Populäre Musik in Geschichte und Gegenwart

Der Begriff populäre Musik steht für ein Ensemble sehr verschiedenartiger Genres und Gattungen der Musik,

  • das sich in ständiger Veränderung befindet,
  • das sowohl immer wieder neue Musikformen in sich aufnimmt
  • als auch immer wieder neue Musikformen hervorbringt.

Auf das Wortungetüm „Popularmusik“ als Bezeichnung hierfür, das sich gelegentlich in der Literatur findet, sollte nicht nur aus sprachlichen Gründen verzichtet werden: Es bringt eine unangemessene Distanz der Sache gegenüber zum Ausdruck, die kaum geeignet ist, eine kompetente Auseinandersetzung mit musikalischen Prozessen zu befördern, die immerhin gut 90 Prozent der Musikkultur der Gegenwart ausmachen.

Was ist populäre Musik?

„Populäre Musik“ lässt sich nicht auf einen Katalog von Merkmalen festlegen, was unschwer zu erkennen ist, vergleicht man einen Schlager mit einem Rap, eine Rock-Oper mit einer Folk-Ballade, einen Tango mit einem Techno Track. All das gilt unstrittig als „populäre Musik“ und hat doch nicht viel mehr als dieses begriffliche Etikett gemeinsam. Noch nicht einmal der Verweis auf den quantitativen Verbreitungsgrad der so bezeichneten Musik, wie das das Adjektiv „populär“ ja nahezulegen scheint, ist wirklich ein brauchbares Bestimmungskriterium. Gleiches gilt für die kommerzielle Organisationsform ihrer Produktion. Einspielungen etwa von Beethovens 5. Sinfonie erzielen in der Regel höhere Verkaufszahlen als ein durchschnittliches Pop-Album, das nur dann die Marke von 3 000 bis etwa 8 000 verkauften Einheiten überschreitet, wenn es sich um einen Hit handelt. Und produziert und vermarktet wird die Einspielung von BEETHOVENs Sinfonie auf die gleiche Weise und von den gleichen Firmen wie das erfolgreiche Pop-Album. Dennoch wird niemand ernsthaft die 5. Sinfonie von BEETHOVEN (1770–1827) als populäre Musik bezeichnen wollen.

Auch an der bloßen Aufzählung dessen, was an Musik einmal populär war oder es heute ist, lässt sich ablesen, wie wenig dem mit einem Katalog von musikalischen Merkmalen beizukommen ist. Neben musikalisch beschreibbaren Formen und Typen (z.B. Chanson, Couplet, Schlager, die Stilformen von Rock, Pop, Hip-Hop und Techno) spielen hierbei eine wesentliche Rolle

  • Besetzungsstereotype (Blasmusik)
  • Aufführungsorte (Caféhaus-Musik, Barmusik)
  • Darbietungsformen (Bühnenaufführung von Volksmusik, also „volkstümliche Musik“ im Unterschied zur musikalischen Praxis des Volkes selbst)
  • Gebrauchsweisen (Tanzmusik und Marschmusik)
    Veranstaltungsformen in der Kombination mit anderen Künsten (z.B. Revue, Kabarett)
  • Inhalte (die musikalische Komödie als Operette oder Musical)
  • Verbreitungsgrad (z.B. bei der Filmmusik, denn nicht jede Filmmusik ist populäre Musik, oder bei der „populären Klassik“)
  • Rezeptionsweisen in der Kombination mit außermusikalischen Sachverhalten (Rezeption von Musik als Hintergrund für artistische, sportliche Darbietungen, bei der Werbung usw.) und
  • soziale Trägerschichten (z.B. afroamerikanische Musik als die Musik der schwarzen Amerikaner, HipHop und Techno als jugendspezifische Form von Musik).

Dass es keine feststehenden Kriterien gibt, nach denen sich „populäre Musik“ definieren lässt, auch wenn es in jedem gegebenen Moment doch selbstverständlich zu sein scheint, was populär ist und was nicht, ist das Besondere dieser Kategorie. Sie ist eine begriffliche Hülle, die immer wieder neu mit Inhalt gefüllt werden kann und muss.

