Strukturwandel in der Automobilindustrie – das Beispiel Eisenach

Mit der deutschen Wiedervereinigung vollzog sich in der Wirtschaft der neuen Bundesländer der Strukturwandel von der planwirtschaftlich-sozialistischen zur marktwirtschaftlich-kapitalistischen Volkswirtschaft. Das bedeutete u. a. für die vielen unproduktiv arbeitenden Betriebe das gänzliche Aus oder war zumindest mit einem erheblichen Abbau von Arbeitskräften verbunden.

Den Strukturwandel konnten also allein diejenigen Betriebe überleben, die die Voraussetzungen hatten bzw. die Chancen besaßen, zu modernen, konkurrenzfähigen Unternehmen heranzuwachsen.

Probleme bei der Bewältigung des Strukturwandels

Die Geschichte

Als Beispiel für die Automobilindustrie kann die Herstellung von Kraftwagen am Industriestandort Eisenach am Rande des Thüringer Waldes gelten.
Im Automobilwerk Eisenach wurden bereits seit 1896 Kraftfahrzeuge produziert, u. a. der legendäre Dixi, BMW-Fahrzeuge oder der Wartburg. Die Herstellung des zuletzt genannten PKW-Typs erfolgte ab 1955 im VEB Automobilwerk Eisenach und war der eigentliche Schwerpunkt dieses Standortes, der schon deshalb fast monostrukturierten Charakter besaß.

Im Vergleich zur Herstellung von PKW in den Altbundesländern sowie in anderen hoch entwickelten Industrieländern wurde der Wartburg aber zu teuer produziert und war u. a. deshalb auf den Absatzmärkten nicht mehr konkurrenzfähig. Deshalb wurde das Autowerk auch unmittelbar nach der Wende 1991 stillgelegt. Etwa 10000 Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz.

Der Strukturwandel

Aufgrund günstiger Standortfaktoren sollte Eisenach trotz größter Schwierigkeiten als Produktionsstandort erhalten bleiben.
Zu diesen Standortfaktoren gehörten:

  • Es gab zahlreiche überdurchschnittlich qualifizierte Arbeitskräfte, die eine solide Ausbildung besaßen und über sehr gute Erfahrungen und Arbeitsfertigkeiten verfügten.
     
  • Eisenach besitzt eine günstige Lage im Wachstumsraum an der sogenannten „Thüringer Perlenkette“, der Städtereihung Eisenach – Gotha – Erfurt – Weimar – Jena – Gera.
     
  • Eisenach hat eine ausgezeichnete Verkehrsanbindung an die Bundesautobahn A4 sowie an die Eisenbahnhauptstrecke Berlin – Erfurt – Frankfurt/M. mit Intercity-Anschluss, heute auch ICE-Verbindung.
     
  • Die industrielle und energiewirtschaftliche Situation war gut, einschließlich der 380-kV-Überlandleitung aus Hessen zur stabilen Stromversorgung.
     
  • Auch die übrige Infrastruktur des Raumes war weitgehend intakt.
     
  • Es gab freie Grundstücksflächen im Westen Eisenachs für den Neubau eines modernen Automobilwerkes und die Ansiedlungen von Zulieferbetrieben. (Die veralteten Produktionsanlagen des AWE in der Stadt konnten nicht mehr genutzt werden. Außerdem war die vorhandene Flächenkapazität für das Vorhaben nicht ausreichend.)
     
  • Es waren günstige Fördermöglichkeiten für Investoren durch Kommune, Land, Bund und Europäische Union gegeben.
     
  • Die Stadt liegt in unmittelbarer Nähe zu den großen Absatzmärkten in den neuen Bundesländern und in Osteuropa.
     
  • Schließlich fungierten das eindrucksvolle Kulturangebot in und um Eisenach sowie die Nähe von erholsamen Landschaften als positive „weiche“ Standortfaktoren.

Die Adam Opel AG entschied sich sehr bald für den Standort und errichtete auf der „grünen Wiese“ in der Hörsel-Aue bei Eisenach-Stedtfeld ein neues Opel-Montagewerk. Der Bau nimmt 300000 m² Fläche in Anspruch, wurde in nur 19 Monaten fertiggestellt und kostete damals rund ca. eine Mrd. DM. Produktionsstart war am 23. September 1992 mit dem Modell Opel Astra. Ein knappes Jahr später wurde zusätzlich mit der Herstellung des Opel Corsa begonnen.

Die Ergebnisse

Das Opel-Werk Eisenach ist eines der modernsten und produktivsten Automobilwerke Europas. Die 1900 Mitarbeiter schufen in kürzester Zeit eines der erfolgreichsten und produktivsten Automobilwerke in Europa. Wenn auch die Bedingungen keineswegs vergleichbar sind, so ist zumindest interessant, dass bei AWE genau zehn Jahre früher nur knapp zehn Autos pro Mitarbeiter hergestellt wurden.

