- Lexikon
- Musik
- 1 Musik als Kunst, Bildung und Wissenschaft
- 1.4 Interkulturelle Musikbetrachtung
- 1.4.2 Kulturvergleich
- Tradition und Tradierung in der Musik
JOHANN GOTTFRIED HERDER konzipierte 1773 in seinem „Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker“ seine Publikation „Stimmen der Völker in Liedern“ (1778/79). Er artikulierte die Idee, alle klingenden und mündlich überlieferten Bestände des Wissens zum Nutzen der ganzen Menscheit zu sichten, zu vergleichen und als Erbe der Menschheit zu begreifen. Berühmt sind in diesem Zusammenhang HERDERs Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91), die diese Ganken weitergesponnen haben und sich darin auszeichneten, einen kulturvergleichenden Ansatz zur mündlichen Überlieferungsgeschichte aller Zeiten und Kulturen vorgezeichnet zu haben:
„Alle unpolizierte Völker singen und handeln; was sie handeln, singen sie und singen Abhandlung. Ihre Gesänge sind das Archiv des Volkes, der Schatz ihrer Wissenschaft und Religion, ihrer Theogonie und Kosmogonien, der Thaten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beim Brautbett und Grabe.“ (HERDER 1773)
Musikalische Traditionen umschließen Sitten und Brauch im Lebenszyklus von der Wiege bis zur Bahre. Sie sind seit jeher durch lokale und regionale Ausdrucksformen geprägt und durch ihre primär mündlichen Überlieferungen in religiösen und profanen Festen, Bräuchen und Performance-Konzepten verankert. Musikalische Traditionen und Stile sind eingebunden in gefühlsbetonte Handlungs-, Sprach-, Kultur- und Geschichtskonzepte, in überregionale Orientierungen und kulturgeografische Verflechtungen von Nachbar-Regionen, -Ländern und internationalen Entwicklungen.
Im Zuge der Mobilität und Migration stehen diese lokalen Elemente der mündlich überlieferten Musikstile zunehmend im dynamischen Wechselbezug zur Verschriftlichung des Gehörten oder des zu Sagenden und zu globalen und interkulturellen Prozessen der neuen Mediengesellschaft insgesamt.
In traditioneller Musik (in Gesängen, Musikensembles und Tänzen) wird historisches, religiöses, generationsspezifisches und emotionales Wissen in mündlicher Form von Generation zu Generation überliefert. Musikformen verkörpern physische, ästhetische und symbolische Antworten in einem spezifischen gesellschaftlichen Kommunikationsnetz.
Die Vertreter der romantischen Idee vertraten noch die Auffassung, dass das „Volk“ selber die traditionelle Musik im kollektiven Prozess hervorbringe und diese durch eine allgemeine Verbreitung zum Gemeinschaftsgut mache (so die Produktionstheorie nach JOSEF POMMER noch um 1886).
Dagegen ging die Rezeptionstheorie (JOHN MEIER um 1906) gerade vom Gegenteil aus und wies nach, dass individuell geschaffene „Kunstlieder“ als „gesunkenes Kulturgut“ sich zum Allgemeinbesitz wandeln.
Eine differenziertere Betrachtungsweise zeigt allerdings, wie in der mündlichen Überlieferung sich Produktions- und Rezeptionsprozesse gegenseitig durchdringen und bedingen. Individuell kreierte Lieder und Weisen werden vielfach „umgesungen“ und „umspielt, wobei deren Autoren und „Komponisten“ bei zunehmenden „Volksläufigkeit“ oft von den Singenden vergessen und die Melodien dann sekundär zu anonymen deklariert werden (Interdependenz-Theorie nach LUTZ RÖHRICH 1992).
Die traditionelle Musik ist das Produkt einer Tradition, die aus dem Prozess mündlicher oder gemischt mündlich-schriftlicher Überlieferungen hervorgegangen ist. Die Faktoren, die das Traditionsumfeld gestalten, sind:
In allen Kulturen werden diverse Musikrepertoires in unterschiedlichen Erzähltraditionen überliefert. In den meisten Gesellschaften ist die Methode der Musiküberlieferung eine oral-aurale, d.h. sie wird mündlich weitergegeben und in der lebendigen Hörerfahrungen gelernt und gelehrt. Westliche „Opus“-Musik war und ist dagegen weiterhin mit der Verschriftlichung der Musik als Notentext dominant visuell orientiert.
