Elemente der sphärischen Geometrie und sphärischen Trigonometrie

Man stelle sich vor, auf einer Kugel von großem Durchmesser lebten zweidimensionale Wesen, die eine dritte Dimension nicht kennen. Könnten diese „flachen“ Wesen in einer nicht zu großen Umgebung ihres Lebensraumes Geometrie betreiben, dabei unter einer „Strecke“ die kürzeste Verbindung zweier Punkte und unter einer „Geraden“ das Gebilde verstehen, welches durch die gedachte unendliche Verlängerung einer Strecke über beide Endpunkte hinaus entsteht, und könnten sie auch Längen und Winkel messen, so würden sie Aussagen der ebenen euklidischen Geometrie finden. Wären sie aber in der Lage, mit demselben Werkzeug ihre ganze Kugel zu erforschen, so würden sie Aussagen erhalten, die von denen der euklidischen Geometrie abweichen.

Einige Elemente der Geometrie und Trigonometrie auf der Kugel sollen nun vorgestellt werden.

(1) Diejenigen Punkte der Kugeloberfläche, die Endpunkte eines Durchmessers sind, heißen Gegenpunkte. Nord- und Südpol der Erde sind solche Gegenpunkte.

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(2) Schneidet man eine Kugel K mit dem Radius r mit einer Ebene, die durch den Mittelpunkt M von K geht, so entsteht als Schnittfigur ein Kreis, denn da jeder Punkt auf K von M den Abstand r hat, haben auch die Punkte der Schnittfigur alle von M den Abstand r, liegen also auf einem Kreis um M. Es ist dies ein Kreis, dessen Durchmesser dem Durchmesser der Kugel gleich ist, der also den für die betreffende Kugel größten möglichen Durchmesser hat. Man nennt ihn daher Großkreis. Da man durch M unendlich viele Ebenen legen kann, gibt es auch unendlich viele Großkreise auf einer Kugel.

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Was die „Zweidimensionalen“ als Gerade ansehen müssten, wären Großkreise ihrer Kugel. Würden sie sich auf einem solchen Großkreis immer weiter fortbewegen, so würden sie die Erfahrung machen, dass ihre Wanderung zwar nie zu einem Endpunkt führt, die „Gerade“ also unbegrenzt oder endlos ist, dass sie aber nach einer gewissen Zeit immer wieder an derselben Stelle vorbeikommen. Sie würden feststellen, dass diese endlose „Gerade“ eine endliche Länge hat.

Jedes Paar von Gegenpunkten bestimmt unendlich viele Großkreise, die von den Ebenen, die durch die Gegenpunkte und den Kugelmittelpunkt gehen, die also den durch die Gegenpunkte bestimmten Durchmesser als gemeinsame Achse haben, aus der Kugeloberfläche ausgeschnitten werden.

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Zwei Großkreise schneiden einander immer in zwei Gegenpunkten. Es gibt keine zwei Großkreise, die keinen Punkt gemeinsam hätten, also keine zwei „parallelen“ Großkreise.

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Die Großkreise spielen auf der Kugeloberfläche eine ähnliche Rolle wie die Geraden in der klassischen Geometrie. Man nennt sie daher auch Kugelgeraden.

(3) Auch Ebenen, die nicht durch M gehen, schneiden die Oberfläche von K in Kreisen. Deren Radien sind kleiner als r. Man nennt sie Kleinkreise.

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Anschauliche Beispiele für Groß- und Kleinkreise findet man auf der als kugelförmig angenommenen Erdoberfläche. Alle Meridiane und der Äquator sind Großkreise, alle Breitenkreise mit Ausnahme des Äquators sind Kleinkreise. Die Meridiane oder Längenkreise schneiden einander im Nord- und Südpol.

(4) Zwei Punkte P und Q einer Kugel, die nicht Gegenpunkte sind, bestimmen mit dem Mittelpunkt der Kugel genau eine Ebene, also auch genau einen Großkreis. P und Q teilen den Großkreis in zwei Bögen. Der kleinere der beiden Bögen wird als der sphärische Abstand der Punkte P und Q, als sphärische Strecke P Q oder Kugelstrecke P Q bezeichnet. Der Bogen P Q ist die kürzeste Verbindung zwischen P und Q, also der kleinste Abstand von P und Q.

