in „Wolokolamsker Chaussee“ (1985–1989) dem brechtschen Lehrstück zu. Die Panzer werden bei ihm zu Geburtshelfern der DDR, später zu ihren Wächtern. Die vier Teiles des Stückes thematisieren:
Sie sind Ausdrucksversuche einer von Müller konstatierten Stagnation von Raum und Zeit und symbolisieren die vertanen Chancen einer Entwicklung in Richtung eines demokratischen Sozialismus statt einer Rückkehr in die statische Enge der DDR.
CHRISTOPH HEINs „Der fremde Freund“ (1982, in der Bundesrepublik u.d.T. „Drachenblut“) erzählt die Geschichte der erfolgreichen Ärztin Claudia, die sich eingerichtet hat im Sozialismus. Sie hat keine Probleme, hat Arbeit, geht einem Hobby nach, lebt in einer Single-Wohnung und fährt ein Auto. Sie ist hilfsbereit und genießt bei ihren Patienten einen guten Ruf. Für ein Jahr tritt ihr „fremder Freund“ Henry in ihr Leben und mit ihm das Unerwartete, die Spontaneität. Er droht ihr Leben zu verändern, denn er stellt sich bewusst gegen die Konventionen der Gesellschaft, fährt gern schnelle Autos. Als er stirbt (er wird erschlagen), erobert die Eintönigkeit ihr Terrain im Leben der Frau zurück: „Meine undurchlässige Haut ist eine feste Burg“, äußert sie in Anlehnung an LUTHERs „Ein feste Burg ist unser Gott“. Die letzten Sätze der Novelle lassen die Vermutung aufkommen, die (Anti-)Heldin sei zufrieden mit ihrem Leben: „Alles was ich erreichen konnte, habe ich erreicht. Ich wüßte nichts, was mir fehlt. Ich habe es geschafft. Mir geht es gut.“
UWE JOHNSONs Werk ist von den modernen Erzählern JAMES JOYCE und WILLIAM FAULKNER beeinflusst. Sein vierbändiges Hauptwerk „Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl“ (1970–1983) umfasst nahezu 2 000 Seiten. Es setzt die Geschichte der Gesine Cresspahl aus „Mutmaßungen über Jakob“ (1959) fort.
„ Die Ästhetik des Widerstands“ (3 Bde., 1975–1981) von PETER WEISS versucht eine „erzählerische Synthese der politischen und ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts“ (Klappentext). Er begleitet seinen Erzähler von dessen Weggang 1937 aus Berlin in die Tschechoslowakei, nach Spanien (wo er am Bürgerkrieg teilnimmt) und Paris (wo er das Scheitern einer Volksfront zwischen KPD und SPD erlebt) und schließlich nach Schweden. Hier wird er ansässig (wie eben der Autor selbst). Der Leser erfährt von den Ränkespielen unter den Kommunisten in Moskau, von ihren Enttäuschungen, den Verrätern und den Verratenen. Das Werk ist als Roman angelegt, jedoch treten durchaus reale Figuren der Zeitgeschichte auf: WEISS reflektiert u. a. über BRECHT, LENIN, THÄLMANN, EBERLEIN, MÜNZENBERG und DAHLEM, über das Verhältnis von Sozialdemokratie und Kommunisten, über den Reichstagsbrandprozess und über den Weltkrieg. So entstand eine Art „Wunschbiografie“ und zugleich eine Geschichte der Arbeiterbewegung von 1918 bis 1945.
HEINER MÜLLERs Stücke der Siebziger- und Achtzigerjahre sind sehr stark diskutiert worden. In der DDR wurden sie z. T. gar nicht erst gespielt. Seine Dramen
gehören zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts. Mithilfe der Montagetechnik lässt MÜLLER in „Die Hamletmaschine“ die „ ... Welt ihre Runden drehn im Gleichschritt der Verwesung.“ Den Autor interessiert, wie Faschismus entstehen und „überleben“ konnte, wie ewige Gewalt – revolutionäre Gewalt, Staatsterror – „funktioniert“ und den Menschen verändert. Die Frage: Welchen Preis bezahlt der Einzelne für eine bessere Zukunft aller Menschen? beantwortet MÜLLER resigniert:
„Der Humanismus kommt nur noch als Terrorismus vor. Der Molotowcocktail ist das letzte bürgerliche Bildungserlebnis.“
(Heiner Müller: Brief an Reiner Steinweg, 4. 1. 1977.)
Sein letztes Stück „Germania 3 – Gespenster am toten Mann“ wurde im Mai 1996 unter der Regie von LEANDER HAUSSMANN am Bochumer Schauspielhaus uraufgeführt, fünf Monate nach dem Tod des Autors.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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