Notate und notenschriftliche Hilfsmittel gibt es zwar auch in anderen Kulturen, in China, Indien, Japan, Indonesien und den Alten Hochkulturen, doch dienen diese Notierungen dort in erster Linie als Gedächtnis- und Ideenstütze und nicht als Hilfsmittel, mit denen die Musik erst über den Umweg des direkten Ablesen von einem Notenblatt zum Erklingen gebracht wird.
Zum Phänomen der mündlichen Tradierung gehört die Variabilität der Musikrepertoires, die im Unterschied zur klassischen Opus-Musik des Abendlandes keinen Urtext kennen und mehr oder weniger frei von den Individuen ausgestaltet werden können. Musikrepertoires werden durch Einzelpersonen, Musikgruppen, Familientraditionen, Schulen und Generationen überliefert. Die Musikrepertoires charakterisieren sich durch ihre differenten Ausdrucksformen wie:
Musikrepertoires basieren auf musikalischen Sozialisierungen und Konventionen von Gruppen und sie tragen zur Kontinuität und Stabilität bei, aber auch zu Variabilität und Innovationen kultureller Überlieferungen. Sie fördern und festigen nicht nur die Integration einzelner Gruppen und Individuen in der Gesellschaft sondern tragen im Wettbewerb untereinander auch zur Erneuerung der Generationsstile bei.
Orale Überlieferungen sind besonders durch das Umsingen bzw. Umspielen von melodischen Gerüsten geprägt. Jede aktuelle Realisierung variiert mehr oder weniger stark die formelhaften Muster, die im Gedächtnis der Individuen zum Teil in unterschiedlichen Varianten gespeichert sind. Spielerisches Umsingen, Alliterationen und Silbenreime, rhythmische und melodische Ausgestaltung, die subjektive Lust am melodischen und textlichen Verändern und Innovieren lassen sowohl im klein- als auch großräumigen wie auch im geschichtlichen Vergleich eine Vielzahl von Varianten zu einem erkennbar ähnlichen Melodiemuster heranbilden.
Variationen können zudem in Zeilensprüngen und Umstellungen von Melodiephrasen vorkommen. Auch können verschiedene Melodieteile unterschiedlicher Liedtypen oder Spielstücke zu neuen Melodie-Konfigurationen zusammengeschmolzen werden, oder die gleiche Melodie kann auf engstem geografischen Raum in verschiedenen Textvarianten auf mehreren unterschiedlichen Skalen gesungen werden.
„Tonskalen“ können chordisch, das heißt linear im Nebeneinander auf Ganz- und Halbtönen aufbauen, wie zum Beispiel ein Tetrachord (als viertonige Reihe z.B. c--d--e-f--g) oder sie können tonisch strukturiert sein, wie zum Beispiel eine pentatonische Skala, in der mindestens ein Intervall vorhanden ist, das eine Stufe, d.h. einen Halb- oder Ganzton überspringt bzw. ausspart (z.B. eine fünfchordische c--d--e---g--a).
Die Vielzahl von „Tonleitern“ mit auf- oder absteigender Tonordnungen und damit indirekt auch der Reichtum von „Musiksystemen“ in der traditionellen Überlieferung der Kulturen wurde erstmals 1885 von dem Engländer ALEXANDER JOHN ELLIS in seinem Aufsatz „On the Musical Scales of Various Nations“ nachgewiesen (in dt. Übersetzung „Über die Tonleitern verschiedener Völker“ in Sammelbände für Vergleichende Musikwissenschaft 1, 1922:5-75). ELLIS verglich altgriechische und neuzeitliche Tonleitern, persische, arabische, syrische und schottische, indische, singaporensische, birmesische, siamesische, west-afrikanische, javanische, chinesische und japanische Skalen und kam zum Schluss:
„Es gibt nicht nur eine, nicht nur eine ‚natürliche’, ja nicht einmal bloß eine Leiter, die notwendig auf den Gesetzen des Klangbaues beruht, die Helmholtz so schön ausgearbeitet hat – sondern sehr verschiedene, sehr künstliche, sehr eigenwillige.“
Tonleitern und Tonsysteme sind nicht natürlich, sondern „kultürlich“. Naturgegeben scheint nur das Oktavenverhältnis zu sein, es wird „auf der ganzen Welt wahrgenommen, wenn auch nicht auf allen untersuchten Instrumenten rein gestimmt“. In Indonesien zum Beispiel unterscheidet man auch kleine von großen Oktaven.
