Bachs Passionen

Gattung

Die überlieferten Passionen BACHs sind Vertreter des Typus der instrumental begleiteten oratorischen Passion. Die oratorische Passion hatte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jh. herausgebildet und konnte sich besonders durch die Aufführungen der Brockes-Passion von GEORG PHILIPP TELEMANN (1681–1767) im Jahr 1717 etablieren.

  • Kennzeichnend für diesen Passions-Typus ist die Behandlung des Textes auf verschiedenen Ebenen. Der unveränderte Wortlaut des Evangelisten-Textes stellt dabei die objektive Erzähler-Ebene dar. Diese Grundlage des Passionsberichts wird durch kommentierende Zwischentexte in einer nächsten Textschicht erweitert. Die Texte der Choräle repräsentieren als zusätzliche Ebene die zeitgenössische Reaktion auf den erzählten Text des Evangelisten aus Sicht des Volkes.
     
  • Dieser Mehrschichtigkeit des Textes tritt die Zuweisung der Stimmlagen als formale Konvention hinzu. Daher werden der Evangelienbericht rezitativisch vom Tenor vorgetragen, die Jesu-Worte nur vom Bass dargeboten und das Volk durch die Choräle dargestellt.
     
  • Formal gesehen zeigt die oratorische Passion zumeist eine Zweiteilung und wird mit einem groß angelegten Eingangs- und Schlusschor umrahmt.

Johannes-Passion (BWV 245)

Die Johannes-Passion gilt als BACHs erste Passion. Sie wurde 1724 während der Karfreitags-Vesper in der Leipziger Nikolaikirche erstmalig aufgeführt.

Die historische Textgrundlage bildet der Passionsbericht nach Johannes 18/19, der durch zwei kleine Passagen aus Matthäus 26,75 und 27,51-52 ergänzt wurde. Die Autorenschaft der betrachtenden Zwischentexte ist nicht vollständig geklärt. Sie sind in Zusammenarbeit mit dem Dichter CHRISTIAN FRIEDRICH HENRICI (PICANDER, 1700–1764) oder einem anderen Leipziger Poeten zeitgenössischen Libretti entnommen, die sich stark an der Brockes-Passion orientierten. Die elf expressiv harmonisierten Choräle entstammen dem Evangelischen Kirchengesangbuch. Aufgrund der Schwierigkeit, die freien Texte richtig in das Handlungsgeschehen zu integrieren, erfuhr das Werk mehrfache Revisionen.

Nach BACHs Tod gelangte die Partitur in die Hände seines Sohnes CARL PHILIPP EMANUEL BACH (1714–1788), der nur einzelne Teile zur Aufführung brachte. Erst durch die 1863 veröffentlichte Edition innerhalb der alten Bachausgabe gewann das Werk wieder an Beachtung im kirchenmusikalischen und öffentlichen Konzertbetrieb.

Matthäus-Passion (BWV 244)

Die Matthäus-Passion wird als das umfangreichste Werk BACHs angesehen und bildet den Höhepunkt seiner kirchenzeitlich gebundenen Vokalwerke. Sie gelangte am 11. April 1727 in der Leipziger Thomaskirche das erste Mal zur Aufführung. Dieses Datum ist nicht völlig geklärt und es gibt Anhaltspunkte, die für eine spätere Uraufführung im Jahre 1729 sprechen.

Die biblische Grundlage bietet das Evangelium nach Matthäus 26/27, das bis auf zwei Auslassungen (26,1 und 26,31) unverändert blieb. Der hinzugefügte Text, der den Zuhörer zur andächtigen Betrachtung und zum „Mit-Leiden“ animieren sollte, wurde 1729 von CHRISTIAN FRIEDRICH HENRICI (PICANDER) veröffentlicht. Die Texte der Kirchenlieder sind überwiegend von PAUL GERHARDT (1607–1676). Durch den Bekanntheitsgrad dieser protestantischen Lieder wurde der Gemeinde die Möglichkeit gegeben mitzusingen. Gleichzeitig bilden diese Choräle den musikalischen Zusammenhalt der Passion, in dem sie ständig wiederkehren, jedoch in einer dem dramatischen Geschehen entsprechenden unterschiedlich expressiven Harmonisierung.

Besondere Bedeutung kommt diesem Werke durch die Vereinigung des gesamten Formenrepertoires der Musik zu BACHs Zeit zu. BACH verwendet

  • unterschiedlichste Rezitativformen (R. secco/semplice; R. accompgagnato; motivgeprägtes accompagnato R.; instrumentiertes secco R.),
  • Arien,
  • Choreinwürfe,
  • motettische Sätze,
  • Choralbearbeitungen sowie
  • Mischformen dieser Formen zwischen Solisten und Chor.

