Dominanz des Romans

Natur- und Geisteswissenschaften dieser Zeit waren: Physik (besonders die Quanten-Physik ALBERT EINSTEINS), Lebensphilosophie, philosophische Anthropologie, Theorien der Verhaltenspsychologie und Verhaltenslehren (HELMUTH PLESSNER, 1892–1985), Psychoanalyse (SIEGMUND FREUD, CARL GUSTAV JUNG, 1875–1961), Soziologie (MAX WEBER, 1864 –1920), Medizin, Reform-Pädagogik (MARIA MONTESSORI, 1870–1952, RUDOLF STEINER, 1861–1925)

Gründe für die Dominanz des Romans

  • Der Roman profitierte von der „episierenden Ausstrahlung des Films“. Der Roman stand dem Film nahe und damit dem sich damals massenhaft entfaltenden Medium. Diese Nähe versprach hohe Auflagen, wobei das Epische in der Dramatik, wie die Entwicklung BRECHTs zeigt (s. Episches Theater), für diese Gattung auch befruchtend wirkte.
  • Die zweite, wirkungsvolle Zeitkraft, von der die Neigung zu den Erzählgattungen gefördert wird, ist die Berichterstattung in der Presse. Nicht ohne Bedacht wurde deshalb zur Kennzeichnung der sachlichen Romane mehrmals der Begriff „Bericht“ verwendet. Die Presse hatte eine neue Ebene und ein neues Niveau erreicht. Sie gewann literarischen Rang, sodass Sammlungen von Pressetexten in Buchform erschienen. Von der Publizistik gingen stilbildende Anregungen auf den neusachlichen Roman aus. Viele Autoren haben sich auch auf beiden Gebieten betätigt wie bspw. LUDWIG RENN, ERICH MARIA REMARQUE (1898–1970) und ERICH KÄSTNER.

Auch wenn der Roman neben der Reportage die literarische Form der Neuen Sachlichkeit war, hieß er doch häufig „Bericht“; nicht selten sprachen die Autoren nicht davon, dass etwas „erzählt“, sondern dass etwas „berichtet“ wird.

ERIK REGER: Union der festen Hand. Roman einer Entwicklung. Vorwort. Berlin 1931:

1. Man lasse sich nicht dadurch täuschen, daß dieses Buch auf dem Titelblatt als Roman bezeichnet wird.
2. Man beachte, dass in diesem Buche nicht die Wirklichkeit von Personen oder Begebenheiten wiedergegeben, sondern die Wirklichkeit einer Sache oder eines geistigen Zustandes dargestellt wird.
3. Wenn man in den Reden einzelner Personen Stellen findet, die besonders unwahrscheinlich klingen, so hat man es mit tatsächlichen Äußerungen führender Geister der Nation zu tun.

(Reger, Erik: Union der festen Hand. Roman einer Entwicklung. Vorwort. Berlin: Rowohlt Verlag, 1931)

Zeitroman – Gegenwartsroman

Im Zeitroman – einem im 19. Jahrhundert entwickelten Romantypus – wird ein möglichst umfassendes und anschauliches Bild von der jeweiligen Gegenwart entworfen, das auch Zeitkritik und utopische Entwürfe einschließen kann.

Zu den Autoren der Neuen Sachlichkeit gehörten zeitweise IRMGARD KEUN (1905–1982) mit dem Roman „Gilgi – eine von uns“ (1932), HANS FALLADA (1893–1947) mit dem auch verfilmten Roman „Kleiner Mann, was nun?“ (1932), LION FEUCHTWANGER (1884–1958), ERICH KÄSTNER (1899–1974) mit „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten “(1931), SIEGFRIED KRACAUER (1889–1966), VICKY BAUM (1888–1960) u.a.

Erich Kästner

ERICH KÄSTNER war ein erfolgreicher Journalist, Rezensent, Kabarett- und Drehbuchautor. Weltbekannt wurde er durch seine Kinderbücher. Bereits mit seinem Debüt „Emil und die Detektive“ (1929) hatte er großen Erfolg.

Sein Roman für Erwachsene „Fabian“ ist lapidar und distanziert erzählt:

„Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun.“, beschreibt er sich selbst. Das Leben im Berlin der Zwanzigerjahre ist bestimmt durch Sex, Lügen und Verblendung. Mit zeitkritischem Auge begleitet der Leser die Hauptfigur durch Bars und Bordelle, in denen er nicht Liebe, sondern Verlogenheit findet, die Redaktionen von Zeitungen, in denen Nachrichten gefälscht werden („Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie.“), Fabian weiß, „daß sich Vernunft und Macht (niemals) ... heiraten werden“, hält angesichts des aufkommenden Faschismus eine Einheitsfront zwischen linksbürgerlichen und kommunistischen Gruppierungen für nicht errichtbar und auch sein eigenes Scheitern beginnt typisch: mit seiner Arbeitslosigkeit. Der moralisch integre Fabian stürzt in eine Sinnkrise, als sich seine Freundin um eines Engagements willen prostituiert und sein Freund Selbstmord wegen einer Lappalie begeht. Sein Versuch, einen Ertrinkenden retten zu wollen, scheitert, denn „Er konnte leider nicht schwimmen“.

