Lessing und die Literaturkritik

GOTTHOLD EPHRAIM LESSING gilt als der Begründer der neueren deutschsprachigen Literaturkritik. Er war eine Doppelbegabung: Er dichtete selbst und kommentierte die Werke anderer. Dabei war er sich seiner Fähigkeiten wohl bewusst, denn er legte zugleich die Regeln fest:

„Der wahre Kunstrichter folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert“
(Hamburgische Dramaturgie, Neunzehntes Stück, [Den 3. Julius 1767]).

Diese gelten bis heute für einen guten Kritiker, denn nur das ist eine gute Kritik, was nicht „dem Leser nach dem Maul redet“, sondern was dem Werk gerecht wird.

GOETHE, sein jüngerer Zeitgenosse, sagte erinnernd über ihn:

„Lessing hält sich, seiner polemischen Natur nach, am liebsten in den Regionen der Widersprüche und Zweifel auf, das Unterscheiden ist seine Sache, und dabei kam ihm sein großer Verstand auf das herrlichste zustatten. Mich selber werden sie dagegen ganz anders finden; ich habe mich nie auf Widersprüche eingelassen, die Zweifel habe ich in meinem Innern auszugleichen versucht, und nur die gefundenen Resultate habe ich ausgesprochen“ (GOETHE an ECKERMANN am 11.04.1827).

Viele ästhetische Schriften entsprangen LESSINGs Feder. Besonders bekannt sind hier:

„Briefe, die neueste Litteratur betreffend“ (PDF 1) (1759–1765, Zeitschrift, mit FRIEDRICH NICOLAI und MOSES MENDELSSOHN),

„Laokoon: oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“ (1766, ideengeschichtliche Grundlage für „Minna von Barnhelm“, PDF 2 ),

  • „Hamburgische Dramaturgie“ (1767–1769, eine der frühesten modernen Abhandlungen über die Dramentheorie, PDF 3),

  • „Abhandlungen über die Fabel“ (1779)

  • „Wolfenbütteler Beiträge zur Geschichte und Literatur“ (1773–1781).

In diesen Schriften äußerte sich LESSING u. a. zu seiner Ansicht über den Unterschied zwischen Literatur und bildender Kunst („Laokoon“) und setzte sich kritisch mit den strengen Regeln der klassizistischen französischen Tragödie und deren Verfechter, JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED, auseinander. Dagegen hielt er die englischen Stücke SHAKESPEAREs für vorbildlich für die deutsche Literatur (vor allem im 17. Literaturbrief, PDF 2).

Als Journalist wurde LESSING vor allem durch seine Buch- und Theaterkritiken ( „Briefe, die neueste Litteratur betreffend“) bekannt, er äußerte sich jedoch auch zu Fragen der Kunst, der Archäologie („Briefe antiquarischen Inhalts“, 1768–1769; „Wie die Alten den Tod gebildet“, 1769) und der Theologie. Auf dem Gebiet der Theologie führte er mit seinen Schriften vor allem den Kampf gegen die protestantische Orthodoxie und verteidigte das Recht der Vernunft, auch die Religion kritisch prüfen zu dürfen („Anti-Goeze“, 1778). Außerdem beschäftigte er sich mit dem Konflikt zwischen Kirchendogma und religiösem Gefühl („Die Erziehung des Menschengeschlechts“, vollständig 1780).


In all seinem Wirken beharrte LESSING niemals darauf, im Besitz der Wahrheit zu sein. Für ihn war nur wichtig, welche „aufrichtige Mühe“ ein Mensch aufwendet, um „hinter die Wahrheit zu kommen“.

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“
(in: Gotthold Ephraim Lessing: Über die Wahrheit, 1777)

Im Sinne seines spezifischen aufklärerischen Denkens war die Erkenntnisfähigkeit des Menschen für LESSING begrenzt, sodass der Mensch sich zwangsläufig in Widersprüche verwickeln oder Irrtümern unterliegen – also fehlbar sein – musste. Dementsprechend hielt LESSING Fehlbarkeit für verzeihlich, nicht jedoch stures Festhalten an dogmatischen, einzig gültigen Wahrheiten – einer der Gründe für seine Ablehnung des Regel-Dogmatismus von JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED (s. o.).