Um die teilweise dialogisch angelegten Texte PICANDERs herauszustellen, verwendet BACH an entscheidenden Stellen die Doppelchörigkeit. Erst in einer Revision der Passion von 1736 wurde die konsequente Doppelchörigkeit hergestellt.

Die Aufführungen zu BACHs Lebzeiten brachten kein großes Echo. Zudem wurde der Passion oft der Vorwurf gemacht, sie sei zu „opernhaft“. Deshalb trat das Werk nach BACHs Tod in den Hintergrund und wurden nur in Teilen durch seinen Sohn CARL PHILIPP EMANUEL BACH zur Aufführung gebracht. Erst 100 Jahre später im Jahre 1829 gelangte die Passion in der legenden Aufführung durch FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY (1809–1847) mit der Berliner Singakademie zu höchstem Rang. Sie setzte sich danach mit einer Besetzungsgröße von 350 Mitwirkenden durch und etablierte sich seit dem Ende des 19. Jh. zum festen Repertoire der städtisch-bürgerlichen Abonnementkonzerte.

Vergleich der Johannes-Passion mit der Matthäus-Passion

Beide Werke haben den gleichen dramaturgischen Aufbau, der den fünf verschiedenen Orten und Ereignissen des Geschehens fünf Akte in der Passion zuordnet. Während aber der Passionsbericht des Matthäus alle einzelnen Leidensstationen in den Vordergrund treten lässt, konzentriert sich bei Johannes die Leidensgeschichte mehr auf das zentrale Ereignis Jesus vor Pilatus. Durch diese höchste Aufmerksamkeit auf die Gestalt Christi werden Nebenhandlungen vermieden.

  • Die Johannes-Passion ist daher dem „dramatischen Stile“ zuzuordnen.
  • Im Gegensatz dazu spricht man bei der Matthäus-Passion von einer „epischen Passion“, deren epische Schilderungen in der Partie des Evangelisten vorgetragen werden.

Markus-Passion (BWV 247)

Von der Markus-Passion, die 1731 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt wurde, ist nur der Text überliefert. Bei der verloren gegangenen Musik handelt es sich um Parodien aus Sätzen der Kantaten (BWV 54 und 108). Zudem übernahm BACH aus der Trauer-Ode die Rahmenchöre und drei Arien in die Markus-Passion. Die 16 eingeschalteten Kirchenliedsätze entstammen der seit 1765 vorliegenden gedruckten Choralsammlung BACHs. Entsprechend der Ähnlichkeit zum Passionsbericht des Matthäus entsteht ein vergleichbarer zweiteiliger Aufbau.

Das Libretto der Passion schrieb erneut PICANDER. Die kleine Anzahl von Arientexten lässt auf eine geringe Ausdehnung des Werkes schließen. Frei gedichtete Rezitative und Ariosi fehlen völlig, und es bleibt unklar, wie viele Kirchenliedstrophen als größer dimensionierte Chöre gesetzt waren.

Seit den 1980er-Jahren gab es vielfältige Versuche, die Komposition – trotz des Verlustes der Evangelienvertonung – als eine in sich geschlossene Passionsmusik wieder aufführbar zu machen. Diese Versuche basierten auf Adaptionen aus Markus-Passionen anderer Komponisten der damaligen Zeit, auf Passagen aus BACHs erhaltenen Passionen und Neukompositionen der Rezitative in Bach-Manier bzw. moderner Schreibart.

Lukas-Passion (BWV 246)

Die Lukas-Passion ist in einer von BACH begonnenen und von seinem Sohn CARL PHILIPP EMANUEL BACH fertiggestellten Partitur überliefert. Diese Quellenlage rechtfertigt die langjährige irrtümliche Zuschreibung dieses Werks an BACH. Doch es handelt sich bei dieser Passion um eine Kopie, die entweder auf einen damaligen Zeitgenossen oder auf eine Gemeinschaftsarbeit der Familie BACH zurückgeht. Wie bei den authentischen Passionen findet sich auch hier wieder die dreischichtige Anlage des Textes. Mindestens zweimal hat Bach die Komposition in Leipzig aufgeführt: 1730 und 1745. Die Partitur dieses Werkes befindet sich heute in der Berliner Staatsbibliothek-Preußischer Kulturbesitz.

„Weimarer Passion“

Die sogenannte „Weimarer Passion“ wurde bereits 1717 in der Schlosskirche Friedenstein am Hof zu Gotha aufgeführt. Die Musik und das nachweislich gedruckte Textbuch sind aber verloren. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass einige der Sätze in die 2. Fassung der Johannes-Passion übernommen wurden sowie in die Kantate für Tenor Solo „Ich armer Mensch, ich Sündenknecht“.

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