In den Kinderbüchern wie auch seinen Romanen für Erwachsene porträtierte KÄSTNER die eigene Zeit kritisch in einer leicht verständlichen und unterhaltsamen, sarkastisch bis komischen Sprache. Er gehört damit zu den Autoren, die – auf sehr unterschiedliche Weise – das Genre des Zeitromans bereicherten.

Hans Fallada

Wie unterschiedlich die Techniken sein können, die aus der Intention entstanden, der Macht und Faszination des Konkreten zu folgen, zeigt das Werk HANS FALLADAs (d. i. RUDOLF DITZEN, 1893–1947).
Weltbekannt wurde er mit seinem vierten Roman „Kleiner Mann – was nun?“ (1932). Kritiker nannten den Roman ein „Gegenbuch“ (PRÜMM) zu SIEGFRIED KRACAUERs analytisch-essayistischer Reportage „Die Angestellten“ (1930).

Erzählt wird die Geschichte des Verkäufers und kleinen Angestellten Pinneberg und seiner Frau Lämmchen. Am Ende wird Pinneberg entlassen und weiß nicht mehr weiter. Seine Entlassung ist für ihn eine Katastrophe, weil sie den sozialen Abstieg in die Einsamkeit der großen Städte bedeutet. Dagegen ist auch das kleine, private Glück machtlos.

Während BRECHT die Objekte der Welt durch provozierende Distanz vorführt, perfektioniert FALLADA einen Stil der völligen Distanzlosigkeit, mit der der Erzähler jeder kleinsten Bewegung und Regung seiner Figuren folgt. Der Romanautor ist mit seinen Figuren nahezu identisch, im Einverständnis mit ihnen. Dieser Roman sei in dieser Technik nicht zu überbieten (PRÜMM). Jedes Detail hat sein Recht und seine Bedeutung im Alltag des Angestellten, der sich in den Dingen und Verhaltensformen vom proletarischen Milieu bewusst abgrenzen möchte und zugleich im Herrschaftssystem eines Warenhauses, seinem Arbeitsort, bedingungslos eingebunden ist. FALLADA verbindet diesen nüchternen Blick mit der Tradition guter Unterhaltungsliteratur, in dem das Gefühl, das Streben nach dem Guten und das Spiel mit dem Wunsch, alles möge ein gutes Ende nehmen, seine Berechtigung hat.
FALLADAs Roman zeigt, wie das Alltägliche in seinen konkreten Gegenständen, Handlungen, Gesten und Symbolen faszinieren kann. Seine Darstellungstechnik korrespondiert mit den Techniken der Kameraführung im Film sowie der zeitgenössischen Fotografie.

Alfred Döblin

Einen anderen Weg ging der Schriftsteller, Arzt und Wissenschaftler ALFRED DÖBLIN (1878–1957). Er orientierte sich am Wissenschaftsstil.
Er war ein aktiver Vermittler des italienischen Futurismus. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war er einer der entschiedensten Verfechter der Sachlichkeit. Von ihm kamen wichtige Anregungen für die Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. WALTER BENJAMIN (1892–1940) nannte ihn 1935 in einem Essay den wichtigsten Vertreter dieser Richtung. Zu DÖBLINs Verdiensten gehört, die Sachlichkeits-Debatten der Architekten um 1900 in die literarische Diskussion übertragen und vermittelt zu haben.

1912 beschrieb er in seinem „Berliner Programm“ sein Sachlichkeitskonzept mit den Begriffen der

  • „entseelten Realität“,
  • „Tatsachenphantasie“ und
  • „Romanpsychologie.

Sein von Sachlichkeit gesättigter „steinerner Stil“ steht für die Entpsychologisierung der Literatur und Konzentration auf die empirische Realität. Er postulierte die Neutralität des Autors. Dieser dürfe seine Figuren nicht dafür benutzen, um seine „Ansichten zu besten (sic) zu geben“ und nur der Leser solle „urteilen, nicht der Autor“ (DÖBLIN: Über Roman und Prosa, 1917). 1920 in seinem „Bekenntnis zum Naturalismus“ betonte er, der Autor solle „nichts von außen heranbringen an die Dinge“, er solle dem „Ding nichts ankleben“, wohl wissend, dass ein restlos entsubjektiviertes Schreiben nicht möglich sei.