Zur empirischen Untersuchung der Tonsysteme stellte ELLIS Tonmessungen an und teilte den Halbton in 100 Einheiten (Cents) ein. Auf dieser theoretischen Konstruktion aufbauend definiert er das Intervall (d.h. die Distanz- oder Abstiegsempfindung) zwischen je zwei Tönen, die je zwei einander benachbarten (Klavier-)Tasten entsprechen, mit dem Maß von 100 Cents, d.h. 100 Cents machen einen temperierten Halbton aus, so dass ein Oktavintervall mit dessen 12 Halbtönen insgesamt 1200 Cents umfasst:
Die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen bezieht sich im Einzelnen allerdings nicht nur auf die Tonhöhenorganisation, sondern auf alle Ausdrucksformen eines Musiksystems.
Unter Musiksystem wird hier in einem ganz allgemeinen Sinne die Summe von Normen, Werten und expressiven Symbolen (Töne, Worte, Zeichen, Gegenstände der Musik) verstanden, die das musikalische Handeln in einer spezifischen Kultur bzw. ethnischen Gruppe strukturieren.
Innerhalb einer spezifischen Tradition wird die Musik von Einzelnen in einem kulturellen Umfeld (innerhalb einer Ethnie) sozialisiert bzw. enkulturiert. Der Prozess der musikalischen Enkulturation umfasst die bewusste oder unbewusste Konditionierung, durch die eine Person im Laufe seines Lebens das musikbezogenen Gruppenverhalten seiner näheren Umgebung von Jugend an aneignet, übernimmt und danach handelt.
Mit Ethnie wird eine „Wir-Gruppe“ bezeichnet, die tatsächliche oder fiktive Gemeinsamkeiten für sich reklamiert. Es ist der „Gemeinschaftsglaube“ (nach MAX WEBER), der die Einzelnen nach einem ähnlichen Verhaltensmuster (pattern of behavior) handeln lässt. Häufig beziehen sich die Behauptungen von Gemeinsamkeiten auf Abstammung (Genealogie, Rasse), Sprache, Kultur, Religion, Geschichte, Sitten und Bräuche, aber auch auf musikalische Vorstellungen und Musiksysteme. Wir-Gruppen betonen die Gemeinsamkeit (Homogenität) und erwarten gegenseitig eine Anpassung (Konformität). Bei Nicht-Befolgung dieser meist mündlich überlieferten Normen werden oft von der Gruppe gegen Einzelne, die dagegen verstoßen, Sanktionen ausgesprochen.
Die ethnischen Gruppen sind familienübergreifend und können lokale Klein- oder überregionale Großgruppen darstellen. Sie sprechen sich vage untereinander eine kollektive Identität zu. Diese Identitätszuschreibungen sind allerdings in der Zeit wandelbar und auch verhandelbar.
Der Begriff Ethnie hat den historisch belasteten Begriff „Volk“ zunehmend ersetzt und wird inzwischen vor allem im Zusammenhang von kulturellen Gruppen oder „ethnischen Minderheiten“ verwendet. Ethnie umfasst unter diesem Aspekt immer nur bestimmte Segmente einer Nation, kann aber auch Gruppen anderer Staaten einbeziehen. Solche ethnisch definierten Wir-Gruppen beziehen sich innerhalb der Musiktraditionen auf bestimmte musikalische Ausdrucksformen oder „Musiksystemen“, mit denen sich einzelne Gruppen oder Liebhaber identifizieren.
Es ist völlig unwichtig für den „Gemeinschaftsglauben“ einer Ethnie, ob dieser empirisch erfasst und nachgewiesen werden kann. Von Bedeutung ist allein, dass sich einzelne Individuen dieser musikethnischen Liebhabergruppe (z.B. von Klezmer-Musik) zurechnen (individuelle Selbstdefinition) und von anderen Individuen der entsprechenden Gruppe als solche anerkannt werden (kollektive Selbstdefinition) und dass andere (z.B. Liebhaber irischer Musik), die nicht dieser Gruppe angehören, deren Zugehörigkeit akzeptieren (Fremddefinition) und sich von diesen abgrenzen. Die ethnische Gruppen definieren sich selber durch das Eigene in Abgrenzung von dem Fremden.
