Stresemanns Rede zur Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund

STRESEMANN und die Außenpolitik der Weimarer Republik

Nach den schwierigen Anfangsjahren seit Ende des Ersten Weltkrieges lag die Außenpolitik der Weimarer Republik seit 1923 für viele Jahre in den Händen von GUSTAV STRESEMANN. Als Außenminister wollte dieser vor allem dazu beitragen, Deutschland nach den verheerenden Folgen des Krieges wieder in den Kreis der europäischen Völker als gleichberechtigtes Mitglied zurückzuführen. STRESEMANN hatte deshalb für die deutsche Außenpolitik sehr klare Ziele:
Sein Hauptziel war die Revidierung des Versailler Vertrages. Das deckte sich mit den damals vorherrschenden Wunschvorstellungen in der deutschen Öffentlichkeit. Andererseits war dieses Ziel nur schwer zu bewerkstelligen. Die bestehenden Machtverhältnisse in Europa engten den Handlungsspielraum für die deutsche Außenpolitik sehr stark ein. So hatte es die Außenpolitik der vergangenen Jahre z. B. nicht vermocht, das tief sitzende Misstrauen in Frankreich gegenüber seinem deutschen Nachbarn auszuräumen.

Locarno-Verträge

Deshalb startete STRESEMANN im Frühjahr 1925 eine Friedensoffensive. Die in diesem Rahmen abgeschlossenen Verträge von Locarno halfen, das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich zu entspannen. So verzichteten beispielsweise beide Staaten (unter der Garantie Großbritanniens und Italiens) auf jede gewaltsame Veränderung ihrer gemeinsamen Grenzen. Außerdem sollten Grenzstreitigkeiten Deutschlands mit Polen, der Tschechoslowakei, Frankreich und Belgien künftig durch ein internationales Schiedsgericht geregelt werden.
Mit diesen Verträgen wähnte sich STRESEMANN dem Hauptziel seiner Außenpolitik ein gutes Stück näher: Ein Europa im „Geist von Locarno“ und das Ende von Versailles waren in Sicht; hatten sich doch in Locarno nicht Sieger und Besiegte, sondern gleichberechtigte Staaten gegenübergestanden.

Aufnahme in den Völkerbund

Die Locarno-Verträge zeitigten noch einen Effekt: die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Am 10. September 1925 hielt die vom Außenminister angeführte deutsche Delegation, von Zuschauern und Delegierten umjubelt, ihren Einzug im Völkerbundsrat. Das Ende der politischen Isolation Deutschlands war mit seiner Rückkehr in das bestehende Mächtesystem erreicht worden.
STRESEMANN, auf dessen Wirken dieser Erfolg in nicht geringem Maße zurückzuführen war, hielt eine viel beachtete Antrittsrede. Die folgenden Auszüge aus dieser Rede kennzeichnen ihn als klar denkenden, humanistischen Prinzipien verpflichteten Realpolitiker:

„Deutschland tritt mit dem heutigen Tag in die Mitte von Staaten, mit denen es zum Teil seit langen Jahrzehnten in ungetrübter Freundschaft verbunden ist, die zum anderen Teil im letzten Weltkrieg gegen Deutschland verbündet waren. Es ist von geschichtlicher Bedeutung, dass Deutschland und diese letzteren Staaten sich jetzt im Völkerbund zu dauernder friedlicher Zusammenarbeit zusammenfinden ...

Diese grundstürzenden Ereignisse eines furchtbaren Krieges haben die Menschheit zur Besinnung über die den Völkern zugewiesenen Aufgaben gebracht.
Wir sehen in vielen Staaten den Niederbruch wertvollster, für den Staat unentbehrlicher geistiger und wirtschaftlicher Schichten. Wir erleben die Bildung von neuen und das Hinsinken von alten Formen der Wirtschaft. Wir sehen, wie die Wirtschaft die alten Grenzen der Länder sprengt und neue Formen der internationalen Zusammenarbeit erstrebt.

Die alte Weltwirtschaft hatte für ihre Zusammenarbeit keine Satzungen und Programme, aber sie beruhte auf dem ungeschriebenen Gesetz des traditionellen Güteraustauschs zwischen den Erdteilen. Ihn wiederherzustellen ist unsere Aufgabe. Wollen wir eine ungestörte weltwirtschaftliche Entwicklung, dann wird das nicht geschehen durch Abschließung der Gebiete voneinander, sondern durch Überbrückung dessen, was bisher die Wirtschaft der Völker trennte.

Wichtiger aber als alles materielle Geschehen ist das seelische Leben der Nationen. Eine starke Gärung der Gedanken kämpft unter den Völkern der Erde. Die einen vertreten das Prinzip der nationalen Geschlossenheit und verwerfen die internationale Verständigung, weil sie das national Gewordene nicht durch den allgemeinen Begriff der Menschheit ersetzen wollen. Ich bin der Meinung, dass keine Nation, die dem Völkerbund angehört, dadurch ihr nationales Eigenleben irgendwie aufgibt.

Der göttliche Baumeister der Erde hat die Menschheit nicht geschaffen als ein gleichförmiges Ganzes. Er gab den Völkern verschiedene Blutströme, er gab ihnen als Heiligtum ihre Seele, ihre Muttersprache, er gab ihnen als Heimat Länder verschiedener Natur.

Aber es kann nicht der Sinn einer göttlichen Weltordnung sein, dass die Menschen ihre nationalen Höchstleistungen gegeneinander kehren und damit die allgemeine Kulturentwicklung immer wieder zurückwerfen. Der wird der Menschheit am meisten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt und damit, über die Grenzen des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben vermag, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben sind.

So verbinden sich Nation und Menschheit auf geistigem Gebiet, so können sie sich auch verbinden in politischem Streben, wenn der Wille da ist, in diesem Sinne der Gesamtentwicklung zu dienen.
Möge die Arbeit des Völkerbundes sich auf der Grundlage der großen Begriffe: Friede, Freiheit und Einigkeit vollziehen, dann werden wir dem von uns allen erstrebten Ziele näherkommen.
Daran freudig mitzuarbeiten, das ist Deutschlands fester Wille.“
(zitiert nach: Die deutsche Geschichte, Band 3, S. 442, Archiv Verlag GmbH, Braunschweig 2001. Hervorh. vom Autor.)

STRESEMANN erreichte in der Folgezeit seine außenpolitischen Ziele nur bedingt und wurde z. B. durch innenpolitische Veränderungen in Frankreich z. T. um die Früchte seines Erfolges bei der Aussöhnung beider Staaten gebracht.
Dennoch erhielt er im Jahre 1926 gemeinsam mit dem französischen Außenminister ARISTIDE BRIAND den Friedensnobelpreis zuerkannt.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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