Der Roman „Berlin Alexanderplatz“ „berichtet“ die Geschichte des ehemaligen Zement- und Transportarbeiters Franz Biberkopf, seiner Odyssee durch das Berlin von 1928.

„Er ist aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorgänge saß, entlassen und steht nun wieder in Berlin und will anständig sein.
(Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Vorspruch)

DÖBLIN greift mit der „ ... Geschichte vom Franz Biberkopf“ (Untertitel) exemplarisch eine Figur aus der Menschenmasse der Großstadt heraus, führt die Hauptfigur als typisches Beispiel seiner Zeit vor, um sie dann in die Masse wieder einzugliedern. Die Großstadt in ihrer Dynamik und Ruhelosigkeit wird samt ihren Bewohnern zu einem einzigen Korpus, in dem Franz Biberkopfs Leben bereits im Erleben Vergangenheit ist.

Die Widerspiegelung des Krieges in neusachlicher Literatur

Neben der Großstadt im Zeichen der politischen Radikalisierung und Polarisierung war der Erste Weltkrieg wichtigster Stoff der literarischen Neuen Sachlichkeit (ERICH MARIA REMARQUE „Im Westen nichts Neues“, 1928). Mit zwei Ausnahmen, „Ginster“ (1928) von SIEGFRIED KRACAUER und „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927) von ARNOLD ZWEIG (1887-1968) sind es Texte von Augenzeugen.

Im Westen nichts Neues“ ist das Buch einer Generation, die „vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“ (REMARQUE). Es thematisiert die Erlebnisse des jungen Soldaten Paul Bäumer und seiner einstigen Klassenkameraden während des Ersten Weltkrieges. An die Westfront kommandiert, erlebt der Ich-Erzähler Paul die Grausamkeiten des Krieges, und ist unfähig, sie bei einem Heimaturlaub zu schildern. Der Tod der halben Kompanie wird zu einem Glücksfall, weil die Übriggebliebenen die doppelte Essens- und Tabakration erhalten. Den Soldaten ist das Sterben Alltag, vertraut, wenn sich im Körper der Tod ausbreitet und selbst die „Stimme klingt wie Asche“. An die Front zurückgekehrt, muss er mit ansehen, wie seine Klassenkameraden einer nach dem anderen durch Gas- und Granatenangriffe sterben, bis auch er als Letzter tödlich getroffen wird,

„an einem Tag, der so ruhig und so still war, daß der Heeresbericht sich auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“

„Im Westen nichts Neues“ wurde 1928 als Vorabdruck in der „Vossischen Zeitung“ als „authentischer“, und „wahrer“ dokumentarischer Bericht eines Dabeigewesenen veröffentlicht. Der Erfolg war grandios: Bis zum Juni 1930 wurden 1 Million gebundener Exemplare ausgeliefert.

Ernst Jünger

Auch ERNST JÜNGER (1895-1996) beschäftigte sich in seinem Weltkriegstagebuch „In Stahlgewittern“ (1920) mit authentischen Kriegserlebnissen. Er ging als Jugendlicher in die Fremdenlegion, im Ersten Weltkrieg war er ein mit Vorliebe für gefährliche Situationen hochdekorierter Reichswehroffizier an der Westfront. Im Zweiten Weltkrieg war er Offizier in Frankreich. Seine Beobachtungen als Besatzungsoffizier von Paris hielt er in einem Tagebuch fest.
Er gehörte zu den militanten Konservativen. Für seine Zeitgenossen war er ein schillernder, eigenwilliger Autor und politischer Aktivist zugleich. Er hatte ein starkes naturwissenschaftliches Interesse und war Anhänger des Technikkults.
Mit „Der Tod als Partner, als Zeuge der Wirklichkeit“ oder „Die Ästhetik des Schreckens“ (K.-H. BOHRER) beschrieben Kritiker die Eigenart seiner Prosa. Die nicht zu leugnende und faszinierende Seite des Abenteuers, der Gefahr und des Todes führte bei JÜNGER zu einer Kultivierung des Mannes, der diesen Gefahren nicht ausweicht, zur Faszination für den starken Einzelkämpfers, der aus jedem Kampf gestärkt hervorgeht.

Dies zeigt vor allem sein erstes Weltkriegstagebuch „In Stahlgewittern“ (1920). Ein exakter Stil und Strenge im Detail zeichnen seine Texte aus, in denen er auch versuchte die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zu überschreiten (vgl. französischer Surrealimus). Auch hier ist die Aufladung von selbst scheinbar nebensächlichen Details ein Charakteristikum: Hier ist es der Tod, der jede Situation zu einer besonderen macht.
Umstritten war und ist besonders die Frage, ob seine Darstellungen den Wert eines Menschenlebens missachteten und den Krieg verherrlichten.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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