Religiöse Gesänge

In der Abbildung „Der Alpen-Segen“ (Betruf) rezitiert ein Obwaldner Älpler den Betruf durch die „Folle“ (Milchtrichter). Oben im Bild sind die lichten Mächte des Himmels dargestellt, die Jungfrau Maria mit ihrem Kind sowie einige Heilige und Engel. Unten herrschen die dunklen Mächte, die das Erdinnere mit dem Lindwurm, mit Berggeistern, Gnomen und Zwergen bevölkern.

Musik als Urlaut - alles ist Klang

Die Musik ist nach den großen Religionen und Mythen nicht selten von übernatürlichen Kräften, von einem Gott, von Gottheiten oder von Heroen in der Urzeit den Menschen geschenkt worden.

Wird der Anfang aller Dinge aus dem Nichts in Mythen erzählt, geht der Ursprung der Welt fast immer aus einem akustisch-vernehmbaren Ur-Geschehen hervor (Aushauchen, Rufen, Singen, Sprechen, Donnern). Es handelt sich um jenes Es, das gemeinhin als „Göttlich-Gesprochenes“, als Schall oder akustische prima materia bezeichnet wird und noch bei HILDEGARD VON BINGEN (1098–11) so verstanden wird:

„Weil Es mit dem Schall Seiner Stimme die ganze Schöpfung geweckt und weil Es sie zu sich gerufen hat“.

Im Anfang war demnach der Schall (Urknall), der „Klang“ oder das heilige „Wort“ wie es die indische Veden, die Bibel und buddhistische Texte lehren. Der Ton (die Schwingung) ist das Fundament aller Dinge und die Grundlage des Lebens, es ist Jessod, der kabbalistische Lebensbaum der Juden, der Laut om als Schöpfungssilbe der Hinduisten und Buddhisten. Aus der Verdichtung dieses „Lebenshauches“ entsteht alles Geschaffene und es materialisiert sich die Schöpfung. Dieses Es entspricht der inneren Logik nach dem Mundhauch der Upanischaden, der „Essenz der Essenzen“ bzw. dem indischen nada brahma in der Auffassung von „Alles ist Klang“.

Nach altindischen Vorstellungen waren Musik und Tanz göttlichen Ursprungs: Mârga-samgita, d.h. die Musik (mârga) nach den alten geheiligten Regeln (samgita), wurde den Menschen von den Göttern gelehrt und sie soll im Gesang der Veden (Wissen) weiter befolgt werden, denn über Anrufung und Opfergabe wirken in Musik, Tanz und Gesang die kosmischen Kräfte. Alle Aspekte zusammen bewirken die Erhaltung der Weltordnung.

Ähnliches ist im Glauben hinduistischer, buddhistischer und islamischer Traditionen belegt. In den Offenbarungsreligionen lebt vor allem das „Wort Gottes“ im Modell von Sprechen, Rezitieren und Hören der Tora- bzw. Bibel- und Korantexte zugrunde.

Was in den drei monotheistischen Weltreligionen (für das „Einzig-Ewige“ im Sinne des jüdischen Jahwe, des christlichen Gottes oder des islamischen Allah verehrt wird, findet in den asiatischen Traditionen eine Entsprechung im Begriff des Absoluten (bzw. der „Leerheit“) des Buddhismus, im Konzept von Shiva des Hinduismus, im Kami („dem Höchsten“) des japanischen Shintoismus bzw. im Tao, dem „namenlosen ersten Prinzip“ des Taoismus.

Bild

Musikethos und das Parlament der Weltreligionen

Auf dem Parlament der Weltreligionen 1993 in Chicago erklärten über 200 Vertreterinnen und Vertreter der Weltreligionen ihren Konsens zu den Themen von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Man einigte sich auf gemeinsame ethische Werte, Standards und Haltungen, die als Basis für ein Weltethos (HANS KÜNG) in Verantwortung für eine bewohnbare Erde angesehen werden und brachte diesen Bericht vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen. Im befürchteten „Zusammenprall der Kulturen“ (SAMUEL HUNTIGTON) ist man sich gewiss, dass nur über einen interreligiösen und interkulturellen Dialog das neue Paradigma der internationalen Beziehungen gewährleistet sein wird. Als Grundlage gilt die goldene Regel der Gegenseitigkeit:

„Was Du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu.“

Diese goldene Regel findet sich in allen Religionen in verschiedenen Varianten wieder. Sprachliche, kulturelle, religiöse und musikalische Ausdrucksformen können unter diesem Aspekt als unterschiedliche Beschreibungen ähnlicher und vergleichbarer Wirklichkeitsauffassungen verstanden werden. Die unterschiedlichen Beschreibungen der einen Welt erfolgen gleichsam mit dem metaphorischen Blick durch die Vielfalt kulturell und religiös verschieden getönter Augengläser.

Musica Sacra – Festivals religiöser Musik im interkulturellen Dialog

Religiöse Gesänge übernehmen im Kontext von Übergangsritualen und Liturgien auf unterschiedliche Weise die dienende Funktion einer harmonisierenden, letztlich auch Frieden und Heil stiftenden Kraft.

Im Zeichen der Globalisierung und des interreligiösen Weltethos wird inzwischen auch bei religiösen Festivals wie

  • Musica Sacra International (seit 1992)
  • oder im Ost-West Dialog Gregorian Chant Meets Buddhist Chant (1996)
  • und im Welt Festival der Sakralen Musik – Europa
  • oder dem Fez Festival of World Sacred Music (Marokko)

vermehrt das Gemeinsame und weniger das Trennende gesucht.