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So hat z.B. ein Pol der Erde von einem Punkt auf dem Äquator den Abstand von einem Viertel des Erdumfangs.
Liegen zwei Orte der Erde auf dem gleichen Meridian oder Längenkreis, so kann ihr sphärischer Abstand als Länge des Bogens des Großkreises zwischen ihnen mithilfe des Zentriwinkels α , also der Differenz ihrer Breitengrade bestimmt werden.
Für die Bogenlänge b gilt wie in der klassischen Geometrie:
b = α 180 π r  

  • Beispiel: Wenn mit gewissen Vereinfachungen angenommen wird, dass Hamburg, Ulm und Tunis auf dem gleichen Längengrad liegen, kann man die Entfernung zwischen ihnen auf die oben beschriebene Weise berechnen:
    Hamburg liegt auf 53,6 nördlicher Breite, Ulm auf 48,6 . Also ist α = 5 und der Abstand b von Hamburg und Ulm b = 555,887 k m . Tunis liegt auf 36,5 nördlicher Breite. Also ist für den Abstand von Hamburg zu Tunis α = 17,1 u n d b = 1901,135 k m .

(5) Zwei Großkreise bestimmen in jedem ihrer Schnittpunkte zwei Winkelpaare als Winkel zwischen den Kugeltangenten an die Großkreise in den Schnittpunkten. Diese Winkel sind den Winkeln zwischen den Ebenen gleich, welche die Großkreise aus der Kugeloberfläche ausschneiden.

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Z.B. bilden die Meridiane mit dem Äquator Winkel von 90 , stehen also senkrecht auf dem Äquator.
Alle Senkrechten zu einer Kugelgeraden schneiden einander in zwei Gegenpunkten, den Polen der Kugelgeraden oder des Großkreises. Der zu einem Pol gehörende Großkreis wird als seine Polare bezeichnet.
Der Abstand eines Pols von seiner Polaren ist der sogenannte Quadrant, d.h. ein Viertel des Kugelumfangs, also π r 2 . Umgekehrt gehört zu jedem Punkt der Kugel ein Kugelkreis, dessen Punkte von ihm den Abstand π r 2 haben. Der Abstand zweier Gegenpunkte einer Kugel mit dem Radius r voneinander ist die Hälfte des Umfangs, also π r .

(6) Gibt man der Kugel einen Umlaufsinn, so überträgt sich dieser auf dessen Polare als deren Umlaufsinn. Die Kugelgerade ist dann ein Kugelspeer. Zu einem Kugelspeer gehört genau ein Pol und zu einem Pol gehört genau ein Kugelspeer. Der Winkel zweier Kugelspeere ist durch die zwischen ihnen enthaltene Kugelstrecke der Polaren des Scheitels eindeutig bestimmt.

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Der Abstand zweier Kugelpunkte ist gleich dem Winkel ihrer Polaren, der Winkel zweier Kugelspeere ist gleich dem Abstand ihrer Pole. Das ist der Grund dafür, dass alle Kugelstrecken im Winkelmaß gemessen werden können.
Man darf also den Quadranten π r 2 auch bloß mit π 2 o d e r 90 bezeichnen, je nachdem, ob man in Bogenmaß oder Gradmaß misst, und die Länge eines Großkreises mit 2 π o d e r 360 .

(7) Wenn der sphärische Abstand zweier Kugelpunkte 180 beträgt, sie also Gegenpunkte sind, lassen sich zwischen ihnen beliebig viele halbe Großkreise ziehen, von denen je zwei die Kugeloberfläche in zwei Kugelzweiecke teilen. Ein Kugelzweieck oder sphärisches Zweieck ist ein von zwei halben Großkreisen begrenzter Teil der Kugeloberfläche. Seine Ecken sind stets Gegenpunkte.

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Die Seiten des Zweiecks sind als sphärische Abstände von Gegenpunkten immer gleich groß, ungleichseitige Zweiecke gibt es nicht.

Wenn der Winkel zwischen Großkreisen 180 beträgt, erhält man zwei Halbkugeln als Grenzfälle eines Zweiecks. Ist der Winkel kleiner als 180 , hat eins der Zweiecke einen kleineren Flächeninhalt als das andere. In der Regel betrachtet man das kleinere der beiden. Das ist eine weitere Besonderheit der Geometrie auf der Kugel, denn ein Zweieck gibt es in der klassischen Geometrie nicht.

Der Flächeninhalt eines Zweiecks ist von dem Winkel zwischen seinen Großkreisen und dem Radius der Kugel abhängig. Es verhält sich der Flächeninhalt f des Zweiecks zum Flächeninhalt 4 π r 2 der Kugel wie sein Neigungswinkel α z u 360 , es gilt also:
f : 4 π r 2 = α : 360 , woraus f = α 90 π r 2 folgt, wenn man α im Gradmaß misst, oder, da für α im Bogenmaß gilt α = π 180 α also f = 2 α r 2 .

  • Beispiel: Die Meridiane durch Greenwich und Görlitz schließen einen Winkel von 15 ein. Das durch sie gebildete Zweieck hat den Flächeninhalt f = 15 180 π 6370 2 k m 2 , also ungefähr 10,62 10 6 k m 2 . Rechnet man im Bogenmaß, so ist α = π : 12 und das Ergebnis ist natürlich das gleiche.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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