Wo immer ein oder mehrere Musiksysteme direkt oder indirekt in Kontakt geraten, treten Akkulturationsprozesse und -phänomene auf. Im Akkulturationsprozess selber sind diese Musiksysteme nur noch als Typus-Begriffe vorhanden (z.B. afrikanische Musik und keltische Musik werden zum Afro-Celtic-Sound-System). Veränderungen können als Einwirkungen etwa von abendländischer auf außereuropäische, von urbaner auf ländliche Musik und umgekehrt aufgezeigt werden.
Dies geschieht (1.) im musikalischen Bereich anhand von Tonskalen, Stimmungen (Übernahme von anderen Tonarten), anhand von Bearbeitungen, von neuen Gestaltungs- und Kompositions-Techniken (2.) im Bereich der Aufführungspraktik anhand des funktionalen Wandels, der sich ändernden Trägerschichten (z.B. Bauermusik wird plötzlich von Städtern gespielt), der sich verändernden Spielweisen und insbesondere der damit verbundenen neuen vokalen und instrumentalen Spieltechniken (z.B. alpenländischer Jodel erklingt im Verbund mit mongolischem Obertongesang). Weitere Einwirkungen werden direkt nachweisbar (3.) im Instrumentenbau, z.B. in der Übernahme des Harmoniums in die indische Musik oder in der Übernahme des spanischen Vihuela-Gitarreninstruments und seiner veränderten Bausweise als Charango im Andenhochland, (4.) im Musikverhalten, z.B. des traditonellen flamenco gitano der zum stilisierten Flamenco im Tanzunterricht wird, und (5.) im Wandel des informalen Musiklebens auf dem Lande zu jenem des institutionalisierten Daseins in der Stadt.
In weiterführenden Prozessen der musikalischen Kulturverflechtung und nicht zuletzt auch im Gefolge der zeitlich beschleunigten Abläufe durch die Globalisierung kommt es zu einzelnen Transkulturationen, bei denen in der Hybridisierung und Verschmelzung mehrerer unterschiedlicher und distanter Musikelemente ganz neue, zum Teil transnationale Musikgattungen entstehen, wie z.B. pan-lateinamerikanische Salsa-, pan-andine Chicha- oder indisch-britische Bhangra-Musik.
In der kulturüberschreitenden Analyse wird klar, dass die Analyse überlieferter Ausdrucksformen einer Fremdkultur vorerst in der eigenkulturellen Beobachtungssprache und in eigenkulturellen Denkkategorien ansetzt (zum Beispiel in der Notentranskription nach westlicher Art). Die Darstellung eines jeden Kulturbildes kann sowohl auf die von außen kommende kulturfremde bzw. etische wie auch auf eine kulturimmanente emische Beobachtungsebene bezogen werden (die beiden Wörter leiten sich aus den linguistischen Termini „phon-emisch“, d. und „phon-etisch“ her).
In der etischen (auch notativen) Beobachtungsebene notiert und klassifiziert der Beobachter „schon im Augenblick der Beobachtung alle fremden Erscheinungen nach eigenen, d.h. im Wesentlichen in seiner Kultur vorgebildeten Erkenntniskriterien. Musikinstrumente werden z.B. sogleich nach der Hornbostel-Sachs’schen Instrumentensystematik eingeordnet, ohne zu fragen, ob diese Systematik der emischen Betrachtungsebene, d.h. der kulturinhärenten (auch intentionalen) Einteilung der entsprechenden Kulturtradition entspricht. Skalen werden z.B. als „pentatonisch“ bezeichnet und beschrieben, ohne abzuklären, ob dieser Begriff in der untersuchten Kultur wirklich auch vorhanden ist. Tonhöhen werden beschrieben als „hoch“ und „tief“ nach den entsprechenden eigenen Begriffs- und Beobachtungsrastern, obwohl diese in einer anderen Kultur z.B. als „spitz“ und „stumpf“ verstanden werden. Das System der eigenen Beobachtungs- und Begreifsprache muss deshalb in der Kulturkonfrontation innerhalb einer interkulturellen Hermeneutik problematisiert werden, damit nicht das eigene Wahrnehmungssystem sich gleichsam über das Denken der fremden Kultur stülpt. Beide Betrachtungsebenen stehen somit in interkultureller Wechselbeziehung zueinander und differenzieren im Dialog der etischen und emischen Beobachtung- und Befragungsebenen die kulturellen Konstrukte sowohl des Eigen- als auch des Fremdverständnisses.
Emische und etische Beobachtungsperspektive
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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