  • Musiker,
  • Publikum und
  • Industrie

handeln im Gegeneinander ihrer Interessen auf den Musikmärkten stets auf neue Weise aus, welche Musik als „populäre Musik“ akzeptiert ist und welche nicht, was hier erfolgreich ist und was nicht. Für die Musiker, die ihre musikalischen Vorstellungen erfolgreich verwirklichen wollen, stehen dabei andere Aspekte im Vordergrund als für die Tonträgerfirmen, die – wie alle Unternehmen – nach hoher Rendite streben, oder für die Hörer, die nach Musik suchen, mit der sie sich identifizieren können. In diesem Prozess werden gleichsam die Karten immer wieder neu gemischt, was gestern unmöglich schien, kann morgen schon ein großer Hit sein und was sich heute noch als Superhit darstellt, kann morgen schon vergessen sein.

Zur Geschichte der populären Musik

Herausgebildet hat sich die populäre Musik als Kategorie des Musiklebens gebunden an die schrittweise Kommerzialisierung der Musikkultur im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts auf zwei unterschiedlichen Wegen, die beide den Charakter der populären Musik bis beute geprägt haben:

  • auf dem Weg der Professionalisierung von Volksmusik
  • sowie auf dem Weg der Popularisierung der Kunstmusik.

Der Übergang der volksmusikalischen Traditionen an professionelle Komponisten begann im 19. Jahrhundert. Er war eine Folge des mit der Veränderung der Lebensweise im Zuge der industriellen Revolution verbundenen rasch steigenden Musikbedarfes, der dazu führte, dass Volkslieder und Volkstänze nun in möglichst genauer Kopie von sich darauf spezialisierenden Komponisten gleichsam „nachkomponiert“ wurden. Typisch in dieser Hinsicht waren die volkstümlichen Lieder, die in der Nachahmung des Volksliedes entstanden (etwa das bis heute lebendige Wiener Lied), oder auch die Herausbildung vieler Formen der Tanzmusik aus Volkstanzformen (z.B. des Walzers aus dem volksmusikalischen Ländler). Ganz ähnliche Vorgänge lassen sich später dann bei der Umwandlung des Country Blues in den Vaudeville Blues oder der euroamerikanischen Volksmusik in die Country Music beobachten.

Die Popularisierung der Kunstmusik als der zweite kulturhistorische Prozess, der die Kategorie populären Musik mit Inhalten gefüllt hat, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Emanzipations- und Aufklärungsbewegung des revolutionären Bürgertums, das seinen auf die Musik übertragenen Ausdruck 1781 in JOHANN HEINRICH PESTALOZZIs (1746–1826) Forderung

„Das ganze Volk soll an der Musik teilhaben“

fand (J. H. PESTALOZZI, Die Abendstunde eines Einsiedlers, Gesammelte Werke I, Leipzig/Berlin 1921, 271). So wurden ab Anfang des 19. Jahrhunderts einzelne Sätze aus größeren Werkzusammenhängen oder auch ganze Werke für Aufführungen überall da, wo sie das Volk erreichen konnten –

  • auf Plätzen,
  • in Caféhäusern oder
  • Restaurants –

bearbeitet und für geeignete Besetzungen eingerichtet. Auch in die verschiedenen Formen der Gebrauchsmusik gingen nun musikalische Techniken und Formen aus der Kunstmusik ein. So finden sich das Streichquartett und der Streichquartettsatz nun in der Tanzmusik, etwa in Form des Quartett-Walzers, ein Vorläufer des Wiener Walzers.

Der Wiener Walzer war eine Synthese aus Tanzmusik und sinfonischer Tradition der Orchestermusik – JOHANN STRAUSS (1825–1899) nutzte vielfach die gleiche Besetzung und Satzweise wie BEETHOVEN in seinen Sinfonien. Allerdings fanden die ideologisch motivierten Demokratisierungsbestrebungen ihre Grenze in den ökonomischen Interessen des Bürgertums.