Die Ursachen für die hochmoderne Produktion sind vielfältig:

  • Es wird konsequent das Prinzip der „schlanken Produktion“ (lean production) angewendet, d. h., es wird mit einem Minimum qualifizierter und hoch motivierter Arbeitskräfte produziert.

     

  • Bei der Anwendung des Prinzips „Just-in-Time“ wird auf die taktgenaue Anlieferung der Zulieferteile direkt an die Fertigungslinie gesetzt. Damit wird die teure Lagerhaltung weitestgehend überflüssig. Da aber ca. 90 % aller Teile aus dem Ausland, vor allem aus dem spanischen Saragossa kommen und zu mehr als 85 % per Eisenbahn angeliefert werden, ist dieses Prinzip nicht risikolos. Deshalb gibt es nahe dem Opelwerk inzwischen das Logistikunternehmen P&Q. Es kann mit seinen Lagerkapazitäten den geringen Pufferzeitraum der Bereitstellung von Zulieferteilen von einer Schicht (der Durchschnitt in der deutschen Kfz-Produktion liegt bei 6,5 Tagen) etwas erweitern.
     
  • Ein weiteres Prinzip von Opel zur Produktivitätssteigerung ist die Durchführung von Teamarbeit. Jedes Mitglied einer Gruppe von etwa fünf bis sieben Beschäftigten muss alle dem Team zufallenden Arbeitsgänge beherrschen und flexibel einsetzbar sein. Ebenso sollen auch die Angestellten in der Verwaltung in der Lage sein, bestimmte Produktionstätigkeiten auszuführen, um bei Bedarf (z. B. während einer Grippewelle) an der Fertigungslinie tätig sein zu können.
     
  • Zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität soll der „kontinuierliche Verbesserungsprozess“ beitragen, für den alle Mitarbeiter aktiviert werden. So werden eingereichte Vorschläge umgehend in sogenannten Kaizen-Werkstätten im Hinblick auf ihre Wirkungen bei „Veränderungen zum Besseren“ geprüft.
     
  • Der Produktionsablauf wird durch einen hohen Automatisierungsgrad unterstützt. Beispielsweise fungieren beim Zusammenbau der Karosserien 122 Industrieroboter, durch die in diesem Produktionsbereich ein Automatisierungsgrad von 96 % erreicht werden kann.

Der Bau des neuen Opelwerkes und die Produktion gaben auch regionale Entwicklungsimpulse für die ganze Region Eisenach. Nach knapp 10-jähriger Produktion ist feststellbar:

  • Die von der Adam Opel AG getätigten Investitionen in den Standort Eisenach haben dazu beigetragen, die industrielle Produktion in der Region zu erhalten.
     
  • Die Ansiedlung dieser renommierten Firma und die bisher erreichten ökonomischen Erfolge am Standort Eisenach haben national und international eine bedeutende Aufwertung der Region bewirkt.

Die Entscheidung der Opel AG für den Standort Eisenach übte Beispielwirkung im Hinblick auf die Ansiedlung weiterer Firmen aus. So investierten z. B. Bosch, BMW ebenfalls in diesen Standort. Als direkte Zulieferer für Opel siedelten sich darüber hinaus u. a. der amerikanische Sitzmöbelhersteller Lear Seating Corporation und die Mirec Getriebebau GmbH an. Die Neuansiedlung einheimischer Zulieferfirmen hielt sich dagegen in Grenzen.

Die Probleme

Wenn auch das Eisenacher Opel-Werk heute mit ca. 1900 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Region ist, so ist der Beschäftigungseffekt aufgrund der neuen Produktionskonzepte doch relativ gering. Man rechnete mit weiteren tausenden Beschäftigten in unmittelbarer Nähe des Werkes sowie mit ca. 5000 Arbeitsplätzen in klein- und mittelständischen Unternehmen des Handels und Handwerks, die mittelbar in Verbindung mit Opel stehen.
Dazu kommt, dass das Eisenacher Werk ein reines Montagewerk mit einer geringen Fertigungstiefe ist. Die Endmontage ist genau genommen nur eine „verlängerte Werkbank“ mit allen strukturellen Nachteilen dieser Produktionsart.
Da im Werk weder Forschung noch Entwicklung vorhanden sind, fehlen außerdem die eigentlichen zukunfts- und wertschöpfungsintensiven Arbeitsplätze. Die im Werk tätigen Fachkräfte üben in der Regel eine Beschäftigung mittlerer Qualifikation aus.

Insgesamt betrachtet hat die Investition von Opel entscheidend dazu beigetragen, dass der Industriestandort Eisenach erhalten blieb und sich kräftig weiterentwickelt hat. Allerdings erreichte der Grad der regionalen Integration bei der Ansiedlung neuer örtlicher Zulieferfirmen bisher nicht das erhoffte Ausmaß, und auch die hohe Arbeitslosenquote konnte nicht wesentlich gesenkt werden. Daher sind die Bedingungen für die umfassende industrielle Regeneration der Region Eisenach gegenwärtig nur in Ansätzen gegeben.

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