Laokoon

Die aus der Zeit ALEXANDERs DES GROSSEN stammende Laokoongruppe galt seit alters her als „schönste Skulptur“ überhaupt. Eine römische Kopie des verlorengegangenen griechischen Originals wurde 1506 in der Nähe der ehemaligen Villa Kaiser NEROs gefunden und sofort bestaunt.
PLINIUS DER JÜNGERE hatte sie bereits gelobt, und nach ihm taten es viele andere nach. MICHELANGELO war fasziniert, EL GRECO malte sein berühmtes Bild. JOHANN JOACHIM WINCKELMANN schrieb darüber in „Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“, nach ihm LESSING in „Laokoon: oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“, 1797 ließen SCHILLER und GOETHE einen gewissen Herren ALOYS LUDWIG HIRT, einen Altertumsforscher, mit einem sehr eigen interpretierten Artikel über „Laokoon“ in ihren „Horen“ auftreten, der den großen Weimarer vom Frauenplan nicht amüsierte, sodass er sich herabließ, selbst auch noch einen Aufsatz „Über Laokoon“ zu schreiben.

„Hirts Aufsatz über Laokoon regte Goethe an, seine Ansichten über diesen schon früher behandelten Gegenstand zusammenzustellen, und er konnte nach wenig Tagen seine Abhandlung an Schiller übersenden. „Sie haben“, erwiderte Schiller, „mit wenig Worten und in einer kunstlosen Einkleidung herrliche Dinge in diesem Aufsatz ausgesprochen, und eine wirklich bewundernswürdige Klarheit über die schöne Materie verbreitet. In der Tat, der Aufsatz ist ein Muster, wie man Kunstwerke ansehen und beurteilen soll; er ist aber auch ein Muster, wie man Grundsätze anwenden soll; in Rücksicht auf beides habe ich sehr viel daraus gelernt“
(J. W. SCHAEFER: Goethes Leben, 1851).


Die Herren ATHANDOROS, HAGESANDROS und POLYDOROS von der Insel Rhodos, die als Schöpfer der Lokoongruppe gelten, wären errötet oder hätten wenigstens eine stolzgeschwellte Brust gehabt bei all den Mühen, welche die Geistesgrößen aller Zeiten aufbrachten, ihr bildhauerisches Werk zu loben.

Auch die spätere Zeit (F. KONTOGLOU, ERNST FUCHS, WERNER HORVATH, MATHIAS WASKE, WILLIAM BLAKE) zeigt, dass der Mythos um den Priester Laokoon bis heute die Künstler fasziniert. Laokoon wurde gemeinsam mit seinen Söhnen von den großen Schlangen Porkes und Chariboia erwürgt, weil er die Stadt Ilion vor dem Trojanischen Pferd gewarnt hatte. Aber diese Warnungen waren verhallt – genau wie diejenigen der Königstochter Medea – und Troja fiel.

LESSINGs „Laokoon: oder Über die Grenzen der Mahlerey und Poesie“

LESSING benutzt in seinem Laokoon ein Werk der Bildhauerkunst, um Malerei und Literatur miteinander zu vergleichen. „Hier entwickelte er gegen die Auffassungen J. J. Winckelmanns den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Poesie als Kunst des zeitlichen Nacheinanders und den bildenden Künsten, deren Prinzip das räumliche Miteinander ist.“ (Brockhaus multimedial 2006)

Er zitiert dafür den Griechen SIMONIDES, wonach „Malerei eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei“ sei. Der Römer HORAZ formulierte später: „ut pictura poesis“ = „wie das Bild sei die Poesie“.

LESSING beginnt seine Schrift als Auseinandersetzung mit JOHANN JOACHIM WINCKELMANNs „Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst“ (1755, PDF 5). Diese hatten bereits kurz nach ihrem Erscheinen großes Aufsehen erregt.

Vor allem der „Ausdruck in den Figuren“ antiker Skulpturen (insbesondere der Schmerz im Gesicht Laokoons) regte LESSING zum Vergleich mit der Poesie an. WINCKELMANNs Meinung, die antiken Bildhauer hätten aus ethischen Gründen kein „schreckliches Geschrei“ zeigen wollen, sondern nur den Seufzer, widerspricht er heftig: Laokoon

„... erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können“
(LESSING: Laokoon).

LESSING findet dagegen keine ethischen, sondern lediglich ästhetische Gründe für die Andersartigkeit von Bildhauerei und Malerei:

„Die bloße weite Öffnung des Mundes,–beiseitegesetzt, wie gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden,–ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut.“ (ebenda)

Es folgt die Untersuchung des Wesens von Dichtung und Bildender Kunst.

Nach DIETRICH HARTH (geb. 1934) kann man LESSINGs Positionen in folgendem Schema zusammenfassen:

Künstlerische Mittel

Gegenstände

Aus-dehnung

Zeichen

Malerei

Figuren und  Farben

Körper

räumlich – simultan

natürlich

Poesie

artikulierte Töne

Handlungen/Abläufe

zeitlich – 
sukzessive

willkürlich

(Vgl: DIETRICH HARTH: Lessing. Oder die Paradoxien der Selbsterkenntnis, München,1993)

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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