Die Zeitgestaltung in epischen Texten

Vorbild für die Struktur einer Geschichte ist, so banal es klingt, das Leben. Dessen nachahmende Darstellung, so heißt es in der „Poetik“ (PDF 1) des ARISTOTELES (4. Jh. v. Chr., Bild 1), ist das Wesen der Kunst. Eine erzählte Geschichte hat einen Anfang und ein Ende und die Geschehnisse entwickeln sich in zeitlicher Abfolge. Doch anders als beim Drama, in dem nach Aristoteles die „Einheit der Zeit“ gewahrt ist, also die Darstellung der Handlung und der Dialoge sich in genau der Zeit entfaltet, die sie auch in der Realität benötigen würden, ist der Autor eines epischen Textes freier im Umgang mit der Zeit.

Das Erzählen einer Geschichte verlangt nicht die Zeit, die das Geschehen in der Realität beansprucht. Andernfalls könnte man nicht in wenigen Wochen HEINRICH MANNs zweiteiligen Roman über „Die Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre“ (1935-38) oder den Roman seines Bruders THOMAS MANN „Der Zauberberg“ (1924) über den siebenjährigen Aufenthalt Hans Castorps im Sanatorium lesen.

In einem erzählenden (narrativen) Text spielt die Zeit also mindestens in zweifacher Hinsicht eine Rolle. In der Wissenschaft wurden zur Beschreibung dieses Sachverhalts verschiedene Begriffe verwendet.

ARISTOTELES trifft eine Unterscheidung zwischen

  • „praxis“, dem realen Geschehen,
  • „logos“, dem ausgewählten Handlungsausschnitt und
  • „mythos“, der sprachlichen Darstellung.

In jüngster Zeit finden die aus dem Französischen stammenden Begriffe

  • „histoire“ (der Ablauf der Ereignisse in der Zeit) und
  • „discours“ (die sprachliche Darbietung der Ereignisse)

Verwendung. Wir sprechen im Folgenden von

  • erzählte Zeit 

Der Zeitraum, über den sich das dargestellte Geschehen erstreckt, markiert durch Anfang und Ende der Geschichte

  • und Erzählzeit

​Die Zeitdauer der sprachlichen Realisierung der Handlung, also die Zeit, in der die Geschichte erzählt bzw. gelesen wird

 

Das dargestellte Geschehen kann bei Weitem den Zeitraum übersteigen, den unser individuelles Erleben real ermöglicht. So umfasst das Geschehen in JEREMIAS GOTTHELFs Novelle „Die schwarze Spinne“ (1842; PDF 2) mehrere Generationen.

GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ' weltberühmter Roman „Hundert Jahre Einsamkeit“ (1966) erzählt die wechselvolle Geschichte des kolumbianischen Dorfes Macondo ebenfalls über einen langen Zeitraum hinweg und überschreitet die menschliche Erfahrungswelt, indem er mythisches und phantastisches Geschehen einflicht. Verschiedene Techniken lassen den Erzähler gleichsam über die Zeit „herrschen“.

Durch Zeitraffung kann ein womöglich Jahre dauernder Vorgang zusammengefasst werden. Zeitabschnitte, in denen nichts geschieht, was die Handlung vorantreiben könnte, werden auf diese Weise übergangen.

„Es regnete vier Jahre, elf Monate und zwei Tage.“ (MÁRQUEZ, „Hundert Jahre Einsamkeit“, 1966)

Da die meisten Geschichten einen größeren Zeitraum behandeln als die Erzählzeit abdecken könnte, werden innerhalb eines Textes oft verschiedene zeitraffende Erzähltechniken verwendet. Die extremste Form der Zeitraffung ist der Zeitsprung; in der Erzählung wird einfach ein ganzer Zeitraum ausgelassen:

„Eine schöne lange Zeit war verflossen, achtundzwanzig Jahre, fast die Hälfte eines Menschenlebens; der Gutsherr war sehr alt und grau geworden, sein gutmütiger Gehülfe Kapp längst begraben.“
(ANETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF, „Die Judenbuche“, 1842, PDF 3)

Auch Begebenheiten, die sich immer wieder auf die gleiche Weise vollziehen, können zusammengefasst werden.

