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- Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater
Die drei Geschichten sind, jede für sich genommen, bereits absurd. In der ersten will der Tänzer eines Stadttheaters beweisen, dass ein Tänzer sehr viel von einer Marionette lernen kann. Diese Geschichte ist von vielen Interpretatoren völlig unterschiedlich bewertet worden. Und auch an dieser Stelle kann nur ein Versuch einer Interpretation unternommen werden. In der zweiten Geschichte beobachtet ein Mann, wie ein Jüngling sich beim Blick in den Spiegel seiner Schönheit bewusst wird. Die Freude darüber gelingt ihm nur ein einziges Mal. In der dritten Geschichte soll ein gut ausgebildeter Fechter gegen einen dressierten Bären antreten und verliert.
Will man alle drei Geschichten unter einer Klammer vereinen, könnte man dies unter der Überschrift des Erkenntnisgewinns bzw. im Gegensatz von „Fremdbestimmtsein“ und „Selbstbestimmtsein“. Einen Hinweis darauf gibt der Schluss des Essays:
„so findet sich auch, wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie wieder ein; so, daß sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d. h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.“
(vgl. PDF "Heinrich von Kleist - Über das Marionettentheater")
In diesem Sinne versteht sich die erste Geschichte als Unterordnung des Ichs unter eine geistlose Maschinerie. Weil der Tänzer seinen eigenen Willen ablegen müsste, um solch eine „Grazie“ zu erreichen wie die Marionette.
Die zweite Geschichte beleuchtet das Thema auf völlig andere Art. Hier geht es um die verlorene Unschuld des Menschen, um Erwartungshaltungen, um den Druck von außen. Der Mensch, der sich beobachtet fühlt, verliert seine Anmut, wird den Erwartungshaltungen nicht mehr gerecht. Das „Nichtwissen vom Selbst“ (ULRIKE BERGERMANN) macht Schönheit und Anmut, demzufolge zerstört das Wissen vom Selbst beide.
Seltsam in diesem Zusammenhang mag die dritte Geschichte erscheinen: Der Mensch kämpft gegen das (dressierte) Tier und verliert den Kampf. Dem Tier, in diesem Fall dem Bären, wurden seine Bewegungen andressiert, er handelt fremdbestimmt. Der Mensch scheitert an seinem freien Willen. Das Absurde bewegt sich zwischen den beiden Polen Gliedermann und Gott.
Als Kritik gegen die Polizeizensur jener Zeit sieht ELKE KRAFKA diesen Text.
AUGUST WILHELM IFFLAND, so ihre Theorie, habe die Konkurrenz des Marionettentheaters gefürchtet und Ruhe im Zuschauerraum sei nur durch die Polizei durchzusetzen gewesen. Marionettentheater fand auf öffentlichen Plätzen statt und die Polizei sei stets dabei gewesen, weil sie subversive Tätigkeiten fürchtete. So stehe das Marionettentheater als „Gegenbild zum repräsentativen Theater der Mächtigen, zum Nationaltheater“ (ELKE KRAFKA). Diese Interpretation scheint jedoch sehr weit hergeholt. Das Subversive des KLEISTschen Textes hingegen scheint auf der Hand zu liegen: Der Mensch scheitert an seinem freien Willen, weil er durch die Obrigkeit und durch die Polizeigewalt fremdgesteuert wird. In diese Interpretationsvariante passt auch der merkwürdige Schluss der Bärengeschichte:
„Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parierte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) ging er gar nicht einmal ein: Aug in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.“
(ebenda)
Der Bär steht hier für die alles kontrollierende Obrigkeit, für den Staat, das Spitzelsystem, das über jede Regung des „Volkskörpers“ unterrichtet ist. Eine gespenstische Vision, die aber bereits zu KLEISTs Zeiten Realität war.
Als
„Abhängigkeit des Menschen von höheren Mächten, von Gott, von Trieben und Leidenschaften (bei Platon stehen die Sehnen und Schnüre der Marionette für die Triebkräfte der Leidenschaften)“
sieht es ULRIKE BERGERMANN.
Das Gegensatzpaar künstlich-natürlich, bzw. Maschine-Mensch beantwortet die Frage nach Schönheit und Anmut in Richtung künstlich bzw. Maschine. In diesem Sinne ist die Sehnsucht nach dem Paradies als dem Land der Unschuld in den Text eingeschrieben. Denn mit der Erkenntnis kam die Vertreibung des Menschen daraus. Mit dieser Lesart erführe der KLEISTsche Text auch eine religiöse Dimension: Die Rückkehr zu Gott. Das kommt in den beiden Polen Gliedermann und Gott zum Ausdruck: Der Mensch wird nie zum unendlichen (göttlichen) Bewusstsein gelangen. Sein Streben danach ist Eitelkeit. KLEISTs Lösung des Konflikts lautet:
„Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut, müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen? Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“
(ebenda)
Eine sexuelle Dimension ergibt sich aus allen drei Geschichten: Der sich seines Geschlechts bewusste Tänzer scheitert an der geschlechtslosen Maschine; der Jüngling, sich seines Geschlechtes bewusst werdend, verliert seine Unschuld; der männliche Fechter verliert gegen das Neutrum, den Bären.
Gelesen werden kann der poetologische Text auch als Kritik gegenüber den um 1800 üblichen Theaterpraktiken: Das Marionettentheater als Gegenpol zum Nationaltheater beleuchtet die „Marionette als Sinnbild für Theaterkonzeptionen“ (RÜDIGER BUBNER). Ein naiver, unschuldiger Schauspieler könnte demnach seine Rolle besser spielen, als jener, der aufgrund seines Wissenshintergrundes versucht, etwas in die Rolle hineinzulegen, was nicht in ihr steckt, was ihr nicht gerecht wird.
Ebenso ergeht es dem Dichter: Der planvoll-„klassisch“ gestaltete Text wirkt weniger anziehend als der scheinbar naive, „romantisch“-fragmentarische. Geschichten verlieren ihre „Unschuld“, ihre Spontaneität, ihre Lebendigkeit, je stärker sie vom Autor auf ein bestimmtes Ergebnis hin konstruiert werden.
Ähnlich groteske Geschichten schrieb KLEIST mit dem Drama „Penthesilea“ (siehe PDF "Heinrich von Kleist - Penthesilea"), mit dem Einakter „Der zerbrochene Krug“ oder mit der Novelle „Das Erdbeben in Chili“.
„Penthesilea“ spielt während des Trojanerkrieges. Die Amazonenkönigin ist in heißer Liebe zu Achilles entbrannt. Dieser besiegt sie jedoch im Kampf. Penthesilea, die ohnmächtig zusammengebrochen war, glaubt sich als Siegerin, doch Achill gesteht ihr, dass sie seine Gefangene ist. Um sich in einem zweiten Kampf besiegen zu lassen, betritt er unbewaffnet das Schlachtfeld. Penthesilea erkennt dies zu spät: Ihr Pfeil durchbohrt Achills Körper. Anschließend tötet sie sich selbst. Auch hier bestimmt der Gegensatz von „Fremdbestimmtsein“ und „Selbstbestimmtsein“ die Handlung. Beide Helden wollen ihr Gesicht wahren, wobei es Achill ist, der sich der Rolle (des „Selbstbestimmtseins“) der Königin beugt und das „Fremdbestimmtsein“ annimmt. Auch dies wird ihm zum Verhängnis. Das traditionelle Rollenverhältnis, falsche Emotionen, wie die Hassliebe Penthesileas, lassen eine Liebe scheitern.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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