Hemingway als Vorbild für die deutschen Kurzgeschichte

Traditionslinie der deutschen Kurzgeschichte

Es ist versucht worden, eine Traditionslinie der deutschen Kurzgeschichte aus

  • den Novellen HEINRICH VON KLEISTs,
  • den Kalendergeschichten JOHANN PETER HEBELs und
  • den Erzählungen MARIE VON EBNER ESCHENBACHs

abzuleiten.

Vorbilder

Die Genrebezeichnung Kurzgeschichte im heutigen Verständnis stammt jedoch aus der angloamerikanischen Literatur und ist eine Lehnübersetzung von „short story“. Das moderne Genre der Kurzgeschichte, so wie es insbesondere unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gepflegt wurde, hat seine Vorbilder maßgeblich in der anglo-amerikanischen Literatur.
Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden die short stories von EDGAR ALLAN POE und BRET HART (seine sogenannten kalifornischen „local color stories“) den deutschen Lesern in Übersetzungen bekannt. Sie wurden, wie auch die Geschichten des Franzosen GUY DE MAUPASSANT und des Russen ANTON TSCHECHOW, über das Feuilleton etlicher Zeitschriften und in Sammelbänden verbreitet und wirkten stilbildend auf die deutsche Kurzprosa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.

Kahlschlagliteratur und short story

Noch bis Anfang der Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts waren die Werke maßgeblicher amerikanischer Kurzgeschichtenautoren wie

  • O. HENRY,
  • SHERWOOD ANDERSON,
  • WILLIAM FAULKNER,
  • THOMAS WOLFE und
  • ERNEST HEMINGWAY

den deutschen Lesern zugänglich. 1945, nach dem Krieg und im Zuge des Umerziehungsprogramms der westlichen Alliierten, wurden ihre Texte in Anthologien wieder aufgelegt:

  • „Neu-Amerika“, 1947,
  • „Junges Amerika“, 1948.

und stießen vor allem bei der jungen, aus dem Krieg heimgekehrten Generation auf Resonanz. Ja, etliche Autoren dieser jungen Kriegsgeneration (unter ihnen HEINRICH BÖLL , WOLFGANG BORCHERT, SIEGFRIED LENZ und WOLFDIETRICH SCHNURRE) bildeten sich gewissermaßen an der Form der Kurzgeschichte zum Dichter aus und führten das Genre von den späten Vierziger- bis zu den frühen Fünfzigerjahren zu einer Blüte.

Zu den bekannten Kurzgeschichtensammlungen jener Jahre gehören WOLFGANG BORCHERTs „An diesem Dienstag“ (1947), ELISABETH LANGGÄSSERs „Torso“ (1949); ERNST SCHNABELs „Sie sehen den Marmor nicht“ (1950), HEINRICH BÖLLs „Wanderer, kommst du nach Spa…“ (1950) und WOLFDIETRICH SCHNURREs „Die Rohrdommel ruft jeden Tag“ (1950). WOLFGANG WEYRAUCH hatte bereits 1946 eine Kurzgeschichten-Anthologie unter dem Titel „Tausend Gramm“ vorgelegt. In deren Vorwort formulierte er den für die sogenannte „Kahlschlagliteratur" jener Zeit programmatisch gewordenen Satz:

„Die Kahlschläger fangen in der Sprache, Substanz und Konzeption von vorne an.“

Er sprach sich für den „Realismus des Unmittelbaren“ und die „Fixierung des Alltags“ aus.

Nachkriegsjahre

Die erschütternden Erfahrungen des Krieges sowie die Entbehrungen und ideologischen Wirren der Nachkriegsjahre gestatteten es dieser Autorengeneration nicht, an die

  • epische Breite,
  • psychologische Tiefe und die
  • surrealistischen und
  • symbolistischen Formen

der deutschen Vorkriegsliteratur anzuknüpfen. Es bedurfte neuer Darstellungstechniken, um das Erlebte in all seiner Krassheit und Erbarmungslosigkeit authentisch zu gestalten. Schöne Stilisierungen, artifizielle Sprache verboten sich gewissermaßen von selbst, vielmehr sah man in den schmucklosen Formen der Alltagsprache das Bedürfnis nach Unverstelltheit und Wahrhaftigkeit erfüllt.

