Entwicklungstendenzen Neuer Musik seit 1990

Ausdifferenzierungen

Typisch wird die Auffächerung in verschiedene musikkulturelle Szenen mit eigenen künstlerischen Produktionsverfahren, Aufführungsorten – wozu nun auch Clubs und Landschaftsräume gehören –, mit eigenen Verbreitungsformen und Hörerkreisen. Die wichtigsten dieser Entwicklungstendenzen sind:

  1. komponierte Musik (instrumental, vokal, musiktheatralische Formen) einschließlich der elektronischen und elektroakustischen Musik als Spezialfall komponierter Musik,
  2. Klangkunst,
  3. Neue Elektronische Musik,
  4. Netzmusik,
  5. Neue Improvisation oder Echtzeitmusik.

Komponierte Musik

Die komponierte Musik ist auch weiterhin der größte Bereich der Neuen Musik. Ihre Basis – Konzertsäle, Opernhäuser, Rundfunkanstalten und Festivals – wird nicht nur in Deutschland durch staatliche Subventionen und private Stiftungen finanziell am stärksten gefördert. Auch die kontinuierliche Vergabe von Kompositionsaufträgen spielt eine nicht unwesentliche Rolle für die Dominanz dieses Bereichs in der Neuen Musik. Zu international namhaften Komponisten entwickeln sich seit den 1990er-Jahren u.a.

  • der Schweizer BEAT FURRER (* 1954),
  • der Franzose MARK ANDRE (* 1964),
  • REBECCA SAUNDERS (* 1967) und BENEDICT MASON (* 1954) aus Großbritannien,
  • OLGA NEUWIRTH (* 1968), GEORG FRIEDRICH HAAS (* 1953), BERNHARD LANG (* 1957) und PETER ABLINGER (* 1959) aus Österreich und
  • die Deutschen HELMUT OEHRING (* 1961) und ENNO POPPE (* 1969).

Zu Beginn des neuen Jahrtausends kommen Namen wie

  • JOHANNES KREIDLER (* 1980),
  • HANNES G. SEIDL (* 1976),
  • SERGEJ NEWSKI (* 1972),
  • DMITRI KOURLIANSKI (* 1976) oder
  • SIMON STEEN-ANDERSON (* 1976) hinzu.

Angeregt durch Entwicklungen in der elektronischen Musik und durch die Frage, was überhaupt Klang, was Musik ist, kommt es in der komponierten Musik zu zahlreichen experimentellen Entwicklungen, wobei sich zwei Tendenzen abzeichnen:

  1. Es beginnt die kompositorische Erschließung des Mikrokosmos’ von Tönen und Klängen. Von großem Einfluss war hier die von HELMUT LACHENMANN (* 1935) seit Mitte der 1960er-Jahre entwickelte „Musique instrumentale concrète“, die durch besondere Spieltechniken den Klangbereich instrumentaler Musik nahezu grenzenlos erweiterte. Jüngere Komponisten wie MARK ANDRE, GERALD ECKERT (* 1960), PIERLUIGI BILLONE (geb. 1960), BEAT FURRER u.v.a. komponieren seit den 1990er-Jahren auf dieser Basis weiter.
     
  2. Auch im Bereich der komponierten Musik verlassen immer öfter Komponisten den Konzertsaal und erschließen für ihre Musik Landschaften oder städtische Räume als neue Spielstätten. Musik beginnt mit Bäumen, Wiesen, Seen und Bergen zu korrespondieren, lässt sich auf Licht, Dunkelheit, Kälte und Wärme ein.

    Ein Vorläufer war der Amerikaner CHARLES IVES (1874–1954) mit seiner unvollendet gebliebenen Universe Symphony (1911–1928) , geplant für sechs bis zehn große Orchester und Chöre, die von verschiedenen Berggipfeln spielen und singen sollten.

