Schachnovelle

Entstehungszeitpunkt

Die Novelle gilt als das letzte Werk des österreichischen Autors STEFAN ZWEIG und als eines seiner meisterhaftesten.
Sie erschien 1942 in Buenos Aires, nach dem Tode ZWEIGs. Am 23. Februar 1942 hatte er sich, auf der Flucht vor den deutschen Faschisten, die ihn über England nach Brasilien geführt hatte, zusammen mit seiner Frau das Leben genommen.

Inhalt

Die Novelle spielt auf einem Luxusliner, der von New York nach Buenos Aires unterwegs ist. An Bord befindet sich der berühmte Schachweltmeister Mirko Czentovic, der auf dem amerikanischen Kontinent ein Turnier nach dem anderen bestreitet. Der Ich-Erzähler gibt zunächst einen Abriss des kometenhaften Aufstiegs dieses Schachmeisters, eines armen Bauernsohnes vom Balkan, der zunächst beim Pfarrer seines Dorfes, bei dem er aufwuchs, das Schachspiel erlernte. Von schwerfälligem Verstand, nahezu analphabetisch und kaum zur Kommunikation fähig, hat dieser grobe Bauernjunge in wenigen Jahren sein einseitiges Talent zu großer Meisterschaft entwickelt und bald alle großen Schachmeister geschlagen. In der Beschränktheit seines Horizonts, die allein für das Schachspiel Raum lässt, hat er einen Schutzschild aus Arroganz und Habgier aufgerichtet. Eine jede Schachpartie lässt er sich teuer bezahlen.

Ich-Erzähler

Der Ich-Erzähler wünscht, diesen wundersamen Mann zu einem Interview zu überreden, es gelingt ihm jedoch nicht, an den scheuen, schroffen Menschen heranzukommen. Durch demonstratives Schachspielen mit einigen Freunden und Passagieren vermag er zumindest die, wenn auch abschätzige Aufmerksamkeit des Schachgenies zu erregen und den neureichen, ehrgeizigen Schotten Mc Connor zu veranlassen, die von Czentovic geforderten Honorare einzusetzen. Czentovic spielt eine Simultanpartie gegen die Gruppe der Passagiere, die er natürlich nach wenigen Zügen für sich entscheidet. Der Ehrgeiz des aufbrausenden Mc Connor ist angestachelt und er fordert Czentovic zur Revanche, in die dieser voller Herablassung einwilligt. Wieder scheint die Partie schon fast entschieden, als überraschend ein unbekannter Herr eingreift und mit Empfehlungen, die die Schachzüge des Meisters weit im Voraus zu kennen scheinen, ein Remis erspielt. Nunmehr ist Czentovics Interesse geweckt, der jetzt von sich aus eine dritte Partie anbietet.

Dr. B.

Doch der unbekannte Herr lehnt eilig ab, mit dem Argument, er habe seit mehr als zwanzig Jahren kein Schachbrett angefasst. Dem Ich-Erzähler gelingt es, den Unbekannten, der als Dr. B. vorgestellt wird, ausfindig zu machen und für eine weitere Schachpartie gegen Czentovic zu gewinnen. Und außerdem erfährt er von Dr. B., unter welchen Umständen er so unfehlbar das Schachspielen erlernt hat. Wie der Ich-Erzähler stammt Dr. B. aus Wien, wo er mit seinem Vater eine angesehene Rechtsanwaltskanzlei betrieb, die sich vor allem um die Vermögensangelegenheiten der Klöster und einiger Mitglieder der kaiserlichen Familie kümmerte. Als die Nationalsozialisten das Land besetzten, bemühte sich Dr. B. in aller Diskretion, die Besitztümer der Klöster und der Monarchie dem Zugriff der Nazis zu entziehen. Durch Denunziation wurde die Gestapo auf die Kanzlei des Dr. B. aufmerksam und inhaftierte den Rechtsanwalt. Dr. B. wurde allerdings nicht in einem Konzentrationslager festgehalten, sondern im Zimmer eines Hotels. Ohne jede Art von Beschäftigung und Ablenkung, ohne Papier und Bücher war er wochenlang sich selbst überlassen. Diese perfide Tortur der Isolation wurde nur durch die Verhöre unterbrochen, zu denen die Gestapo ihn willkürlich holte.

Meisterschach

Während des Wartens auf eines dieser Verhöre gelang es ihm, ein Buch zu stehlen, das sich als eine Sammlung von Meisterschachpartien erwies. Dr. B. lernte diese Partien auswendig und begann sie nachzuspielen mit Figuren aus Brotresten. Dadurch vermochte er seinen endlosen einsamen Tagen einen Sinn zu geben sowie souverän den Verhören standzuhalten. Sein Zustand wurde jedoch kritisch, als er begann neue Partien zu erfinden und dabei sein Bewusstsein in zwei gegnerische Ichs aufzuspalten. Er geriet in eine nervliche Krise, die ihn zunächst ins Hospital und dann dank der Hilfe seines Arztes in die Freiheit brachte. Der Warnung des Arztes folgend, wollte Dr. B. das Schachspiel in Zukunft meiden.