Vorbild HEMINGWAY

Die durch den Krieg gegangene Autorengeneration misstraute der für die faschistische Propaganda und die Einlullung der Bevölkerung missbrauchten Sprache und mochte keine Anknüpfungspunkte in der vorangegangenen Literatur finden. Nur das eigene Erleben und Empfinden schien ihnen verlässlich, angesichts der materiellen, körperlichen und seelischen Verheerungen, die der Krieg angerichtet hatte. Vor allem in HEMINGWAYs berühmten, die sprachliche Lakonie auf die Spitze treibenden Kurzgeschichten sahen die jungen Autoren ein Vorbild. Wie dieser konnten sie in einem prägnanten Handlungsausschnitt, der sich auf

  • eine knappe Zeitspanne,
  • einen festen Ort und
  • wenige Personen

beschränkt, ein alltäglich-gewöhnliches Ereignis, die massenhaften Erfahrungen einfacher Soldaten, über sich hinausweisen lassen und mehr sagen, als oberflächlich in den Zeilen steckt. HEMINGWAY selbst war durch die effiziente Schule des Journalismus gegangen. Als Reporter und Auslandskorrespondent verschiedener amerikanischer und kanadischer Zeitschriften hatte er frühzeitig gelernt, auf überflüssige Ausschmückungen zu verzichten und der Macht des Faktischen zu vertrauen. Den scharfen Blick für das Wesentliche, die unkommentierte, scheinbar emotionslose Darstellung aufwühlenden Geschehens hat er dort eingeübt: in seinen Reportagen von den Kriegsschauplätzen und Städten Europas. HEMINGWAY schrieb auch als Dichter nur über Dinge, die er aus eigener Anschauung kannte, sei es

  • der Krieg,
  • die Großwildjagd,
  • der Stierkampf,
  • der Fischfang.

In jedem dieser scheinbar begrenzten Wirklichkeitsausschnitte spürte er die großen Themen von

  • Leben und Tod,
  • Krieg und Frieden,
  • Liebe und Kampf

auf. Dabei verzichtete er auf die Darstellung von Emotionen, vielmehr komponierte er die Abfolge von Geschehnissen so, dass sie beim Leser eben diese Emotionen hervorrufen müssen. Der unvermittelte Einsatz in die Handlung, der die vorherige Entwicklung ebenso ausspart wie der offene Schluss die nachfolgende, sowie die unkommentierten Dialoge verlangen vom Leser, das Dargebotene zu seiner Gefühls- und Erfahrungswelt in Beziehung zu setzen. Statt der novellistischen Überhöhung bedient sich die amerikanische Kurzgeschichte HEMINGWAYs der Untertreibung, des Understatements. HEMINGWAY fühlte sich zeitlebens einemMännlichkeitsideal verpflichtet, das

  • Entschlossenheit,
  • Abenteuerlust,
  • Wortkargheit und
  • stummes Ertragen von Leid und Schmerz

einschloss. Er misstraute pathetischen, schwülstigen Worten, in seinen Texten mied er Abstrakta und schmückende Attribute. So ist sein Wortschatz einfach wie seine Syntax, die in der Regel mit kurzen Sätzen oder Parataxen auskommt. Es gab nicht wenige Versuche, den prägnanten, lapidaren Stil des Amerikaners zu imitieren. Doch nur zum Teil gelang es oder war es angestrebt, nach seinem Vorbild

  • den Bedeutungsfokus ganz in die Geschichte hineinzuverlagern,
  • konsequent aus einer Erzählperspektive und
  • ohne die Tendenz zur Poetisierung und Verinnerlichung
  • nur der nüchternen Darlegung des Geschehensablaufs zu vertrauen.