    Wichtige Namen heute sind JOHANNES WALLMANN (* 1952), der Engländer BENEDICT MASON (* 1954), der Kubaner GEORGE LOPEZ (* 1955), der Österreicher PETER ABLINGER (* 1959) und der Schweizer DANIEL OTT (* 1960). WALLMANN entwickelte in den 1990er-Jahren theoretisch und kompositorisch sein integral-art-Konzept: „klang, musik, landschaft, architektur, form, skulptur, licht, farbe in integralem zusammenwirken der künste“. Beispiele dafür sind die Stadtklangkomposition Glocken Requiem Dresden für 129 vernetzte Kirchenglocken (1995) oder die Landschaftskomposition Der Blaue Klang für weit entfernt voneinander aufgestellte Vokal- und Orchestergruppen im Wörlitzer Park (2004). ABLINGER komponierte mit der Stadtoper Graz ein Musiktheaterwerk für den Stadtraum und mit der Landschaftsoper Ulrichsberg ein großes Werk für den ländlichen Raum.

Wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der komponierten Instrumentalmusik hat seit den 1980er-Jahren die Entstehung zahlreicher neuer Ensembles für Neue Musik unterschiedlichster Besetzungen, die wie das Ensemble Modern in Frankfurt/Main als Veranstalter ihrer eigenen Auftritte agieren.

Klangkunst

In der Klangkunst verschmelzen akustisches und bildkünstlerisches Gestalten zu einer neuen Kunstform. Hauptrichtungen sind Klanginstallationen und Klangskulpturen. Zum Material gehören vorgefundene Räume und Landschaftsausschnitte, visuelle Strukturen, Licht und Klang (elektroakustische, elektronische sowie natürliche Klänge, siehe Hörbeispiel 1). Komponieren wird zum Präsentieren visuell-akustischer Strukturen. Pioniere auf dem Gebiet der Klangkunst/Soundart sind

  • der Amerikaner MAX NEUHAUS (* 1939),
  • der Deutsche ROLF JULIUS (* 1939),
  • der Österreicher BERNHARD LEITNER (* 1938) und
  • der Däne HENNING CHRISTIANSEN (1932–2008);

wichtige Vertreter nachfolgender Generationen sind

  • CHRISTINA KUBISCH (* 1948),
  • HANS-PETER KUHN (* 1952),
  • ANDREAS OLDÖRP (* 1959),
  • ROBIN MINARD (* 1953) und
  • CARSTEN NICOLAI (* 1965).

Mit sonambiente – festival für sehen und hören veranstaltete die Akademie der Künste Berlin 1996 und 2006 in Berlin zwei große internationale Klangkunstausstellungen.

audio

Ein Spezialfall der Klangkunst sind Soundscapes, gestaltete Klanglandschaften, in denen sich das ökologische, auf Ganzheit zielende Denken der Gegenwart spiegelt. Angeregt hatte diese Entwicklung der kanadische Komponist R. MURRAY SCHAFER (* 1933) schon in den 1960er-Jahren, wie überhaupt wesentliche Impulse von Kanada ausgingen. In den 1970er-Jahren wurde daraus eine weltweite Bewegung: das World Soundscape Project, erweitert 1993 durch die Gründung des World Forum for Acoustic Ecology, das auf das Klangbewusstsein in der Gegenwart sowie auf die Städte- und Landschaftsplanung immer größeren Einfluss nimmt.

Wichtige Vertreter sind heute

  • HILDEGARD WESTERKAMP (* 1946),
  • der Kanadier BARRY TRUAX (* 1947) sowie
  • die Amerikaner ALVIN CURRAN (* 1938) und BILL FONTANA (* 1947).

Neue Elektronische Musik

Die Neue Elektronische Musik begann sich erst in den 1990er-Jahren zu entwickeln. Ihr Instrumentarium ist der Laptop mit Software, Mischpult, Verstärker und Lautsprechern. Musikalisches Material wird elektronisch generiert oder basiert auf Mitschnitten von Alltagsgeräuschen (Field Recordings). Komponieren wurde hier zum Programmieren.