Das Gemeinsame wird andeutungsweise erfahrbar im Vergleich religiöser Rezitationen heiliger Schriften, Hymnen und Gebete, die trotz ihrer kulturellen Verschiedenheit der Idee nach anbetende Verehrung, Zuflucht, Klage, Bitte, hymnischen Lobpreis, Danksagung, Gelübde und Opferritual als Gegenleistung einschließen.

Religiöse Gesänge übernehmen im Kontext von Liturgien auf unterschiedliche Weise die dienende Funktion einer harmonisierenden, letztlich auch Frieden und Heil stiftenden Kraft. Ihren musikalischen Ausdrucksformen ist eines gemeinsam: sie setzen als oberstes Prinzip der Verehrung und Meditation nicht auf anthropozentrische Weise den Menschen noch sein materielles Dasein an erster Stelle, sondern ein absolutes, das den Menschen und seine Existenzweise transzendiert.

Rezitationen – Veden, Sutren und Mantras

Rezitationen verlaufen in der Art eines gehobenem Lesens oder Sprechgesanges auf einem oder mehreren Rezitationstönen nebst melodisch ausgestalteten Hymnen oder Psalmliedern. Hierzu finden sich in allen Weltreligionen traditionell überlieferte Regeln für Lesetempo, Rezitationspausen, für den freien oder rhythmisierten, syllabischen oder melismatischen Vortrag mit unterschiedlichen Graden der Ornamentierung und der Akzentuierung der schriftlich überlieferten Texte.

Der Anfang der Rezitationen ist vielfach geprägt durch eine Eingangsswendung (Zufluchtsformel, Invokation), gefolgt von der Textrezitation auf einem oder mehreren Tönen und einer Schlusswendung (Finalis).

Zufluchtsformeln können sein: Ich nehme Zuflucht bei Jahwe, Gott, Allah, Jahwe (oder bei inkarnierten Gottheiten, Heiligen oder Boddhisattvas).

Funktionen von rezitationen sind: Verehrung, Klage, Bitte, Gebet, Lobpreis, Dank, Opfer, Gelübde, Meditation.

Folgende Vortragsarten sind unterscheidbar:

  • solistischer Vortrag: einzelner Solist (Rabbiner, Priester, Mönch, Nonne, Tempelmusiker, Hofmusiker, Laie)
  • unverzierter Vortrag: einfache sprachbezogene Textlesung
  • freier Vortrag: ohne Rhythmisierung des Rezitierten
  • rhythmisierter Vortrag: mit hervorgehobener pulsierender Akzentuierung (tempo giusto, Zweier-, Dreier- oder zusammengesetztes Metrum)
  • gehobene Textlesung: Rezitation auf zwei oder mehreren Tönen
  • syllabischer Vortrag: Textsilbe für Textsilbe je auf einer Note (sprachorientiert: logogen)
  • melismatischer Vortrag: einzelne Textsilben werden ornamentiert und erstrecken sich über mehrere Noten (bewegungsorientiert im emotionalen Ausdruck: pathogen)
  • unisoner Vortrag: einstimmige Darbietung von zwei oder mehreren Sängern
  • responsorialer Vortrag: einem Vorsänger antwortet eine Sängergruppe
  • antiphonaler Vortrag: zwei Sängergruppen wechseln sich gegenseitig ab
  • chorischer Vortrag: mehrstimmig in Parallelklängen oder polyphoner Kontrapunktik.

In der Vielfalt des religiösen Nebeneinanders finden sich jüdische Rezitationen nach sephardischem, askenasischem und jemenitischem Ritus. Katholische, armenische, griechisch-orthodoxe und russisch-orthodoxe Liturgien sind weiterhin lebendige Zeugnisse in der Gleichzeitigkeit von ägyptisch- und äthiopisch-koptischen sowie den wiederentdeckten mittelalterlichen Meditationsgesängen etwa der HILDEGARD VON BINGEN.

Wallfahrtslieder, protestantische Hymnen, Kirchenchöre und amerikanische Gospels, islamische Gebetsrufe, pakistanische Gesänge der Sufi (qawwalis), esoterische shomyo-Gesänge und Zen-Mantras Japans, chinesische, koreanische und tibetische Sutren geben ein reichhaltiges Zeugnis ab von der unmittelbaren Gleichzeitigkeit unterschiedlicher religiöser Ströme und Entwicklungen.

Daneben existieren weiterhin nordamerikanische Geist-Tänze (Ghost Dances), Schamanengesänge der sibirischen Tuva, der kanadischen Inuits, der südamerikanischen Kayapó und Trancetänze im afrikanischen und brasilianischen Candomblé sowie in karibischen Voodoo-Kulten.

Die chinesisch-konfuzianische Ode vom großen Tao erklingt von Neuem während andernorts in Malaysia, Afrika und Australien schamanistische Traum- und Heilungsgesänge angestimmt werden. In vielen Gegenden kennt man zudem Totenklagen und Totenlieder wie in Rumänien, Albanien, Serbien, in Asien, Mexiko und auf Papua Neuguinea. Unerschöpflich ist der Reichtum und die Komplexität hoch entwickelter Rezitations- und Gesangstraditionen der Welt.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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