Die fest verwurzelte deutsche Erzähltradition, das hinter den Dingen und Geschehnissen liegende Tiefe, Symbolische, Allgemeinmenschliche aufscheinen zu lassen, erwies sich auch für die jungen Nachkriegsautoren bei aller Radikalität nach wie vor als wirkmächtig. Der spröde amerikanische Typ der short story ließ sich nicht einfach in die deutsche Literatur übertragen, vielmehr verwandelten die deutschen Autoren ihn auf ihre Weise.

WOLFGANG BORCHERT

Als einer der ersten und mit Vehemenz tat sich WOLFGANG BORCHERT als Autor von Kurzgeschichten hervor. Er orientierte sich eher an HEMINGWAYs unbekannterem Vorgänger O. HENRY als an diesem selbst und zeigte sich in seinem emphatischen Sprachgestus dem deutschen Expressionismus verpflichtet. Am bekanntesten unter seinen Kurzgeschichten wurden „Die Hundeblume“ (1947) und „Aber nachts schlafen die Ratten doch“ (1947). Letztere bezieht ihre Wirkung nicht zuletzt aus dem anrührenden Plot:

Ein kleiner Junge sitzt an der Ruine seines Hauses und versucht die Ratten von seinem unter den Trümmern begrabenen Bruder fernzuhalten. Ein alter Mann überredet den Jungen, wenigstens nachts seine Wache zu unterbrechen mit den Worten: „Aber nachts schlafen die Ratten doch.“

Der erste Satz der Geschichte

Das hohle Fenster in der vereinsamten Mauer gähnte blaurot voll früher Abendsonne

ist in keiner Weise eine „amerikanische Eröffnung“, sondern enthält vielmehr in den schmückenden Beiwörtern das typische expressionistische Bildinventar. Das Geschehen entfaltet sich dann allerdings mit knappsten Mitteln des Dialogs, der seine amerikanischen Vorbilder erkennen lässt.

WOLFDIETRICH SCHNURRE

Der Anfang von WOLFDIETRICH SCHNURREs Kurzgeschichte „Reusenheben“ (1949) liest sich hingegen wie der typische Anfang einer amerikanischen short story, denn er führt direkt zum Schauplatz:

„Der Boden war morastig und federte, wenn er den Fuß auf ihn setzte."

Die Geschichte setzt unmittelbar im Geschehen ein, die Erzählperspektive ist auf die Person des Jungen eingeschränkt, ohne ihn jedoch näher zu charakterisieren. Der Junge schwänzt die Schule und wird Zeuge, wie ein Mann im Schilf eine Frau umbringt. Die unterkühlte Darbietungsweise kontrastiert stark mit dem dargestellten Gewaltverbrechen. Die Sätze sind einfach, es gibt Satzreihungen, Satzbrüche, nahe an der Umgangssprache. Das Geschehen entwickelt sich im Dialog zwischen dem Jungen und dem Mörder. Für einen Moment flackert die Möglichkeit auf, der Junge könnte als Augenzeuge des Mordes auch noch aus dem Weg geräumt werden. Doch beide, Junge und Mörder, schaffen mit ruhiger Gewissenhaftigkeit die Leiche beiseite.

Die Fokussierung auf die Perspektive des Jungen und das Erlebnis von Gewalt legen den Vergleich mit den Geschichten um HEMINGWAYs Gestalt Nick Adams nahe. Am Ende von „Indianerlager“ – Nick war Zeuge des Kaiserschnitts geworden, den sein Vater ohne Narkose an einer Indianerin vorgenommen hatte, und des Selbstmordes ihres Mannes, der das Leid seiner Frau nicht ertragen konnte – wird Nick gleichsam die Chance zur emotionalen Verarbeitung des Erlebten gegeben.