Das Duell

Mit der zugesagten Partie gegen Czentovic will er ergründen, ob er, der Schach nur als Vorstellung im Kopf und gegen sich selbst gespielt hat, imstande sei, an einem wirklichen Brett gegen einen tatsächlichen Gegner zu spielen. Souverän gewinnt er die erste Partie gegen den Weltmeister. Dr. B., der wegen der verzögernden Spieltaktik des Meisters schon zunehmend außer sich gerät, ist sofort zu einer weiteren Partie bereit, die ihn in einen Zustand fiebriger Erregung versetzt, und nur im letzten Moment vermag der Ich-Erzähler ihn zum Aufgeben zu bewegen. Czentovic quittiert dessen Abgang mit der Bemerkung: „Für einen Dilettanten ist dieser Herr eigentlich ungewöhnlich begabt.“

Einordnung

Die Novelle handelt von der Faszination des Schachspiels und erzählt vom Schicksal zweier mit ihm auf außergewöhnliche Weise verbundenen Menschen.
In der Exposition der Novelle erfährt der Leser etwas über das dumpfe Schachgenie Czentovic, dessen eingeschränkte Begabung ihm kein Hinausdenken über die 64 Felder ermöglicht. Sein langsames, schwerfälliges, aber unbeirrbar sicheres Spiel hat den minderbegabten Bauernburschen aus dem Banat reich und berühmt gemacht. Er spielt automatenhaft, starren Blicks über das Brett gebeugt, mit seinen Schachgegnern kaum ein Wort wechselnd. Sein Leben und Denken vollzieht sich instinkthaft in den Vorgaben des Spiels, unberührt von den Geschehnissen in der Welt.
Die Ich-Erzählung bildet den Rahmen der Novelle und fokussiert die Perspektive während der Überfahrt auf das Schachspiel und seine Protagonisten.

In der Binnenerzählung schildert Dr. B., Sprössling einer angesehenen Wiener Familie, wie er seine außergewöhnliche Beherrschung des Schachspiels erlangte. Er hatte als Anwalt seine Tätigkeit in den Dienst derjenigen Kräfte gestellt, die für ihn (und den Autor) die Werte des untergehenden österreichischen Kaiserreichs verkörpern: die Monarchie und die Kirche. Sie verteidigt er gegen die Nationalsozialisten, die Österreich besetzt halten. Als Gefangener der Gestapo bewahrt er die Geheimnisse über den Verbleib der Besitztümer seiner Klienten. Das Schachspiel hilft ihm, Strategien des Überlebens und des Widerstands gegen die Nazis zu entwickeln. Die Isolationshaft zwingt ihn allerdings, es als reine Abstraktion auszuführen, bis er ganze Meisterspiele im Kopf zu speichern und jedweden Zug zu antizipieren vermag. Dr. B. ist auf das Unmittelbarste in die Geschehnisse der Zeit verstrickt. Seine Anwesenheit auf dem Schiff ist Teil seiner politischen und moralischen Identität, er muss Europa verlassen auf der Flucht vor den Faschisten. Die Binnengeschichte des Dr. B. erfährt eine dramatische Steigerung mit dem Diebstahl des Buches und der Entwicklung seiner Schachbesessenheit, der seine Psyche letztlich nicht standhält.

In der Rahmengeschichte markiert die zweite unvollendete Partie B.s gegen den Weltmeister die krisenhafte Zuspitzung und damit den Umschlagpunkt der Novelle. Stefan Zweig hat die innere Spannung der Handlung auf eindringliche Weise aus der Psychologie seiner Helden entwickelt, mit der Motivik der strategischen Konstellationen des Schachspiels verknüpft und in die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge des Zweiten Weltkrieges eingebunden.

Die disziplinierte, meisterhafte Sprache lässt den geistigen Habitus seiner Figuren außerordentlich plastisch werden und macht die innere Dramatik des Geschehens nahezu körperlich erlebbar. In dieser letzten Novelle ZWEIGs verdichten sich gleichsam die Grundzüge seines Werkes. Sein Interesse an den Seelenlandschaften des Menschen, das ihn das Individuelle und Ungewöhnliche in der Psyche seiner Helden und ihrer Geschichten ausloten ließ, ist an den eindrucksvollen Porträts seiner Figuren ablesbar. ZWEIGs Hoffnungen auf eine humane, von Brüderlichkeit unter den Völkern und der Hochschätzung geistiger Werte geprägten Welt hatten die Jahre des Krieges und des Exils zunichte gemacht. Sie finden ihren Widerschein in der integren, gleichwohl gebrochenen Persönlichkeit des Dr. B., der ein Vertreter jener Welt ist, der auch STEFAN ZWEIG sich zughörig fühlte und die er dem Untergang geweiht sah.

GERD OSWALD verfilmte die „Schachnovelle“ 1960 mit CURD JÜRGENS als Werner von Basil (im Roman: Dr. B.) und MARIO ADORF in der Rolle des Schachweltmeisters Mirko Czentovic.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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