Die setzten sich nun auch in der Musikproduktion und -verbreitung zunehmend durch, so dass derartige Popularisierungsversuche von Kunstmusik sehr bald schon in eine Trivialisierung und Verflachung mündeten. So reduzierte die rasch um sich greifende Praxis der Bearbeitung vorhandener Kompositionen – wirtschaftlich außerordentlich profitabel, weil dasselbe Musikstück in unterschiedlichen Bearbeitungen mehrfach verkauft werden konnte – die Vorlagen zwangsläufig auf ihre harmonisch-melodischen Umrisse und den Oberstimmenverlauf. In dieser Form blieb von der ursprünglichen Werkgestalt dann nicht mehr viel übrig. Dennoch war die Übernahme

  • von musikalischem Material,
  • von musikalischen Verfahrensweisen und Techniken aus der klassischen Musiktradition

ein wichtiges Moment in der Entwicklung der populären Musikformen bis hin zur Rock- und Popmusik unserer Tage. Die ursprünglich zugrunde liegende Intention der Popularisierung der Kunstmusik spielt dabei freilich schon lange keine Rolle mehr.

Einen Wendepunkt für die Entwicklung der Kategorie populäre Musik und ihrer Verankerung auf dem Musikmarkt bedeutete

  • die Einführung des Edisonschen Phonographen und
  • die Herausbildung der technischen Massenkommunikationsmittel.

Fortan konnte Musik im Wortsinn zu einem allgegenwärtigen Bestandteil des Alltags werden, per technischer Konserve dem unmittelbaren und beliebigen Zugriff verfügbar gemacht. Vor allem aber konnte sie nun

  • auch in ihrer klanglichen Gestalt industriellen Produktionsmethoden unterworfen werden,
  • in klingender Form vermarktet und
  • als Ware vertrieben werden.

Daraus gingen sowohl eine neuartige Symbiose von Musik und Technik als auch ein neues Verhältnis von Musik und Wirtschaft hervor. Beides hat der Kategorie der populären Musik als Terrain der kulturellen Auseinandersetzung um das „Populäre“ in der Musik eine völlig neue Dynamik vermittelt, die bis heute anhält (verwiesen sei nur auf die Auseinandersetzungen um File-Sharing und Musik-Downloads im Internet).

Industrialisierung der Musik

Aus Musik wurde ein industriell und arbeitsteilig organisierter komplexer Prozess, der im kollektiven Zusammenwirken von

  • Autoren,
  • Komponisten,
  • Musikern,
  • Produzenten,
  • Aufnahmetechnikern,
  • Sound-Designern,
  • Software-Entwicklern etc.

realisiert wird. Sie alle sind sowohl in den Studios wie bei der Live-Aufführung am musikalischen Gesamtergebnis maßgeblich beteiligt. Auch die Rolle der Interpreten hat sich hierbei verändert. Ihr Anteil am künstlerischen Endergebnis ist mittlerweile ein solcher, dass von der „Interpretation“ eines von ihnen unabhängigen Musikstücks nun nicht mehr die Rede sein kann. Sie sind nun nicht mehr austauschbar, ohne dass ein anderes Stück Musik entsteht.

Die in der Gegenwart so beliebten Cover-Versionen vergangener Hits sind ein eindrucksvolles Spiel mit diesem Effekt. Eine nachhaltige Konsequenz daraus war die Bildung von Autoren- und Produzententeams beziehungsweise die Bildung von Gruppen wie in der Rockmusik als kollektive Einheit von

  • Komponist,
  • Arrangeur,
  • Texter,
  • Interpret,
  • Techniker und
  • häufig auch Produzent.

In einer solchen Organisationsform musikalischer Praxis liegt eine Vielzahl neuer Möglichkeiten des Musizierens, die zu neuen klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten und neuen Inhalten geführt haben. Populäre Musik ist heute ein hochgradig industrialisiertes Terrain der Musik, das sich mit einer verwirrenden und kaum noch überschaubaren Vielfalt von Erscheinungsformen verbindet, die in immer rascherem Wechsel einander ablösen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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