Diese Ebene des Verarbeitens des entsetzlichen Geschehens bleibt bei SCHNURRE gänzlich ausgespart. Während bei HEMINGWAY die Dinge und die Vorgänge nur sich selbst bedeuten, hat SCHNURRE in die realistische Erzählweise seiner Geschichte gleichsam einen doppelten Boden eingezogen, der das Dargestellte gewissermaßen in einer vieldeutigen Schwebe hält und die Motive Mord, Zeugenschaft, Rechtsübertretung mit symbolischer Bedeutung auflädt.

HEINRICH BÖLL

Auch wenn HEINRICH BÖLL später dazu überging, Romane zu schreiben, hat er sich bis in die Sechzigerjahre doch außerordentlich um die Form der Kurzgeschichte nach dem Vorbild HEMINGWAYs und BORCHERTs bemüht. Er blieb jedoch nicht dabei, das karge untertemperierte amerikanische Muster zu kopieren, sondern hat seiner Kurzprosa satirische, parabolische oder novellistische Züge verliehen.

Seine berühmteste und komprimierteste Kurzgeschichte ist zweifellos „Wanderer, kommst du nach Spa…“ (1950). Im Schicksal des schwer verletzten jungen Mannes, der in ein Lazarett, das er als seine ehemalige Schule erkennt, eingeliefert wird, hat BÖLL seine eigenen Kriegserlebnisse verarbeitet, wie bis 1950 überhaupt die meisten seiner Geschichten entstanden, die das Kriegsgeschehen und seine Folgen zum Inhalt haben. Diese Kurzgeschichte hat eine novellistische Struktur, welche den Spannungsbogen dramatisch steigert in dem Maße, wie der Junge auf der Trage in die Schule vordringt und erkennt, dass es seine eigene ist. Der Höhepunkt ist erreicht, als er im Klassenzimmer den von ihm geschriebenen Satz „Wanderer, kommst du nach Spa …“, den er nicht vollständig auf die Tafel hat bringen können, wieder erkennt und sich zugleich über seine eigene körperliche Verstümmelung bewusst wird.
1948 ist BÖLLs satirische Geschichte „Mein teures Bein“ entstanden. Sie erzählt die Erlebnisse eines beinamputierten Kriegsheimkehrers auf dem Arbeitsamt und beginnt folgendermaßen:

„Sie haben mir jetzt eine Chance gegeben. Sie haben mir eine Karte geschrieben…“

Die Satire entfaltet sich in der Kürze des Dialogs, in der Knappheit der Fragen und Entgegnungen, etwa bezüglich des verlorenen Beines: „Ganz?“ – „Ganz.“ Die ihm als „nette Sache“ offerierte Stelle als Schuhputzer in einem WC lehnt der Kriegsversehrte ab und fordert eine Rente. Der Beamte bezeichnet die Forderung als „verrückt“ und rechnet dem Erzähler die Rentensumme für sein „verflucht teures Bein“ vor. Der Ich-Erzähler kontert, dass es schade sei, „dass ich nicht auch …totgeschossen wurde. Wir hätten viel Geld gespart.“ Denn durch seine Meldung konnte vielen Soldaten das Leben gerettet werden, und die geretteten Offiziere bezögen heute hohe Renten.
Das satirische Prinzip dieser Kurzgeschichte beruht auf der Wiederholung und zynisch-sarkastischen Steigerung der menschenverachtenden Äußerung des Beamten durch den Versehrten. Statt eines sachlichen Tones treibt der Autor das absurde Unterfangen, den Wert eines abgeschossenen Beines aufzurechnen, bei aller Sparsamkeit der Mittel bis zum Äußersten.

WOLFGANG HILDESHEIMER

WOLFGANG HILDESHEIMER, der als jüdischer Emigrant von den Alliierten 1946 als Simultandolmetscher zu den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geholt worden war, debütierte 1952 mit einem Band Kurzgeschichten unter dem Titel „Lieblose Legenden". Die ursprünglich aus der christlichen Liturgie stammende Legendenform hat er ins Satirische gewendet und auf die kulturelle und politische Restauration im westlichen Teil Nachkriegsdeutschlands bezogen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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