Da hierfür die langjährige Ausbildung in Musikhochschulen nicht mehr notwendig ist, hat die Zahl an Laptop-Komponisten international unüberschaubare Größenordnungen angenommen. Stilistisch arbeiten sie an der Schnittstelle von experimenteller Musik, Popmusik und Neuer Improvisation. Laptop-Komponisten sind vor allem in den verschiedensten Clubszenen und auf Improvisations-Festivals zu Hause. 2004 wurde in Berlin ein erstes Laptoporchester gegründet.

Namhafte Laptop-Musiker/Komponisten sind

  • der Österreicher CHRISTIAN FENNESZ (* 1962),
  • der Spanier FRANCISCO LÓPEZ (* 1964),
  • die Deutschen MARCUS SCHMICKLER (* 1965),
  • BORIS D. HEGENBART-MATSUI (* 1969) und
  • FLORIAN HECKER (* 1975).

Netzmusik

Die Netzmusik umfasst alle Musikarten, die an das Internet gebunden sind, meint aber nicht die im Internet zum Herunterladen verfügbaren Soundfiles. Mit den Produktionen der sogenannten Net-Labels, die ebenfalls als Netzmusik bezeichnet werden, hat sie nichts zu tun. Vielmehr wird hier der Computer zur Schnittstelle eines weltweiten, klangerzeugenden und -gestaltenden kommunikativen Netzwerkes.

Komponieren im Internet ist die Entwicklung softwarebasierter Klanggeneratoren, die den vernetzten Usern Gestaltungsmöglichkeiten auf der Basis vorgefertigter Algorithmen in die Hand geben. Beispielhaft wurde dafür die Lexikon-Sonate (1992 ff.) des Österreichers KARLHEINZ ESSL (* 1960). 2007 startete unter Leitung des Pariser Forschungsinstituts für Akustik und Musik IRCAM das mehrjährige internationale Projekt CO-ME-DI-A, das sich vernetzten musikalischen Projekten widmet.

Neue Improvisation 

Die Anfänge der Neuen Improvisation, für die sich auch die Bezeichnung Echtzeitmusik eingebürgert hat, reichen in die 1960er-Jahre zurück. Wesentliche Impulse gingen von der 1964 durch FRANCO EVANGELISTI (1926–1980) gegründeten Guppo di Improvisazione Nuova Consonanza und dem 1969 von dem englischen Komponisten CORNELIUS CARDW (1936–1981) gegründeten Improvisationsensemble AMM aus. Neue Improvisation nutzt wie die Musik der Avantgarde und im Gegensatz zur Improvisation im Jazz stark geräuschhaftes Klangmaterial, das auch mithilfe von alltäglichen Gegenständen oder elektronischen Klangerzeugern generiert wird. Ihre Akteure haben in Clubs, kleinen, urbanen Räumen, privaten Wohnungen und durch Festivals eine zum Konzertsaal alternative, nichtkommerzielle, international vernetzte Performancekultur mit eigenen Platten-Labels entwickelt. Zentren dieser Musikszene sind Wien, Berlin und Tokio, wichtige Namen sind

  • AXEL DÖRNER (Trompete, * 1964),
  • BURKHARD BEINS (Schlagzeug, * 1964),
  • ANDREA NEUMANN (Insidepiano, * 1968),
  • IGNAZ SCHICK (Turntable, * 1972) sowie
  • der Australier TONY BUCK (Percussion, * 1972),
  • der Österreicher CHRISTOPH KURZMANN (Loop, Voice, * 1963),
  • der Italiener ALESSANDRO BOSSETTI (Saxofon, * 1973),
  • der Niederländer THOMAS ANKERSMIT (Saxofon, * 1979),
  • der Engländer JOHN BUTCHER (Saxofon, * 1954) und
  • der Japaner OTOMO YOSHIHIDE (Gitarre, * 1959).

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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