„Einmal pro Woche, am Freitag, kochte Cora für sich und ihren Mann Spaghetti. Präziser formuliert: Sie kochte einmal die Woche, immer nur freitags und immer Spaghetti [...].“
(HELMUT KRAUSSER, „Der große Bagorozy“, 1997)

Untersuchen wir, wie der Ich-Erzähler in MAX FRISCHs Roman „Homo Faber“ (1957) mit der Zeit umgeht.
Der Roman eröffnet mit einem Flug, der in New York während eines Schneetreibens startet. Sehr bald kommt es zu einer Notlandung inmitten der mexikanischen Wüste. In dieser Schilderung fallen erzählte Zeit und Erzählzeit zusammen, es wird nahezu Zeitdeckung erreicht.

Nach einer zeitdehnenden Reflexion des Erzählers über Schicksal und Wahrscheinlichkeit folgt eine Zeitraffung in dem zusammenfassenden Satz:

„Unser Aufenthalt in der Wüste von Tamaulipas, Mexico, dauerte vier Tage und drei Nächte, total 85 Stunden, worüber es wenig zu berichten gibt - ...“

Sodann schildert der Erzähler einige Eindrücke vom Landeplatz, beschleunigt die Handlung erneut:

„Unser Nachmittag verging im Nu.“,

um sie dann in einer ca. eine Seite umfassenden Reflexion des Erzählers zum Stillstand zu bringen, die folgendermaßen eingeleitet wird:

„Ich habe mich oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden.“

Nach diesem verzögernden Moment der Zeitdehnung wird der Dialog zwischen dem Erzähler und seinem Schicksalsgenossen fortgesetzt, wobei wiederum Zeitdeckung entsteht.

Wir haben an diesem Beispiel gesehen, dass in einem erzählenden Text, zumal in einem längeren, das Erzähltempo mehrfach variieren kann.
Die Zeit der Erzählung kann mit der ihres Inhalts zusammenfallen oder sich „auch sternenweit von ihr entfernen“ (THOMAS MANN).

Erzähltempo nennt man das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit. Das Erzähltempo kann sich beschleunigen oder verzögern.

Variationen im Erzähltempo ermöglichen nicht nur, eine lange Geschichte auf der begrenzten Seitenzahl eines Buches unterzubringen, sondern sie setzen auch inhaltliche Akzente innerhalb des Erzählten. Das Gewicht legt der Autor auf ausgedehnte, detaillierte Passagen, wenn er bei einer Person oder einem Thema verweilt oder ein Geschehen gleichsam in „Echtzeit“ darbietet. Aber auch Aussparungen vermögen ein Geschehen eigens zu akzentuieren, gerade indem darüber sehr offensichtlich hinweggegangen wird.

So ist in KLEISTs Novelle „Die Marquise von O.“ (1808; PDF 4) der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte die Schwängerung der Marquise während einer Ohnmacht. Nur indem der Marquise das Geschehen unbewusst bleibt und auch dem Leser nicht enthüllt wird, lässt sich der Spannungsbogen über die Identität des Mannes, der zum Vater ihres Kindes wurde, und den Umgang der Beteiligten mit dem Konflikt aufbauen und am Ende lösen.

Um Geschehen in die Geschichte zu holen, das vor der eigentlichen Handlung der Erzählung liegt, bedient sich der Erzähler der Rückwendung oder Rückblende. Als allwissender Erzähler, der große Zeiträume überblickt, kann er einfach zurückliegendes Geschehen mitteilen.

„Aber in der letzten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts war ein grenzenloser Übermut eingebrochen …“
(JEREMIAS GOTTHELF, „Elsi, die seltsame Magd", 1843)

Eine besondere Form der Rückwendung ist die Binnenerzählung, die zumeist einer der Figuren in den Mund gelegt wird.
In GOTTHELFs „Die schwarze Spinne“ (1842) ist es der Großvater, welcher der Taufgesellschaft die mehrere Generationen zurückliegende parabolische Geschichte vom Pakt mit dem Teufel und der daraus erwachsenen und letztlich gebannten Spinnenplage erzählt.
In THEODOR STORMs Novelle „Der Schimmelreiter“ (1888) besteht die Rahmenhandlung darin, dass sich der Erzähler die Geschichte des Deichgrafen Hauke Haien vom alten Schulmeister des Dorfes erzählen lässt. In diese Erzählsituation ist die hundert Jahre zurückliegende Binnenerzählung über den jungen Deichgrafen eingebettet, der an der Missgunst und Unwissenheit seiner Zeitgenossen scheiterte.

Seltener findet die Vorausdeutung in die Zukunft Verwendung. Sie verlangt in jedem Fall einen Erzähler, der mehr weiß als seine Figuren.
So meldet sich am Ende von THOMAS MANNs Roman „Der Zauberberg“ (1924) die allwissende Erzählerstimme zu Wort. Hans Castorp, die Hauptfigur des Romans, befindet sich nach sieben Jahren im Sanatorium mittlerweile im Schlachtgetümmel des Ersten Weltkrieges:

„Deine Aussichten sind schlecht; das arge Tanzvergnügen, worein du gerissen bist, dauert noch manches Sündenjährchen, und wir möchten nicht hoch wetten, dass du davonkommst.“

Der allwissende Erzähler weiß natürlich, was seine Figuren im Verlauf der Geschichte erwartet und mitunter erlaubt er sich einen Vorgriff auf Künftiges wie in der folgenden Textstelle aus „L'Adultera“ von THEODOR FONTANE (1880, PDF 5), in der es darum geht, dass Melanie von der Straaten angesichts der finanziellen Schwierigkeiten ihres zweiten Mannes mit zum Lebensunterhalt beiträgt und ihren aufwändigen Lebensstil einschränkt.

„Und bald sollte es sich herausstellen, wie nötig diese raschen und resoluten Schritte gewesen waren, denn der Zusammenbruch erfolgte jäher als erwartet, und jede Form der Einschränkung erwies sich als geboten, wenn nicht mit der finanziellen Reputation des Hauses auch die bürgerliche verlorengehen sollte.“

Insbesondere der moderne Roman des 20. Jahrhunderts, der die Schnelllebigkeit der Zeit, das gesteigerte Lebenstempo und die Gleichzeitigkeit unzähliger Vorgänge erfassen will, hat Erzähltechniken entwickelt, die dem linearen Prinzip des Erzählens das der Simultanität entgegenzusetzen. Bei JOHN DOS PASSOS' multiperspektivischem RomanManhattan Transfer“ (1925) und ALFRED DÖBLINS „Berlin Alexanderplatz“ (1929) handelt es sich um epische Werke, die mit den Techniken der

  • Montage und
  • Simultanität,
  • mit wechselnden Perspektiven und
  • Schauplätzen

die moderne Lebenswelt einzufangen versuchen.
Das Lebensgefühl der Großstädte mit ihren zahllosen gleichzeitig ablaufenden Vorgängen, dem Tempo des Verkehrs und der Fülle der auf den Menschen einstürmenden Informationen hat auf diese Erzählweise ebenso eingewirkt wie die Techniken des aufstrebenden Mediums Film, der linear erzähltes Geschehen mittels

  • Simultantechniken,
  • jähen Schnitten und
  • Überblendungen

aufzubrechen vermag. Der zu betrachtende Abschnitt im Buch beginnt stakkatoartig: „Eisige Luft. Februar". Ein einfacher Satz folgt: „Die Menschen gehen in Mänteln.“ Trotz der wenigen Aussagen kann sich der Leser die Situation vorstellen, weil er solche Situationen ähnlich bereits erlebt hat. Es ist also nicht nötig, minutiös zu beschreiben. DÖBLIN fährt an anderer Stelle fort, das pulsierende Treiben der Großstadt einem Bienenstock zu vergleichen: „Wie die Bienen sind sie über den Boden her. Die basteln und murksen zu Hunderten den ganzen Tag und die Nacht.“ Diese spärlichen Aussagen reichen aus, dass sich der Leser ein Bild machen kann. Unmittelbar folgt der Schnitt hin zur Beschreibung der nächsten Szene: „Ruller ruller fahren die Elektrischen, gelbe mit Anhängern, über den holzbelegten Alexanderplatz.“ Der Film nennt diese Technik einen hard cut, einen harten Schnitt. Der folgende Satz klingt wie eine Warnung: „Abspringen ist gefährlich.“ Dazwischen fällt jedoch kein Wort von Menschen, die in der Straßenbahn sitzen oder auf das Verkehrsmittel warten. Das ist auch nicht nötig. Jeder zeitgenössische Leser weiß, dass in der Straßenbahn Menschen sitzen und dass sie am Verkehrsknotenpunkt Alexanderplatz aussteigen werden. Deshalb nur ein einziger Verweis auf die Gefährlichkeit des Abspringens von der Bahn während der Fahrt. Heutigem Leser mag das befremdlich erscheinen, denn die Straßenbahnfahrer öffnen die Türen der Straßenbahn erst nach dem Halt. Einzuordnen ist der Satz erst dann, wenn man weiß, dass Straßenbahnen in den 1920er-Jahren keine Türen hatten und dass es sehr leicht war, auf- oder abzuspringen.

Nach der kurzen Warnung fährt DÖBLIN unmittelbar fort: „ Der Bahnhof ist breit freigelegt, Einbahnstraße nach der Königstraße an Wertheim vorbei. Wer nach dem Osten will, muß hintenrum am Präsidium vorbei durch die Klosterstraße.“ Das ist wieder ein neuer Schnitt, der an einen Kameraschwenk erinnert. In einer weiten Einstellung begleitet das Kameraauge (der Leser) die Szenerie: Die „Züge rummeln vom Bahnhof nach der Jannowitzbrücke, die Lokomotive bläst oben Dampf ab, grade über dem Prälaten steht sie, Schlossbräu, Eingang eine Ecke weiter.“ (alle Zitate aus: ALFRED DÖBLIN, „Berlin Alexanderplatz“, Berlin: S. Fischer Verlag,
1929).

Ausdrücklich in die Tradition von DÖBLINs „Berlin Alexanderplatz“ stellt sich INGO SCHRAMM mit dem Roman „Fitchers Blau“ (1996). In der folgenden Passage geht es um die Kämpfe zwischen Hausbesetzern und Polizei in Berlin-Friedrichshain Anfang der 1990er-Jahre. Die Schilderung des Geschehens und die Assoziationen des Protagonisten sind kaum voneinander zu trennen. Wie bei DÖBLIN leitet der folgende Abschnitt durch kurze, stakkatoartige Sätze ein: „Ein Klicken. Karl zuckt zusammen. Er ist fotografiert. Fotografen schlendern vorbei. Objektive baumeln am Gurt." Aber anders als DÖBLIN bleibt SCHRAMM bei den kurzen Sätzen. Sie verweilen auf der Szene: „Andere sind Kameraleute und tragen Videokameras auf den Schultern. Unbeteiligte Gesichter. Eben mal interessiert. Es geschieht was. Vielleicht Verletzte.“ Hier wird nicht mehr nur beobachtet, sondern versucht, in die Innensicht der Figuren vorzudringen: „Wieder ein Toter wie vorletzten Samstag in Leipzig. Da waren die hier nicht dabei. Das war ihnen entgangen. Das hatten Kollegen geschnappt.“ Trotz alledem bleibt die Passage in einer merkwürdigen Schwebe, denn offizielle Zahlen, die das Geschehen belegen können, sind nicht bei der Hand. Deshalb bleibt es bei Vermutungen: „Vielleicht mehrere Tote. Ein kleiner Krieg. Nichts Neues, aber gut gegen Langeweile und Einfallslosigkeit. “ Das Geschehen liegt bereits in einer Zeit, in der die Presse über die Ereignisse berichten darf, aber niemand nimmt sie mehr wahr. Es gibt kein Ministerium für Staatssicherheit mehr, aber die polizeiliche Gewalt bei der Räumung besetzter Häuser. Die Presse ist beständig lauernd dabei. Sie wird nur als Ereiggnis registriert, das ohne Folgen bleibt: „Titelseiten, Aufmacher. Verkaufszahlen, Einschaltquoten. Werbeeinnahmen. Karl ist im Kasten. Klappe.“ (Die Zitate stammen aus: Schramm, Ingo: Fitchers Blau, Berlin: Volk und Welt, 1996.)

Behandlung der Zeit im epischen Text:

  • Zeitraffung
  • Zeitdehnung
  • Rückblende
  • Vorausdeutung
  • Simultanität
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